Tschernobyl Ohne die Atomruine von Tschernobyl gäbe es Slawutitsch nicht. In dem fast idyllisch wirkenden Ort im Norden der Ukraine fanden all jene eine neue Heimat, die die verseuchte Stadt Pripjat verlassen mussten – und jene, die daran arbeiten, die nuklearen Folgen zu beseitigen.
Bis heute sind die beiden Orte schicksalhaft miteinander verbunden. Ein großer Teil der Einwohner von Slawutitsch beobachtet und kontrolliert die Prozesse in den abgeschalteten Reaktoren.
Dann kamen die Russen.
Tetjana Matjucha erinnert sich noch genau an den 24. Februar 2022. Die Kassiererin in der Betriebskantine und ihre Kollegen hätten gerade mit dem Frühstücksservice im Verwaltungsgebäude neben dem Sarkophag – der Betonmantel um das Atomkraftwerk – beginnen wollen. „Dann sah ich die heranfahrenden Panzer. Zuerst dachte ich, es seien die Unseren.“ Dass die Invasion begonnen hat, realisiert sie erst, als sie die ukrainischen Soldaten in den Luftschutzkeller beordern.
Obschon Satellitenbilder die russische Truppenkonzentration direkt an der Grenze über Wochen dokumentierten, überrascht der Vorstoß durch die Sperrzone die Ukrainer: Auf eine Verteidigung verzichten sie wegen der großen Risiken einer weiteren atomaren Verstrahlung durch Kampfhandlungen. Laut Völkerrecht genießen Kernkraftwerke einen speziellen Schutz vor militärischen Angriffen.
Die 169 Angehörigen der Grenzwache kapitulieren. Rasch kontrollieren die Streitkräfte der Russischen Föderation das gesamte radioaktiv verseuchte Gebiet.
Russische Besatzer und ukrainische Arbeiter lebten wochenlang zusammen
Für die Angreifer ergibt der Vorstoß durch Tschernobyl strategisch Sinn: Am linken Dnipro-Ufer steht die Basis einer Panzereinheit, und die nukleare Sperrzone liegt an der direkten Verbindungsstraße zwischen Belarus und Kiew. Für die Eroberung der Hauptstadt hätte sie deshalb eine bedeutende Rolle als Versorgungsroute spielen können. In den ersten Tagen rollt ein Militärfahrzeug nach dem anderen durch die 2600 Quadratkilometer große „Zone“.
Die Besetzer richten ihr Hauptquartier im Verwaltungsgebäude ein. Russen und ukrainische Arbeiter leben wochenlang im gleichen Komplex, eng nebeneinander und doch getrennt: Die Kantinen sind auf zwei Etagen aufgeteilt, mit einer gemeinsamen Küche. „Wir wuschen ihr Geschirr und hätten sie ohne Weiteres vergiften können“, erzählt die Köchin Tatjana, die ihren vollen Namen nicht veröffentlicht haben will, weil sie sich um ihren in der Armee dienenden Sohn sorgt.
Von Misshandlungen weiß sie nichts zu berichten. Doch die Soldaten seien völlig ahnungslos in die Ukraine gekommen. So erzählen Augenzeugen, die Besatzer hätten ständig gefragt, wo denn nun die Nato-Basen und Bio-Labors stünden – nur einige Lügen, die die Kreml-Propaganda zur Rechtfertigung des Angriffskriegs verbreitete. Im Verwaltungsgebäude der Atomruine laufen derweil weiterhin die ukrainischen Nachrichten.
Die Besatzer brauchen die Kooperation der Techniker, denn die Sicherheitslage auf dem Gelände ist prekär. Die nuklearen Abfälle zu kühlen und den explodierten Reaktor Nummer vier zu überwachen erfordert eine externe Energieversorgung. Die Leitung führt jedoch aus der Zentralukraine durch russisch besetztes Gebiet nach Tschernobyl.
Anfang März wird sie unterbrochen – mit potenziell fatalen Folgen. Die ukrainischen Techniker müssen widerwillig auf eine Stromquelle aus Belarus ausweichen.
Kaum noch Spuren der Russen bei Tschernobyl
Dazu kommt, dass sich die russischen Soldaten in ihrer Unkenntnis verantwortungslos verhalten. Sie bewegen sich ohne Schutz im stark kontaminierten „Roten Wald“ rund um das AKW Tschernobyl und Pripjat, entfachen dort Feuer. Augenzeugen berichten von wachsender Unruhe unter den Besatzern, die im Kampf um Kiew riesige Verluste erleiden: Eine Einheit betrinkt sich demnach eines Abends bis zur Bewusstlosigkeit, nachdem sie Dutzende von getöteten Kameraden geborgen hat.
>> Lesen Sie hier: Warum ukrainische Panzer mit russischem Öl fahren
Trotzdem gelingt es dem ukrainischen Schichtleiter Walentin Geiko, mit dem russischen Kommandanten in Tschernobyl einen Austausch der Arbeiter auszuhandeln. Am 20. März 2022 ersetzen Kollegen aus Slawutitsch die Hälfte der ausgelaugten Spezialisten vor Ort.
Als sich die Russen Ende März aus der Gegend um Kiew zurückziehen, verlassen sie auch die „Zone“ rund um das ehemalige AKW Tschernobyl. Ein Jahr später erinnern nur noch eine zerstörte Brücke und ausgebrannte Militärfahrzeuge an die Präsenz der Besatzer. Auf einem Lastwagen ist ein Z aufgesprüht, das Symbol des Angriffskriegs.
