Ludwig Erhards Beliebtheit bleibt ein Mysterium

Ludwig Erhard wirft lange Schatten. An diesem Freitag würde der „Vater des Wirtschaftswunders“ 125 Jahre alt. Anlass für die Ludwig-Erhard-Stiftung, dem „Vater des Wirtschaftswunders“ wieder Kränze zu binden.

Landauf, landab gedenkt man des Erfinders der „Sozialen Marktwirtschaft“, jenes „Dicken mit der Zigarre“, der wie kein anderer das westdeutsche Wohlstandsversprechen verkörpert. „Kann Wirtschaftsminister Robert Habeck ein grüner Erhard werden?“ – sorgt sich der „Spiegel“, weil die Fußstapfen seines Vorgängers doch zu groß sein könnten.

Schon die Frage allerdings ist falsch gestellt. Richtig müsste sie lauten: Sollte der grüne Vizekanzler das überhaupt anstreben? Denn Erhards reales Wirken bleibt weit hinter dem Mythos zurück, für den er bis heute steht.

Schon als Wirtschaftsminister 1949 bis 1963 ließ Erhard es eher ruhig angehen. Der Minister stritt gegen das Projekt der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, hielt Vorträge und reiste gern ins Ausland, um Ehrendoktorhüte entgegenzunehmen. In Bonn spottete man über seine langen Abwesenheiten, die durch ausgedehnte Urlaube am Tegernsee noch länger wurden. „Ihr Platz ist hier!“, schrieb ihm Kanzler Adenauer ins Stammbuch. Vergebens.

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Anders als in der Öffentlichkeit spielte Erhard im Kabinett allerdings nur selten eine tragende Rolle. Gründlichem Aktenstudium abgeneigt, fehlte ihm bei den damals noch üblichen Debatten meist die nötige Sachkenntnis. Schon 1949, als es um die Abwertung der D-Mark gegenüber dem Dollar ging, vermisste Konrad Adenauer präzise Auskünfte seines Ministers – und fürchtete die „wortmächtigen Wallungen“, mit denen Erhard seine Wissenslücken zu camouflieren suchte.

Kampf um die Anerkennung Adenauers

Acht Jahre brauchte der Wirtschaftsminister, um sein wichtigstes Vorhaben durchzusetzen: das Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen. Schon im Oktober 1949 angekündigt, trat das Gesetz erst im Januar 1958 in Kraft. Warum so spät? Zum einen hatte die organisierte Industrie heftigen Widerstand geleistet. Zum anderen unterließ Erhard es aber auch, die Stimmung in der CDU/CSU-Fraktion zu seinen Gunsten zu beeinflussen.

>> Lesen Sie hier: Ein Klassiker der Wirtschaftsliteratur wurde zum 70. Jubiläum neu herausgegeben. Hat uns Ludwig Erhards „Wohlstand für alle“ heute noch etwas zu sagen?

Wirtschafts- und Klimaschutzminister Habeck hingegen läuft wegen der Klimakrise schon jetzt die Zeit davon. Er muss rasch Gesetzentwürfe vorlegen, die juristisch wasserdicht sind. Das war bei Erhards Kartellgesetz nicht der Fall. Es ist zwar bis heute eine wichtige ordnungspolitische Wegmarke, in der praktischen Anwendung aber blieb es zunächst wirkungslos, weil die Tatbestände „Missbrauch“ und „Marktbeherrschung“ nur unscharf definiert waren. „Das Gesetz“, resümiert der Historiker Volker Hentschel, „verlangte vom ersten Tag seiner Geltung an nach Novellierung.“

Habeck sollte sich auch mit Blick auf sein Verhältnis zu Regierungschef Olaf Scholz lieber nicht von Erhard inspirieren lassen.

Ludwig Erhard mit Sepp Herberger

Erhard war im Kabinett von Konrad Adenauer Bundeswirtschaftsminister.


(Foto: imago images/Horstmüller)

Der litt 14 Jahre lang unter dem Liebesentzug durch Kanzler Adenauer und versuchte immer verzweifelter, doch noch dessen Zuneigung zu gewinnen. Erhards Briefe, in denen er eigenes Lob gern mit seiner „innersten Gewissensnot“ oder gleich mit dem „Schicksal der Nation“ verknüpfte, stimmten den „Alten“ in Rhöndorf nicht um. Im Gegenteil: Adenauers kühle Abneigung verwandelte sich allmählich in gnadenlose Verachtung.

