Worum geht es bei den Reformplänen unter Netanjahu?

Israelis demonstrieren in Tel Aviv gegen die Justizreform

Israel könnte sich im schlimmsten Fall in eine Diktatur verwandeln, warnen Kritiker.

(Foto: dpa)

Düsseldorf Israel steckt mitten in einer beispiellosen Justizreform. Den ersten Teil der Reform hat die Regierung im Juli verabschiedet. Seit Monaten protestieren Hunderttausende Israelis öffentlich dagegen. Schon jetzt ist das Land gesellschaftlich tief gespalten. Im Herbst könnte eine Staatskrise drohen, sollte sich das Oberste Gericht gegen die Reformpläne der Regierung stellen. Hier beantworten wir die wichtigsten Fragen dazu.

1. Worum geht es bei der Justizreform in Israel?

Die Regierung in Jerusalem will dem Obersten Gericht weniger Macht geben und stattdessen das Parlament stärken. So sollen die Abgeordneten künftig etwa mit einer einfachen Mehrheit Beschlüsse des Obersten Gerichts aufheben können. Umgekehrt sollen die Richterinnen und Richter des Obersten Gerichts die Gesetze des Parlaments aber nur noch einstimmig aufheben können.

Und nicht nur das: Politiker sollen zudem stärker beeinflussen können, wer als Richter am Obersten Gericht entscheiden darf. Die Opposition wirft der Regierung vor, dass sie die Justiz nicht nur schwächen, sondern auch politisch abhängiger machen will.

2. Welche Teile der israelischen Justizreform hat die Regierung bereits umgesetzt?

Am 24. Juli hat die Regierung den ersten zentralen Teil der Justizreform verabschiedet und die sogenannte Angemessenheitsklausel abgeschafft. Diese konnte das Oberste Gericht bisher nutzen, um „unangemessene“ politische Entscheidungen zu prüfen und bei Bedarf außer Kraft zu setzen.

3. Was bedeutet „unangemessen“ im Sinne der Angemessenheitsklausel in Israel?

Bisher hat das Oberste Gericht in Einzelfällen geprüft, ob die Regierung bei einer getroffenen Entscheidung alle wichtigen Faktoren berücksichtigt und abgewogen hat. Als „unangemessen“ eingestuft hat das Oberste Gericht zum Beispiel, dass die Regierung Arie Deri zum Innenminister ernannt hat. Deri ist vorbestraft, weil er mehrfach Steuern hinterzogen hat.

Proteste vor dem Parlamentsgebäude

Laut Umfragen lehnen die meisten Israelis die Justizreform ab.

(Foto: IMAGO/UPI Photo)

Außerdem hat das Oberste Gericht die Absage einer gemeinsamen israelisch-palästinensischen Veranstaltung aus Sicherheitsgründen für „unangemessen“ erklärt und aufgehoben. Ohne die Angemessenheitsklausel könnten Korruption und Machtmissbrauch in Israel zunehmen, kritisiert die Opposition.

4. Womit begründet die israelische Regierung unter Benjamin Netanjahu die Justizreform?

Die Regierung unter Ministerpräsident Benjamin Netanjahu hält das Oberste Gericht für zu mächtig. Die Regierung kritisiert vor allem, dass sich das Gericht zu stark in die Politik einmische.

5. Welche Folgen hat die Justizreform für die Gesellschaft in Israel?

Die geplante Justizreform beschränkt die Unabhängigkeit und damit die Handlungsmöglichkeiten des Obersten Gerichts. Der Staat Israel hat keine Verfassung, sondern beruht auf einer Sammlung von Grundgesetzen. Daher kontrolliert das Oberste Gericht die Regierung und schützt so Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte.

Wenn nun die Justizreform das Oberste Gericht weitestgehend entmächtigt, gefährdet das Israels Gewaltenteilung und damit auch die Rechtstaatlichkeit, warnt unter anderem die israelische Rechtsanwaltskammer in einer Petition. Die Konsequenzen bedrohen Israels Demokratie und den gesellschaftlichen Zusammenhalt, fürchten Kritiker wie der israelische Historiker Yuval Noah Harari. Im schlimmsten Fall könne sich Israel in eine Diktatur verwandeln, findet Harari.

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Richterinnen und Richter des Obersten Gerichts

Politiker sollen zukünftig stärker beeinflussen können, wer als Richter am Obersten Gericht entscheiden darf.

(Foto: Reuters)

6. Welche Folgen hat die Justizreform für die Wirtschaft in Israel?

Auch die Wirtschaft leidet unter der Justizreform. Die Ratingagentur Moody’s hat bereits im April den gesamtwirtschaftlichen Ausblick für Israel herabgesetzt und auch die israelische Währung, der Schekel, hat an Wert verloren. Unternehmer, vor allem Start-ups und die für Israels Wirtschaft essenzielle Tech-Branche, wollen ihre Geschäfte ins Ausland verlagern. Im ersten Halbjahr 2023 haben ausländische Geldgeber deutlich weniger in Israels Tech-Start-ups investiert als im Vorjahreszeitraum. Als Grund gilt die Justizreform.

7. Die Justizreform löst starken Protest aus – warum?

Laut Umfragen lehnen die meisten Israelis die Justizreform ab. Seit mehr als einem halben Jahr gehen Hunderttausende Menschen auf die Straße, um gegen die Reform zu protestieren. Auch viele Geschäfte blieben aus Protest geschlossen, zudem haben Demonstrierende Straßen blockiert. Israels Präsident Izchak Herzog und ehemalige israelische Minister warnen bereits vor einem Bürgerkrieg.

160.000 Menschen protestieren erneut gegen Netanjahus Justizreform

Aber nicht nur auf den Straßen protestieren die Israelis: tausende Reservisten der Armee wollen ihren Dienst verweigern, wenn die Regierung die Justizreform weiter umsetzen sollte. Dadurch kann sich Israel schlechter verteidigen, was die außenpolitische Sicherheit des Landes schwächt.

8. Wie sehen die nächsten Schritte der Justizreform in Israel aus?

Am 3. August hat sich das Oberste Gericht in einer ersten Sitzung mit einer Petition gegen ein umstrittenes Gesetz beschäftigt, das explizit Ministerpräsident Netanjahu schützen soll. Gegen Netanjahu läuft ein Korruptionsprozess, der ihn sein Amt kosten könnte. Wann das Gericht in dieser Sache entscheiden wird, ist noch unklar.

Im Oktober steht dann der nächste Teil der Justizreform an: Politiker sollen die Besetzung von Richterposten stärker beeinflussen können. Davor kommen aber am 12. September die 15 Richterinnen und Richter des Obersten Gerichts zusammen, um über die Kritik am Justizumbau zu beraten. Anlass sind Petitionen gegen das umstrittene Gesetz, das die Angemessenheitsklausel abschaffen soll.

Das Oberste Gericht könnte beschließen, dieses Gesetz wieder aufzuheben. Sollte die Regierung das nicht akzeptieren, droht eine Staatskrise. Davor warnt unter anderem der Rechtsexperte Aejal Gross von der Universität Tel Aviv. Der tatsächliche Ausgang gilt als ungewiss, da ein solcher Fall nicht gesetzlich geregelt ist.

Mehr: Israels Ex-Zentralbankchef warnt vor schweren wirtschaftlichen Schäden bei Justizumbau

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