Der Krieg hat die Stimmung in der verseuchten Zone mit ihren 162 Ortschaften, die seit der Nuklearkatastrophe verlassen sind, auch in andere Landesteile gebracht. Der Wald überwuchert die Häuser, auf dem Hauptplatz von Pripjat steht ein geplünderter Supermarkt, dahinter der Rummelplatz mit dem berühmten Riesenrad. Die Trostlosigkeit erinnert an die Ruinenstädte des Krieges im Donbass und im Süden der Ukraine.
Auch den Ort Tschernobyl hat der Krieg verändert. Noch 2019 war er das touristische Zentrum für jährlich 120.000 Besucherinnen und Besucher. Nun kommen hier die ungefähr 1000 ukrainischen Soldaten unter, die in der Gegend stationiert sind. Sie rotieren laut einer Behördenvertreterin regelmäßig, um eine übermäßige Strahlenbelastung zu vermeiden.
Auf der Straße zum Verwaltungsgebäude bewegen sich Haubitzen und Militärlastwagen. Im Hof davor haben sich Soldaten zu einer Verteidigungsübung versammelt.
Routine der Arbeiter hat sich verändert
Für die zivilen Techniker ist die Überwachung der nuklearen Prozesse innerhalb des Sarkophags und der 2017 darübergestülpten modernen Schutzhülle deutlich schwieriger geworden, seit die abziehenden Russen die Büros geplündert haben. Sie stahlen einen Großteil der Computer und Instrumente zur Messung der Strahlung.
Da die verbliebenen Angestellten aus Gründen der Geheimhaltung kaum über ihre Arbeitsbedingungen sprechen, ist Olexander Kupni zu ihrem Sprachrohr geworden. Der 63-Jährige kam 1988 als einer der Ersten nach Slawutitsch und arbeitete bis 2010 am AKW.
Dort maß er regelmäßig die Strahlung im zerstörten Reaktor vier. „Die Arbeit am AKW Tschernobyl steht seit letztem Jahr praktisch still“, erzählt der Pensionär.
Die Routine der verbliebenen Angestellten hat sich durch den Krieg verändert. Das AKW liegt 50 Kilometer Luftlinie von Slawutitsch entfernt, früher fuhr ein Lokalzug in vierzig Minuten ohne Stopp praktisch bis zur Haustür. Doch er führte über belarussisches Territorium.
>> Lesen Sie hier: „Ich schäme mich, dass sie mich gefangen nahmen“: So leben russische Kriegsgefangene in der Ukraine
Nun ist die Eisenbahnbrücke gesprengt, die Grenze zu und die Direktroute blockiert. Die Angestellten müssen mit dem Firmenbus einen erheblichen Umweg über Kiew in Kauf nehmen, wo die nächste Brücke über den Dnipro auf ukrainischem Gebiet steht. Sechs Stunden lang rumpelt der Bus über schlechte Straßen das Flussufer herunter und wieder hoch.
Arbeiteten sie zuvor Zwölf-Stunden-Schichten im Verwaltungsgebäude und kehrten danach heim, verbringen sie nun 14 Tage in der „Zone“ und sind dann zehn Tage lang zu Hause. Ein so langer Aufenthalt wäre dort aus Sicherheitsgründen eigentlich nicht erlaubt. Doch die gegenwärtige Situation lässt ihnen keine Wahl.
Nur ein Bruchteil der Arbeitsplätze bei Tschernobyl übrig
Die Köchin Tatjana hat an diesem Sonntag frei und wartet in ihrer Küche auf den Besuch der Familie. Sie ist froh über die Zeit zu Hause, denn die Unterkünfte beim AKW in provisorisch in Schlafplätze umgerüsteten Büroräumen sind rudimentär.
„Am Anfang war das ein Schock“, erzählt die zweifache Großmutter. „Wir hatten zunächst weder fließendes Wasser noch Strom.“ Die Mitarbeiter improvisierten nun und arrangierten sich eben, meint sie schulterzuckend. Die Leute arbeiteten weiter, weil sich niemand leisten könne, auf einen guten Lohn zu verzichten.
>> Lesen Sie hier: „Wir sind Amazon fürs Militär“ – Privatleute versorgen die Ukraine mit dem Notwendigsten
Slawutitsch bleibt abhängig vom AKW Tschernobyl, auch wenn heute nur noch ein Bruchteil der einst Tausenden von Arbeitsplätzen übrig geblieben ist.
Vor Russlands Invasion lockte die Stadt mit einigem Erfolg Investitionen und Familien an. Die Bevölkerung stabilisierte sich auf 25.000, im letzten Jahr ist sie aber auf 17.000 geschrumpft. Immerhin blieb die Kleinstadt von den Kämpfen weitestgehend verschont.
Für Olexander Kupni ist die einstige Modellstadt „der Schatten der Sowjetunion“. Die Quartiere wurden in den nationalen Stilen der verschiedenen Republiken gebaut. Wohnungen konnten sich die jungen Spezialisten Ende der achtziger Jahre aus einem Katalog aussuchen – damals ein extremes Privileg. Gerne erzählen die Bewohner von der Dynamik jener Zeit und den gemeinsamen Festen einer homogenen und hochgebildeten Stadtbevölkerung.
Die Menschen sind stolz auf ihren Beitrag zur Vermeidung einer noch gewaltigeren Katastrophe, und sie erbringen dafür bis heute große Opfer.
Der Friedhof und eine Gedenkstätte erinnern an jene, die an den Folgen der Strahlenbelastung starben. Der Krieg und die gekappten Verbindungen über Belarus stellen Slawutitsch nun ein weiteres Mal auf die Probe. Kupni glaubt dennoch an eine Zukunft für Slawutitsch. „Die Stadt hat viele dunkle Zeiten erlebt“, sagt Kupni. „Aber sie hat stets überlebt.“
Mitarbeit: Kostiantin Karnosa
Mehr: Die Ukraine will wieder verstärkt selbst Waffen produzieren