Sollte Habeck einmal selbst Ambitionen auf das Amt des Regierungschefs haben, muss man ihm erst recht davon abraten, sich an der kurzen Kanzlerschaft Erhards zu orientieren. Der hatte seit 1959 jedes Interesse an Wirtschaftspolitik verloren und nur noch darauf gewartet, endlich Regierungschef zu werden. Als Kanzler verschlechterte er dann von Oktober 1963 bis November 1966 die von Adenauer sorgsam aufgebauten deutsch-französischen Beziehungen erheblich – nicht zuletzt durch seine Nibelungentreue gegenüber den USA. „Unsere amerikanischen Freunde“, so tönte Erhard, „bluten in Südvietnam für die ganze freie Welt.“

Von ihm selbst abgesehen, hielt kein CDU/CSU-Spitzenpolitiker Erhard 1963 für kanzlertauglich. Bei aller Dramatik stellte sich in der Union deshalb auch eine gewisse Erleichterung ein, als die FDP im Streit um den nächsten Bundeshaushalt im Oktober 1966 ihre Minister aus dem Kabinett zurückzog. Kurz darauf folgte die Große Koalition. Erhard saß zwar weiter im Bundestag. Vor allem aber sinnierte er bis zu seinem Tod am 5. Mai 1977 über jene finsteren Mächte, die ihn aus dem Kanzleramt getrieben hätten.

Doch warum war Erhard überhaupt Regierungschef geworden? Wieso hatte Adenauer seinen, wie er sagte, „unfähigen“ Wirtschaftsminister nicht schon längst entlassen? Die Antwort: Erhard war lange Zeit der populärste Politiker der Bundesrepublik und wurde im Wahlkampf als Zugpferd gebraucht. Wie aber erklärt sich seine Popularität trotz dürftiger politischer Bilanz?

Sie erklärt sich damit, dass es in der Bundesrepublik von 1951 bis 1965 keine ernsten ökonomischen Probleme gab. Die Wirtschaft boomte im Zeichen des sich selbst tragenden Aufschwungs, flankiert von der Exportoffensive. Weite Teile der Bevölkerung konnten ihren Wohlstand – trotz sinkender Lohnquote – steigern. Die Bürger dankten es ihrem „Professor Erhard“, obwohl dessen Politik daran kaum Anteil hatte. Freimütig räumte der Wirtschaftsminister im kleinen Kreis ein, er brauche für die Leitung seines Hauses „nur zehn Prozent meiner Arbeitskraft“.

Während Erhards „wortmächtige Wallungen“ Adenauer das Fürchten lehrten, hörte das Volk es gern, wenn das „Gesicht des Wirtschaftswunders“ gegen egoistische Gruppeninteressen zu Felde zog und für mehr Gemeinsinn warb. Ihm gelang es, die Bürger von den Vorteilen marktwirtschaftlicher Preisbildung gegenüber staatlichen Preisdiktaten zu überzeugen. Hinzu kam: Wichtige Wirtschaftsjournalisten stimmten regelmäßig Loblieder auf ihn an – die „Brigade Erhard“.

„Wohlstand für alle“ – die Bibel der Marktwirtschaft ist überschätzt

Zu ihnen zählte Handelsblatt-Redakteur Wolfram Langer. Er hatte Erhards 1957 erschienenen Bestseller „Wohlstand für alle“ geschrieben und wurde dafür mit der Leitung der Grundsatzabteilung im Wirtschaftsministerium belohnt. Später stieg er sogar zum Staatssekretär auf. „Wohlstand für alle“ gilt bis heute als Bibel der Sozialen Marktwirtschaft.

Aus ihr zitiert Friedrich Merz ebenso gern wie Sarah Wagenknecht. Dabei lässt sich die Botschaft in einem Satz zusammenfassen: Wohlstand wächst von allein, wenn der Staat den Wettbewerb schützt und keine Umverteilungspolitik betreibt. Das freilich klingt eher neoliberal als sozial.

Robert Habeck und Olaf Scholz (r.I)

Die Spannungen zwischen Erhard und Adenauer waren stark. Ob Habeck und Scholz besser harmonieren, wird sich noch herausstellen.

