Mützenich erwartet eine neue Wirtschaftsordnung

Berlin Nach Einschätzung von SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich könnte die trotz Ukrainekriegs russlandfreundliche Haltung mehrerer Länder in eine neue Wirtschaftsordnung münden. „Es macht mir zu schaffen, dass Demokratien wie Indien oder leidlich entwickelte Demokratien wie Südafrika oder Sri Lanka den Überfall auf die Ukraine nicht kritisiert haben“, sagte Mützenich dem Handelsblatt. „Da entsteht nicht nur eine neue Weltordnung, da entsteht auch eine neue Wirtschaftsordnung, die unser Selbstverständnis, aber auch die Bedingungen unseres Wirtschaftens grundlegend herausfordern wird.“

Kritisch sieht Mützenich vor diesem Hintergrund auch die Rolle Chinas, das sich bei der Abstimmung in der Generalversammlung der UN zum russischen Angriffskrieg enthalten hatte. Er könne der deutschen und der europäischen Wirtschaft daher nur raten, schon allein mit Blick auf die Lieferketten, ihre Abhängigkeit von China zu verringern. „Europa muss dringend eine gemeinsame Wirtschaftsaußenpolitik definieren“, sagte der SPD-Politiker. Damit meine er nicht eine Abkehr vom globalen Handel. „Aber mit dem Krieg in der Ukraine und den Folgen wird es wahrscheinlich nicht mehr um Wandel durch Handel gehen. Wahrscheinlich geht es nur noch um Stabilität durch Handel.“

Mit Blick auf Forderungen nach einem kompletten Energieembargo verteidigte Mützenich die ablehnende Haltung der Bundesregierung. „Wir wollen Putin und nicht Deutschland oder Europa schweren Schaden zufügen“, sagte er. „Ein komplettes Energieembargo würde unsere Volkswirtschaft massiv treffen, hätte eine hohe Arbeitslosigkeit zur Folge und würde die Substanz vieler Unternehmen gefährden.“ In vielen Firmen gebe es nicht einfach einen Schalter, den man nach Belieben ein- und ausschalten könne. „Unternehmen etwa in der Chemiebranche sind dann am Ende.“

Lesen Sie hier das komplette Interview:

Herr Mützenich, Sie waren immer der Überzeugung, mit Waffen ist kein Frieden zu schaffen. Stehen Sie jetzt auch voller Überzeugung hinter dem 100 Milliarden Euro schweren Sondervermögen zur Aufrüstung der Bundeswehr?
Wie alle Bürgerinnen und Bürger leide ich unter den dramatischen Bildern und Schilderungen von Flucht, Elend und Tod in der Ukraine. Das geht an niemandem spurlos vorbei. Die Gräueltaten von Butscha zeigen uns mit brutaler Härte, dass wir uns vor der aggressiven Politik des russischen Präsidenten Wladimir Putin schützen müssen. Deshalb stehe ich auch hinter den Plänen zur bestmöglichen Ausstattung der Bundeswehr. Putin ist ein Kriegsverbrecher und Lügner, wir müssen Sicherheit vor diesem russischen Regime schaffen.

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Der Westen hat viele Sanktionen gegen Putin erlassen. Das scheint ihn aber wenig zu beeindrucken. Woran liegt das?
Putin ist von seinem Weg völlig überzeugt. Sein Plan eines schnellen Kriegserfolges mag nicht aufgehen, aber er ist besessen davon, die Ukraine zu vernichten, die aus seiner Sicht keine existierende Nation ist.

Wenn ohnehin die Vernichtung der Ukraine sein Ziel ist, warum füllt Deutschland über die Öl- und Gaslieferungen dann immer noch seine Kriegskasse auf?
Die EU-Kommission hat beschlossen, auf den Import der Kohle zu verzichten. Das halte ich für richtig. Wir behalten uns weitere Sanktion vor. Und der Internationale Strafgerichtshof ermittelt nicht nur wegen der Gräueltaten in Butscha.

