Sonne, Urlaub, Zeit für Wissen: Lesefutter für den Sommer

Die Ferien- und Urlaubszeit hat endlich begonnen. Die Handelsblatt-Redaktion hat für Sie acht spannende und inspirierende Sachbücher für die Sommerlektüre herausgepickt. Das Themen-Spektrum reicht von Astronomie über Berliner Geschichte bis hin zu Russlands Gegenkultur.

Im April 1978 steht unangekündigt eine Delegation um Yang Keng, damals chinesischer Minister für Land- und Industriemaschinen, vor den Werkshallen von Volkswagen in Wolfsburg. Weil niemand anders Chinesisch kann und die Gäste kein Deutsch, wird Wenpo Lee geholt. Damit beginnt die Erfolgsgeschichte von VW in der Volksrepublik – an der der gebürtige Chinese und Motorenentwickler großen Anteil haben wird.

Sein Sohn Felix Lee, Journalist und ehemaliger Chinakorrespondent der „taz“, hat jetzt auf rund 250 Seiten unterhaltsam und kenntnisreich die bewegte Lebensgeschichte seines Vaters aufgeschrieben – die eng mit der Entwicklung Chinas verbunden ist.

Lee beschreibt, ohne zu langweilen, einen Teil der jüngeren Geschichte Chinas und den atemberaubenden Aufstieg des Landes zur zweitgrößten Volkswirtschaft der Welt. Dabei verwebt er die Erfahrungen seines Vaters und seine eigenen in Deutschland immer wieder mit der Geschichte seiner in der Heimat gebliebenen Familie.

Felix Lee: China, mein Vater und ich
C.H. Links
Berlin 2023
256 Seiten
22 Euro

Gleichzeitig gibt das Buch einen kritischen Einblick in die Anfänge Volkswagens in China. Auf der einen Seite der unternehmerische Mut, den es brauchte, um in dem durch Mao Zedong heruntergewirtschafteten Land Potenzial zu sehen.

Auf der anderen Seite aber auch die fragwürdigen Zugeständnisse, zu denen die Wolfsburger zugunsten des Geschäfts bereit waren. Ein Beispiel: Nach der brutalen Niederschlagung der Protestbewegung auf dem Platz des Himmlischen Friedens wurde China international zum Paria. Die meisten westlichen Firmen verließen das Land. VW blieb.

Geschichte: Leben unter der Asche

Lärm, Hitze, schreiende Kinder, Asche, Glut und Tod. Das ist das Bild des antiken Pompeji, das sich über die Jahrzehnte im kollektiven Gedächtnis festgesetzt hat. Es sind Szenen vom Oktober des Jahres 79 nach Christus, als der Vulkan Vesuv an der Westküste Italiens ausbrach und die Stadt unter Schutt und Asche vergrub.

„Vom Zauber des Untergangs“ ist weniger grausam, auch wenn das Buch vom selben Ort erzählt. Gabriel Zuchtriegels Werk ist keine trockene Geschichtsstunde, sondern liest sich eher wie ein sonniger Nachmittag an der Amalfiküste, die übrigens nicht weit vom historischen Pompeji entfernt ist: Sachbuch, Strand und Sonnencreme.

Der deutsche Archäologe bricht die historische Kruste auf und legt so den Blick frei auf eine Stadt voller Mysterien, Schicksale und ungelöster Rätsel. Pompeji war nicht nur Tod und Feuer, sondern auch – und vor allem – Leben, Handel, Gesellschaft und Kunst.

Gabriel Zuchtriegel: Vom Zauber des Untergangs
Propyläen Verlag
Berlin 2023
240 Seiten
29 Euro

Gleichzeitig ist das Buch eine Abrechnung mit allen Elfenbeintürmen, staubigen Vitrinen und kryptischen Museumstafeln dieser Welt: ein Plädoyer für mehr Kreativität und Emotionen im Museumsbetrieb. Zuchtriegels Blick auf sein Fachgebiet ist nachhaltig und obendrein fast antisystemisch in der männerdominierten Traditionswelt.

Er wirbt für mehr Transparenz in der Branche, um das Vertrauen in steuer- und spendenfinanzierte Museen zu stärken. Er hinterfragt den männlichen Blick auf Pompejis Schätze, die häufig weibliche und androgyne Schönheit zeigen. Und er erklärt, wie er und sein Team es schaffen, mit dem historischen Erbe würdevoll umzugehen: mit den gipsernen Leichenabdrücken, den Sklavenzimmern und all dem, was noch unentdeckt unter dem Sediment schläft.