(Foto: Reuters)

Bert Rürup, Chef des Handelsblatt Research Instituts, spricht von einem „meinungsstarken, aber inhaltlich eher biederen Buch, mit dem Erhard den Wirtschaftsaufschwung für sich und im Wahljahr 1957 auch für die Union reklamieren wollte“. Anders als Alfred Müller-Armacks 1947 erschienene Schrift „Wirtschaftslenkung und Marktwirtschaft“, so Rürup, „bietet ,Wohlstand für alle‘ keine Grundlage für eine theoretische Fundierung der Sozialen Marktwirtschaft“. Tatsächlich hatte vor allem der Ökonom Müller-Armack das Wirtschaftskonzept schon seit den frühen 1930er-Jahren entwickelt, als Reaktion auf die Weltwirtschaftskrise. Ludwig Erhard, der angebliche „Erfinder“ der Sozialen Marktwirtschaft, hatte damit nichts zu tun.

In seinem politischen Leben vollbrachte Erhard eigentlich nur eine „historische“ Tat: Als Direktor der Verwaltung für Wirtschaft startete er im Juni 1948 zeitgleich mit der Währungsreform seine große Liberalisierungsoffensive: Schlagartig hob er das Bewirtschaftungssystem in der britischen und amerikanischen Besatzungszone weitgehend auf und führte die Marktwirtschaft ein. Obwohl es zunächst heftige Proteste gegen die stark steigenden Preise gab, beruhigte sich die Lage bald wieder. Schon zur Jahreswende 1949 zeichnete sich ab, dass Erhards ordnungspolitische Großtat und der Geldschnitt tatsächlich den Weg ins „Wirtschaftswunder“ ebnen würden.

Erhard erzählte seine Liberalisierungs-Heldengeschichte gern und oft. Seinen frühen Anteil am Geldschnitt aber ließ er lange unerwähnt. Warum? Die Antwort liefert Erhards Karriere im Zweiten Weltkrieg. Der Dr. rer. pol. leitete seit 1942 das kleine, aber feine Institut für Industrieforschung, finanziert von der Reichsgruppe Industrie. Erhard schrieb Studien über die „Verwertung des volksfeindlichen Vermögens“. Schon 1941 hatte er eine Expertise über den „neuen deutschen Ostraum“ verfasst, für die ihm Hermann Göring „meine ganz besondere Anerkennung“ aussprach. Um Aufträge zu akquirieren, suchte Erhard die Nähe zur Macht.

Seit 1944 arbeitete er mit Otto Ohlendorf zusammen, SD-Inland-Chef im Reichssicherheitshauptamt und stellvertretender Staatssekretär im Reichswirtschaftsministerium. 1941/42 hatte Ohlendorf in der Sowjetunion ein Massenmordkommando angeführt. Die Alliierten verurteilten ihn dafür in den Kriegsverbrecherprozessen zum Tode, 1951 wurde er gehängt.

Erhard kam mit dem „starken Mann“ im Wirtschaftsministerium gut ins Geschäft. Ihm muss klar gewesen sein, dass Ohlendorf zugleich auch Chef des SD-Inland war. Das wusste jeder aufmerksame Zeitungsleser. Unklar ist, ob Erhard auch über Ohlendorfs Einsatz als Leiter der Einsatzgruppe D in der Sowjetunion informiert war.

Deutschlands Wiederaufbau müsse „unter Führung und Initiative des Unternehmertums“ erfolgen, schrieb er Ohlendorf in einem Exposé – und forderte, in „der kritischen Situation“ des Geldschnitts müssten alle Forderungen nach Vermögensumverteilung konsequent abgewehrt werden. Das war das oberste Gebot! Ohlendorf empfing Erhard sogar zum persönlichen Gedankenaustausch.

Erhard, Lübcke und Adenauer (v.l.)

Ludwig Erhard gehörte dem Bundestag bis zu seinem Tod 1977 an.