Aber die Rufe mehren sich, die Bundesregierung solle sich zu einem kompletten Energieembargo durchringen.
Wir wollen Putin und nicht Deutschland oder Europa schweren Schaden zufügen. Ein komplettes Energieembargo würde unsere Volkswirtschaft massiv treffen, hätte eine hohe Arbeitslosigkeit zur Folge und würde die Substanz vieler Unternehmen gefährden. In vielen Firmen gibt es nicht einfach einen Schalter, den sie nach Belieben ein- und ausschalten können. Unternehmen etwa in der Chemiebranche sind dann am Ende. Das müssen die Branchen selbst übrigens auch noch viel offensiver kommunizieren. Wäre der Selbstschaden noch größer, dann wäre Putin dem grundsätzlichen Ziel näher, den Westen und die Demokratie zugrunde zu richten.

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Viele Ökonomen halten ein Energieembargo für Deutschland für „handhabbar“. Die SPD traut dagegen eher den Prognosen der Wirtschaft. Warum hört die Politik statt auf die Wissenschaft auf Lobbyvertreter der Wirtschaft?
Ich habe nicht den Eindruck, dass es die eine klare Lehrmeinung gibt. Und wenn Sie den Begriff handhabbar nennen, mag das eine Bewertung aus wissenschaftlicher Sicht sein. Ob ein Embargo aber für Unternehmen, für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sowie den Staat tatsächlich „handhabbar“ ist, steht auf einem anderen Blatt. Die Betroffenen müssen nämlich am Ende die Lasten tragen. Wir können angesichts der ohnehin großen Risiken für unser Land jetzt keine unüberlegten Entscheidungen treffen.

Zynisch gesagt: Deutschland füllt seine Gasspeicher auf, während in der Ukraine die Menschen sterben?
Dieser Krieg ist von Putin offenbar so lange vorbereitet worden, dass er ihn auch über einen längeren Zeitraum durchhalten kann. Deutschland muss aber auch sein Embargo durchhalten. Außerdem ist Russland nicht so isoliert, wie viele meinen.

Was meinen Sie damit?
141 Länder haben zwar in der Generalversammlung der UN gegen den Überfall auf die Ukraine gestimmt. Aber wenn Sie sich die Enthaltung und die abwesenden Stimmen noch einmal vor Augen führen, ist das fast mehr als die Hälfte der derzeitigen Weltbevölkerung. Darunter befinden sich fünf Länder mit Atomwaffen. Wir müssen alles unternehmen, um diese Unterstützer aus der Parteinahme für Putin herauszubrechen.

>> Lesen Sie auch: Chronologie der Ereignisse: Warum will Putin die Ukraine?

Haben Sie dabei China und Indien im Blick?
Ja. Und es macht mir zu schaffen, dass Demokratien wie Indien oder leidlich entwickelte Demokratien wie Südafrika oder Sri Lanka den Überfall auf die Ukraine nicht kritisiert haben. Da entsteht nicht nur eine neue Weltordnung, da entsteht auch eine neue Wirtschaftsordnung, die unser Selbstverständnis, aber auch die Bedingungen unseres Wirtschaftens grundlegend herausfordern wird.

Bundestagsbüro

Rolf Mützenich (2.v.r.) mit den Handelsblatt-Redakteuren Martin Greive, Dietmar Neuerer, Thomas Sigmund (v.l.).


(Foto: Handelsblatt)

Sollte Deutschland seine Abhängigkeit von China verringern?
Ich kann das der deutschen und der europäischen Wirtschaft nur raten. Schon allein mit Blick auf die Lieferketten. Wir haben diese Abhängigkeiten schon während der Pandemie schmerzhaft zu spüren bekommen. Wir hatten nicht einmal genug Masken am Anfang der Pandemie. Europa muss dringend eine gemeinsame Wirtschaftsaußenpolitik definieren. Damit meine ich nicht eine Abkehr vom globalen Handel. Aber mit dem Krieg in der Ukraine und den Folgen wird es wahrscheinlich nicht mehr um Wandel durch Handel gehen. Wahrscheinlich geht es nur noch um Stabilität durch Handel.

>> Lesen Sie auch: Im Handelsblatt-Liveblog zum Ukrainekrieg berichten wir über alle tagesaktuellen Geschehnisse

Der US-Präsident ist für einen Ausschluss Russlands aus der G20-Gruppe. Sie auch?
Mit Sicherheit wird der diesjährige Gastgeber der G20, Indonesien, sich gut überlegen, wie die Treffen durchgeführt werden sollen. Wahrscheinlich werden wir uns darauf einstellen müssen, dass auch andere Formate in Zukunft eine viel größere Rolle für das Weltgeschehen spielen werden als die nach Ende des Kalten Krieges. Wir stehen vor einer Zeitenwende, vielleicht sogar vor einem Zeitenbruch.