Begrüßungen: Handschlag mit Penis

Greifen, schütteln, loslassen: eine einfache Choreografie. Aber beim Handschlag ist viel mehr zu entdecken. Ella Al-Shamahi erklärt uns die große Geste. Als Paläoanthropologin und Komikerin bündelt sie Wissenswertes bis Skurriles rund um eine vermeintlich schlichte Begrüßungsformel.

Freunde tun es, Fremde tun es, Schimpansen tun es. Auch die letzten gemeinsamen Vorfahren des Homo sapiens und Affen dürften den Handschlag praktiziert haben. So könnte gegenseitiges Anfassen in dieser Form mindestens sieben Millionen Jahre auf dem Buckel haben. Es ist ein universeller Code für eine friedliche und freundschaftliche Begegnung.

Der heute im Westen übliche Handschlag liefert das Grundgerüst. Darauf können komplexe Zeremonien aufbauen. In Namibia etwa kann man ein In-die-Hocke-Gehen erleben, gefolgt von einem Applaus und anschließendem Händeschütteln. Reisende in Äthiopien sehen den Händedruck von einem Schulterstoß begleitet.

Ella Al-Shamahi: Der Handschlag
Harper Collins
Hamburg Verlag
208 Seiten
20 Euro
Übersetzung: Violeta Topalova

Im pazifischen Raum war bei einigen Stämmen der uns absonderlich anmutende Penis-Handschlag üblich. Beim Treffen mit fremden Gruppen drückten die Auswärtigen jedem Gastgeber das eigene Geschlechtsteil in die Hand.

Wir erinnern uns an große und gestenbegleitete Momente. Am 19. November 1985 besiegelten Ronald Reagan und Michail Gorbatschow in Genf mit einem Handschlag das Ende des Kalten Kriegs. Donald Trump ist bekannt für seine Dominanz beim Händedruck.

Vor Jahren hielt er den japanischen Politiker Shinzo Abe mit einem Endloshandschlag 29 Sekunden fest und brachte ihn so aus dem Konzept. Es gibt noch andere Beispiele, wo die Geste unfreundlich ist – erst recht, wenn eine angebotene Hand ignoriert wird.

Universum: Hawkings Revolution

Aktueller denn je zeigt sich Stephen Hawkings letzte Theorie über die Entstehung des Universums. Sie stellt nicht nur die eigene These des berühmten Wissenschaftlers infrage, die er 1988 in „Eine kurze Geschichte der Zeit“ veröffentlicht hat.

Mit humanistischem Ansatz zeigt sein neues Paradigma auch, „was unser Menschsein in diesem lebensfreundlichen Kosmos bedeuten kann“ – und warum wir die Verantwortung für die Erde tragen sollten. 20 Jahre lang arbeitete Hawking zusammen mit dem belgischen Kosmologen Thomas Hertog an der Theorie. Dieser war zunächst sein Doktorand in Cambridge, dann engster Mitarbeiter und Freund. Ihm gab Hawking kurz vor seinem Tod 2018 den Auftrag, das Buch zu schreiben.

Die revolutionäre Idee liegt in der Erkenntnis, dass der Ursprung der Zeit die Grenze dessen ist, was sich über unsere Vergangenheit sagen lässt, und nicht etwa – mit dem Urknall – der Beginn von allem, was existiert. Hawking schlägt ein neues Kapitel im Zeitalter der Naturwissenschaften auf und leitet zur Quantenkosmologie hin.

Thomas Hertog: Der Ursprung der Zeit
S. Fischer
Frankfurt 2023
424 Seiten
26 Euro

Den Weg in die Zukunft erklärt er als bemerkenswerten Wandel von der darwinistischen Evolution hin zu einer von technischem und intelligentem Design angetriebenen Entwicklung – mit hohen menschengemachten Risiken wie etwa Atomwaffen, Klimawandel oder gar KI.

Wer in das Thema einsteigt, sollte sich Zeit nehmen. Der Einsatz lohnt aber auch für Nichtphysiker: Geschrieben wie ein Roman, führt Hertog die Leser in eine Welt der Wurmlöcher, Stringrevolutionen, Gravitationsstrahlungen, der Raumdimensionen und Paradoxien. Das Buch berührt zudem als sehr persönliches Porträt eines zutiefst menschlichen, hingebungsvollen Forschers.