(Foto: imago images/United Archives International)

Beide hielten das von Rüstungsminister Albert Speer forcierte System der Kommandowirtschaft für „total bolschewistisch“. Den Frieden sollte ein Gegenmodell prägen: Die von Müller-Armack entwickelte „staatlich und damit sozial gebundene Marktwirtschaft“. Dieses Konzept avancierte im Reichswirtschaftsministerium zum favorisierten Zukunftsmodell für die Friedenswirtschaft – in scharfer Abgrenzung von Speers lenkungswirtschaftlichem Kurs. Bevor die Marktwirtschaft etabliert werden konnte, musste jedoch ein Problem gelöst werden: die auf den Staatsbankrott zusteuernde zurückgestaute Inflation.

Die Legende vom Widerstandskämpfer gegen die Nationalsozialisten

Ausgehend von Erhards Denkschrift „Kriegsfinanzierung und Schuldenkonsolidierung“ entwickelten zwei mit hochkarätigen Industrievertretern und Wissenschaftlern besetzte Expertenzirkel, deren Arbeit Ohlendorf im Ministerium koordinierte, 1944 einen einseitigen Plan zur Währungssanierung: Rund 90 Prozent der privaten Ersparnisse sollten ersatzlos gestrichen, der Aktien- und Sachwertbesitz sollte hingegen durch eine nur der „sozialen Optik“ geschuldete kosmetische Vermögensabgabe geschont werden. Außenwirtschaftlich flankiert würde das Programm durch die Wiedereingliederung Deutschlands in die Weltwirtschaft und die ersehnte Exportoffensive.

Viele Mitglieder der NS-Expertenzirkel trafen sich 1947 in der von Erhard geleiteten Sonderstelle Geld und Kredit wieder, dem amtlichen deutschen Währungsreformgremium. Bis zum Geldschnitt im Juni 1948 gab es zwar noch einige Scharmützel mit angloamerikanischen Finanzoffizieren.

Letztlich aber gelang es den Deutschen, ihre Vorstellungen voll in die alliierten Währungsreformgesetze einfließen zu lassen: Am 20. Juni verloren die kleinen Sparer fast alles, für 100 Reichsmark gab es ganze 6,50 D-Mark. Aktien- und Sachwertbesitzer verloren beinahe nichts – zumal von dem erst 1952 verabschiedeten Lastenausgleichsgesetz keine spürbaren Umverteilungseffekte ausgingen.

Erhard schwieg nach Kriegsende über seinen frühen Anteil am Geldschnitt, weil er seine Nähe zur NS-Elite verbergen wollte. Gerüchte aber gab es immer wieder. Von Innenminister Hermann Höcherl zur Rede gestellt, musste der Kanzler 1964 kleinlaut einräumen, „im Dritten Reich auch für das Dritte Reich tätig gewesen“ zu sein.

Gleichzeitig verfolgte die „Brigade Erhard“ aber eine Gegenstrategie. Der „Spiegel“ schrieb schon 1953, Erhards Vergangenheit werde durch eine „unauffällige“ Teilnahme am Widerstand gegen den NS-Staat geadelt. Langer behauptete in der „FAZ“ später sogar, Erhard habe damals todesmutig „Kopf und Kragen riskiert“. Die Entwicklung von Plänen für die Nachkriegszeit, so das Argument, sei schließlich per „Führer“-Befehl verboten gewesen.

Das stimmt, doch gerade deshalb hielt ja mit Ohlendorfs Chef Heinrich Himmler kein Geringerer als der Reichsführer SS seine schützende Hand über die Nachkriegsplaner. Gerade deshalb war Ohlendorf ja ins Ministerium eingetreten. Niemandem aus den Zirkeln wurde in der NS-Zeit ein Haar gekrümmt. Erhard jedoch meinte sich schließlich zu erinnern, seine Denkschrift „in erster Linie“ für den Widerstandskämpfer Carl Goerdeler geschrieben zu haben, in dessen Hand ein Exemplar gelangt war.

Anders als Adenauer, dem die Nationalsozialisten übel mitspielten, war Erhard ein Profiteur des Regimes – zwar kein Nazi, aber ein Opportunist, dem es um Arbeitsaufträge ging. Ihn in einen Helden der NS-Zeit umzudeuten ist der wohl unappetitlichste Teil des Mythos. Schon deshalb sollte Wirtschaftsminister Habeck dem Gerede vom „grünen Erhard“ entschlossen entgegentreten.

Mehr: Mit Ludwig Erhard in die Ökonomie nach Corona

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