Soll Putin jetzt nach Indonesien kommen oder nicht?
Russland hat sich selbst aus der internationalen Gemeinschaft herauskatapultiert. Abgesehen davon wird es wegen Kriegsverbrechen Ermittlungen gegen bestimmte Personen geben. Da erübrigen sich gewisse Reisen – auch für Putin. Wir müssen mit allen Mitteln versuchen, Russland noch stärker zu isolieren.

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Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck treibt zwar mit seinem „Osterpaket“ die erneuerbaren Energien voran. Doch der Bedarf an Energie ist damit vorerst nicht zu decken. Müssen wir nicht wieder wenigstens für ein paar Jahre auf Atomkraft setzen?
Ich gehe weiterhin davon aus, dass die drei Atomkraftwerke, die noch am Netz sind, am Jahresende abgeschaltet werden. Im Übrigen ist die europäische Atomwirtschaft in hohem Maße ebenfalls von Russland abhängig. Auch insofern ist das keine „saubere“ Alternative.

Muss es nach der sicherheitspolitischen eine ökonomische Zeitenwende geben?
Natürlich muss das, was wir uns im Koalitionsvertrag vorgenommen haben, vor der Realität Bestand haben. Wir müssen uns auch überlegen, wie wir auf eine vielleicht noch weiter steigende und sich festsetzende Inflation reagieren wollen. Wenn es auch noch eine höhere Zahl an Arbeitslosen gibt, ist auch das eine der vielen neuen Herausforderungen infolge des Ukrainekrieges, die so im Koalitionsvertrag gar nicht hätten vorausgesehen werden können.

Olaf Scholz

Der Bundeskanzler hat den russischen Angriff auf die Ukraine scharf verurteilt und als weitgehende Zäsur bezeichnet.

(Foto: dpa)

Seit Olaf Scholz von einer sicherheitspolitischen Zeitenwende gesprochen, hat man den Eindruck, seine Ankündigung zerfasert. Statt Strategie gibt es Hickhack, Stichwort Waffenlieferungen. Wie lässt sich das wieder ändern?
Ich kann kein Hickhack erkennen. Die Bundesregierung trifft im geheim tagenden Bundessicherheitsrat die Entscheidungen, die notwendig sind. In der Öffentlichkeit werden manchmal Dinge behauptet, die so gar nicht zutreffen.

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Der ukrainische Botschafter sagt doch jeden Tag, was schiefläuft bei den Waffenlieferungen.
Der ukrainische Botschafter in Deutschland ist zweifellos in einer Situation, wo er tagtäglich händeringend um zusätzliche Unterstützung bittet. Das machen seine Botschafterkollegen in anderen Ländern auch – nur dass sie dabei anders auftreten.

Warum liefert Deutschland nicht die 100 Marder-Schützenpanzer, die Kiew angefragt hat?
Nur die Mitglieder des Sicherheitsrats kennen die Einzelheiten und Voraussetzungen, die für wirkungsvolle und verantwortungsvolle Waffenlieferungen sprechen. Wer also meint, ein Gerät sei die Lösung aller Probleme, der macht der Öffentlichkeit etwas vor.

Österreichs Bundeskanzler reist jetzt nach Kiew, auch Frau von der Leyen. Sollte auch Herr Scholz dorthin reisen?
Herr Scholz braucht da keine Ratschläge. Wir zeigen mit der Ukraine Solidarität. Das entscheidet sich aber nicht durch Bilder, sondern durch Handeln.

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat Fehler in der Russlandpolitik eingeräumt. Hat sich die SPD Putin zu sehr an den Hals geworfen, oder war das Realpolitik?
Dass der Bundespräsident die Größe hatte, Fehler einzugestehen, ist beachtlich. Natürlich haben gewisse Entscheidungen vor der heutigen Folie eine ganz andere Konsequenz. Letzten Endes wurden wir alle von Putin belogen. Deswegen sollten auch all diejenigen, die sich jetzt einen schlanken Fuß machen wollen, das mit sich selbst ausmachen.