Russland: Playlist gegen den Krieg

Gute Nachrichten aus Russland sind dieser Tage schwer zu finden. Wer aber nach Beispielen für eine kreative Auseinandersetzung mit den Absurditäten des Lebens in Putins Reich sucht, sollte Norma Schneiders „Punk statt Putin“ zur Hand nehmen – und ihrer Einladung zum Hören der Songs und Anschauen der Musikvideos als Lektürebegleitung unbedingt folgen.

Schneider beschreibt erst, in welchem Kontext Gegenkultur im heutigen Russland noch stattfinden kann, wie die Regierung über Jahre hinweg eine repressive Kulturpolitik schuf, die viele Kunstschaffende ins Exil trieb und treibt, und welche einschneidende Verschärfung der Lage der Angriffskrieg gegen die Ukraine für Kunst und Kultur im Land darstellt. Im zweiten Teil beleuchtet Schneider die Gegenkultur anhand etlicher sorgfältig recherchierter Beispiele aus Musik und Literatur.

Norma Schneider: Punk statt Putin
Ventil Verlag
Mainz 2023
192 Seiten
16 Euro

Anders als der Titel vermuten lässt, geht sie dabei weit über Punkmusik hinaus, befasst sich mit der Aktionskunst der bekannten Gruppe Pussy Riot, den düster-experimentellen Elektroklängen der Band IC3PEAK. Besonders aufschlussreich sind Kapitel über hierzulande wenig bekannte Künstler wie Rapper Noize MC oder Singer-Songwriterin Manetotschka sowie die Beschreibung gemeinsamer Schwierigkeiten und Widerstandsmechanismen, die Musikerinnen mit Literatinnen und Poeten teilen.

So legt Schneider die komplexen Spannungsverhältnisse offen, in denen sich Russlands Gegenkultur befindet: Zwischen Arbeit in Russland selbst und dem Exil. Zwischen unmissverständlich direkter Kritik und solcher zwischen den Zeilen. Zwischen Protest, der im Ausland hörbar sein soll, und solchem, der darauf abzielt, das Leben im eigenen Land erträglicher zu machen.

Zeitzeugnis: Jüdin aus Rhodos

Stella Levi hat zwei Leben – das vor dem 23. Juli 1944 und das danach. 21 Jahre lang lebte sie in La Juderia, einer einzigartigen Kultur im ehemaligen Judenviertel der Stadt Rhodos auf der gleichnamigen griechischen Insel.

Jahrzehnte später trifft Levi in New York zufällig auf Michael Frank. Sie verabreden sich, einmal, zweimal – und dann hundert Samstage lang. „Einhundert Samstage“, so auch der Titel des Buchs, an denen die Jüdin dem Schriftsteller und Publizisten ihr Leben erzählt. 1700Menschen wurden im Zweiten Weltkrieg von Rhodos aus ins Konzentrationslager gebracht, nur 151 von ihnen überlebten.

Michael Frank: Einhundert Samstage
Rowohlt Berlin
Berlin 2023
329 Seiten
24 Euro

Alles könne sie ihm erzählen, sagt sie. Nur eine Zeit wolle sie aussparen – die im Lager. Sie wolle niemand sein, der „nur dieses eine Ereignis in einem langen, vielschichtigen Leben derart in den Mittelpunkt rückt“. Also berichtet sie von den Heilkräften ihrer Oma, staunt, dass in ihrer Familie angesichts der vielen süßen Gebäckvariationen nicht alle zuckerkrank waren, denkt an den Koffer, den sie mit 14 packte, um später in Italien zu studieren.

Frank schafft es, Levis Vertrauen zu gewinnen. Und dann erzählt sie doch. Von Auschwitz, von Dachau, von den anderen Lagern. Wie sehr ausgerechnet die Lager das „Gefühl des Anderswo“ in ihr auslösten. „Sie dürfen nicht vergessen, dass ich Rhodos das erste Mal verließ, als sie uns nach Athen brachten und von dort mit dem Zug nach Europa fuhren.“

Plötzlich sah sie Bahnhöfe vorbeirauschen. „Dies war der Kontinent, von dem ich so lange geträumt hatte.“ Und auf dem sie nun nicht mehr leben wollte. Frank fängt Levis Erzählungen unaufgeregt und mit viel Feingefühl ein. Ein Buch, das nachwirkt.