Was meinen Sie damit?
Ich kann nur für meine Fraktion sprechen: Ich kenne niemanden, der bei uns mit Offshore-Geschäften oder Pandora Papers konfrontiert wurde. Ich kenne niemanden, der noch für Unternehmen oder für Unternehmensberatungen gearbeitet hat, die auch mit russischem Geld versorgt wurden. Deswegen sollten manche gut darauf achten, was ihre heutige Kritik vor dem Hintergrund ihrer damaligen Tätigkeiten bedeutet.

Also sollte es keine Enquetekommission zur Aufarbeitung der Russlandpolitik geben, wie sie Oppositionsführer Friedrich Merz fordert?
Die SPD hat ihre politischen Schritte nicht nur immer wieder überprüft, sondern auch korrigiert, wenn dies erforderlich war. Dafür brauchen wir keine Enquetekommission.

Sie haben kurz vor Kriegsausbruch die Hoffnung geäußert, perspektivisch eine europäische Friedensordnung unter Einschluss Russlands aufzubauen, auch wenn sie das für unwahrscheinlich hielten. Für wie lange ist diese Perspektive zerstört?
Wenn ich das wüsste. Was ich weiß: Ohne ein solches Land, das elf Zeitzonen umfasst, werden die Überlebensfragen der Menschheit nicht gelöst werden. Wir müssen alles versuchen, Russland zu einem verantwortlichen Handeln zu bringen. Die Herausforderungen sind offensichtlich: die Folgen des Klimawandels, Nahrungsmittelproduktion, sicherheitspolitische Fragen mit China. Uns und den nachfolgenden Generationen stehen mehr als turbulente Zeiten bevor.

Wie sollen wir diese Herausforderungen angehen? Mit oder gegen Autokraten?
Ich kann mit einem lügenden Kriegsverbrecher wie Putin nicht über Menschenrechte oder Klimapolitik verhandeln. Und dennoch muss ich versuchen, Partner für diese Politik zu finden. Die sehe ich nicht in Putin, wahrscheinlich auch nicht in Chinas Präsident Xi. Deswegen konzentrieren wir uns darauf, innerhalb und durch die EU die Demokratie noch stärker zu machen.

Was bedeutet die Abstimmungsniederlage bei der Impfpflicht für die Ampel?
Weil die Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger als Basisschutz vor einer neuen Infektionswelle die Impfpflicht befürwortet, haben die Autoren des Gesetzentwurfs bis zum Schluss Brücken gebaut. Aus parteitaktischen Erwägungen hat vor allem die CDU/CSU die ausgestreckte Hand nicht ergriffen, obwohl selbst alle Ministerpräsidenten eine allgemeine Impfpflicht empfohlen hatten. Ich kann nicht verstehen, warum bei einem so tiefen Grundrechtseingriff Herr Merz die Abstimmung nicht freigegeben hat.

Hätte man nicht besser auf die scharfen Angriffe auf die Union vorher verzichtet?
Ich kann keine Angriffe auf die Union erkennen. Im Gegenteil haben wir gewürdigt, dass sogar Ministerpräsidenten von CDU und CSU eine Impfpflicht empfohlen hatten. Offensichtlich haben sie sich dann aber aus der innerparteilichen Diskussion herausgehalten. Verantwortungsvolles Regieren im Bundesstaat sieht anders aus. 

Wie haben Sie von der Rolle rückwärts Ihres Gesundheitsministers Karl Lauterbach erfahren, nun doch an einer verpflichtenden Quarantäne für Coronainfizierte festzuhalten?
Diese Kehrtwende hat er ja via Lanz und Twitter angekündigt. (Lächelt) Wir haben über die Quarantänepflicht zuvor in der Fraktion gesprochen. Ich war also schon vor Bekanntgabe der Entscheidung bei dem Ergebnis zuversichtlich.

Ist das ganze Hin und Her nicht etwas peinlich?
Ich finde es sehr honorig, wenn der Bundesgesundheitsminister einen Fehler zugibt und sich damit auch vor diejenigen stellt, die an dieser Entscheidung mitgewirkt haben. Das waren schließlich alle 16 Gesundheitsminister der Länder.

Herr Mützenich, vielen Dank für das Interview.

Mehr: „Ein Fehler, aus dem ich gelernt habe“ – Joe Kaeser über seinen Umgang mit Putin

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