Berlin: Prägendes Jahrhundert

Jeder Berlinbesucher kennt das Problem: In der Hauptstadt lässt sich kaum ein Schritt tun, ohne auf ein Gebäude, einen Platz oder eine Mauer von historischer Bedeutung zu stoßen. Wo fängt man da an? Der britische Autor Sinclair McKay fügt den zahllosen Berlinbüchern ein weiteres hinzu, wählt aber einen erfrischend neuen Ansatz abseits der Werke über die große Politik.

Anhand von kurzen Zeitzeugenerzählungen beschreibt McKay eine Stadt im endlosen Wandel und den Umgang ihrer Bewohner damit, dazu stellt er Bezüge zum aktuellen Berlin. Von der Kaiserzeit über den Ersten Weltkrieg, die Weimarer Republik, den Terror des Dritten Reichs, Teilung und Wiedervereinigung – jeder Zeitabschnitt hat in „Berlin 1918–1989“ seine eigenen Protagonisten.

Sinclair McKay: Berlin – 1918-1989
Übersetzung: E. Schmalen, J. Wais
Harper Collins
Hamburg 2023
560 Seiten
28 Euro

Da ist etwa die Kommunistin Rosa Luxemburg, die während der Unruhen nach dem Ersten Weltkrieg für eine gänzlich neue Gesellschaft kämpft, von ihren Gegnern schließlich aber brutal erschlagen wird. Aber auch historisch unbekannte Menschen kommen vor, etwa Rachel R. Mann, die nur zufällig der Deportation jüdischer Berliner entkommt, weil sie beim Eintreffen der Gestapo nicht zu Hause ist. Sie kommt im Keller einer Nachbarin unter, überlebt die zahllosen Bombenangriffe des Jahres 1945 auf die Stadt und harrt dort bis zum Kriegsende aus.

All die Erzählungen münden in der Feststellung McKays, dass Berlin im Grunde nie wirklich unter der Kontrolle seiner vermeintlichen Herrscher stand. Nicht einmal die Diktatoren Adolf Hitler und Josef Stalin konnten den sturen Freiheitsgeist der Berliner brechen, allem unvorstellbaren Leid zum Trotz. Für ihn macht genau diese Unkontrollierbarkeit die deutsche Hauptstadt aus.

Währung: Mythos D-Mark

Nur selten verschlug es Konrad Adenauer die Sprache. Reichlich perplex schaute er im Jahr 1956 Karl Bernard an, Präsident des Zentralbankrats der Bank deutscher Länder, des Vorgängers der Bundesbank. Der hatte gegen den Wunsch des Bundeskanzlers den Diskontsatz erhöht. „Sind Sie denn der Auffassung, dass Sie gleichberechtigt neben der Bundesregierung stehen?“, fragte Adenauer. Die Antwort: „Ja.“

In seinem Buch „Die Deutsche Mark – Wie aus einer Währung ein Mythos wurde“ beschreibt Wirtschaftsexperte und Historiker Frank Stocker unterhaltsam und informativ den Währungsalltag vom Ende des Zweiten Weltkriegs bis zur Einführung des Euro-Bargelds 2002. 75 Jahre ist es her, dass die D-Mark als Währung in den Westzonen eingeführt wurde.

Frank Stocker: Die Deutsche Mark. Wie aus einer Währung ein Mythos wurde
Finanzbuch Verlag
München 2023
360 Seiten
27 Euro

Längst sind die grünen Zwanziger und blauen Hunderter Geschichte. Doch sogar Ende 2022 waren nach Angaben der Bundesbank noch Münzen und Scheine im Wert von rund 12,3 Milliarden D-Mark im Umlauf.

>>Lesen Sie hier: 75 Jahre D-Mark: „Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war?“

In deutschen Schubladen und Schatullen lagert, was für „die Ablösung von Not und Hunger durch Konsum und Wohlstand“ und „für den Beginn des Wirtschaftswunders“ steht. All das begründet den Mythos. Da passt es ins Bild, dass die Währungshüter im Rückblick mehr sind als bloße Banker, nämlich die „Wacht am Main“ – wehrhaft, unabhängig, unbeirrbar.

Stocker, Journalist bei der „Welt“, versucht mit seinem Buch, einer Entwicklung entgegenzuwirken, die er selbst kritisch sieht. Denn der Mythos D-Mark lebt, während „das Wissen um die Geschichte“ verblasst. Fesselnd und faktenreich zugleich, führt Stocker längst vergessene Geschichten vor Augen. Kein staubtrockener Historienwälzer – sondern eine Lektüre mit viel Leben und Farbe.

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