Bundesregierung verschiebt Wachstumschancengesetz

Berlin Dieser Mittwoch sollte der große Tag für Christian Lindner (FDP) werden. Gleich sechs Gesetze des Finanzministers standen auf der Planung des Bundeskabinetts, darunter eines, das ihm besonders am Herzen liegt: das Wachstumschancengesetz, das Steuererleichterungen für Firmen in Milliardenhöhe vorsieht.

Lindner wollte sein Paket auf großer Bühne verkaufen, der Saal der Bundespressekonferenz, in dem die gesamte Hauptstadtpresse zusammenkommt, war längst gebucht. Doch dann kam alles anders.

Familienministerin Lisa Paus (Grüne) legte völlig überraschend ihr Veto gegen Lindners Wachstumschancengesetz ein. Das Gesetz wurde nach Handelsblatt-Informationen aus Regierungskreisen in letzter Sekunde verschoben, die Pressekonferenz abgesagt. Lindner steht düpiert da, und mit ihm die gesamte Ampel-Koalition. „Keine Einigung. Verrückt“, sagte ein hochrangiger Regierungsvertreter fassungslos.

Der geplante Neustart der Bundesregierung nach der Sommerpause endet damit in einem Fehlstart, noch bevor die Sommerpause überhaupt offiziell zu Ende gegangen ist. Bei der ersten Gelegenheit, und dazu noch bei einer im Kern nicht umstrittenen Reform, blockiert sich die Ampel erneut selbst. Schlechter hätte der Start nach der Sommerpause nicht laufen können. Und die nächsten Monate geben wenig Anlass zur Hoffnung.

Lindner erklärte am Mittwoch nach dem Kabinett: „Es ist bedauerlich, dass heute ein Kabinettsbeschluss trotz des Einvernehmens mit dem Bundeswirtschaftsministerium nicht möglich war. Jede und jeder sollte wissen, dass alle sozialen Ausgaben ein starkes wirtschaftliches Fundament benötigen“, sagte er Deutschen-Presse-Agentur. „Auch Familien mit Kindern benötigen gute Arbeitsplätze.“ Eine Einigung wolle die Regierung nun bei der Kabinettsklausur in Meseberg Ende des Monats erzielen.

Die Sommerpause sollte Besserung bringen

In den vergangenen Monaten hatte sich die Ampel-Koalition insbesondere wegen des Heizungsgesetzes zusehends zerlegt. Nach der Sommerpause wollten die drei Koalitionspartner wieder mehr an einem Strang ziehen. Noch am Sonntag hatte Bundeskanzler Olaf Scholz im ZDF-Sommerinterview gesagt, er habe „auch den Eindruck, dass über den Sommer sich viele vorgenommen haben, das genau zu ändern“.

Familienministerin Paus gehört aber offenbar nicht zu diesen „vielen“. Seit Monaten liefert sie sich mit Finanzminister Lindner einen Streit darüber, wie viel die Einführung einer Kindergrundsicherung kosten soll, für die sie die Federführung trägt.

Während Paus die Kosten auf mindestens sieben Milliarden Euro taxiert, hatte Lindner in seiner Finanzplanung vorerst nur zwei Milliarden für die Reform, die 2025 in Kraft treten soll, reserviert. Zum großen Ärger von Paus – die beim Wachstumschancengesetz nun offenbar die Möglichkeit zur Revanche sah.

Paus’ Vorstoß war nicht abgestimmt

Nur einen Tag bevor das Wachstumschancengesetz vom Kabinett beschlossen werden sollte, und nachdem bereits auch Wirtschaftsminister Robert Habeck dem Gesetz intern seinen Segen gegeben hatte, legte Paus‘ Haus plötzlich einen Leitungsvorbehalt gegen das Gesetz ein, wie das Handelsblatt am Dienstag exklusiv berichtete. Der Leitungsvorbehalt ist ein Veto, ein Stoppschild in den internen Verfahren der Bundesregierung, bevor ein Gesetzesentwurf ins Kabinett kommt, verabschiedet wird und dann in den Bundestag gelangt.

Paus hält die geplanten Entlastungen für die Wirtschaft von rund sechs Milliarden Euro für unangemessen, solange Lindner nicht bereit sei, mehr Geld für arme Kinder bereitzustellen. Deshalb: Veto.

Lindner, Habeck und Scholz

Der geplante Neustart der Bundesregierung nach der Sommerpause endet in einem Fehlstart, noch bevor die Sommerpause überhaupt offiziell zu Ende gegangen ist.

(Foto: dpa)

Die anderen Kabinettsmitglieder wurden von Paus‘ knallhartem Vorgehen kalt erwischt. Finanzminister Lindner, aber auch Paus‘ Parteifreund Robert Habeck, der als Vizekanzler die grünen Ministerien koordiniert.

Habeck erfuhr im Urlaub vom Veto seiner Parteikollegin. Die Verhandlungen in Berlin führt aktuell seine Staatssekretärin Anja Hajduk. Aus Habecks Umfeld ist zu hören, dass der Vorstoß der Familienministerin nicht mit dem Wirtschaftsministerium abgestimmt war.

>> Lesen Sie hier: Wie es zu Paus’ Blockade am Dienstag gekommen war

Jetzt stehe Habeck schon „ein bisschen dumm“ da, sagt jemand aus seinem Umfeld. Mit Blick auf die konjunkturelle Lage müsse die Regierung liefern, es brauche mehr Wachstumsdynamik für die deutsche Wirtschaft. Dafür seien die Maßnahmen im Gesetz längst nicht perfekt, aber grundsätzlich richtig. Und deshalb stehe man gerade als Wirtschaftsministerium dahinter.

Auch andere Grüne zeigten sich überrascht. Das Familienministerium habe bereits in der vergangenen Woche Bedenken am Wachstumschancengesetz angemeldet, hieß es aus der Partei. Dass Paus aber einen Leitungsvorbehalt einlege, war nicht abzusehen. „Wir können uns kein zweites Heizungsgesetz leisten“, heißt es. In Habecks Umfeld hieß es, es sei schwer denkbar, dass das Gesetz nicht bald komme.

Kritik an Lindners Vorgehen

Von einem völligen Alleingang seitens Paus will man aber auch niemand bei den Grünen nicht sprechen. Aus der Logik des Wirtschaftsministeriums sei es nicht das richtige Vorgehen, aus Perspektive der Grünen handle Paus aber logisch. Die Kindergrundsicherung habe weiter hohe Priorität, und auch Habeck setze sich dafür weiter intensiv ein.

Paus’ Vorgehen sei keine bloße Provokation. Vielmehr habe Finanzminister Lindner selbst zu der Eskalation beigetragen, als er im Frühsommer erstmals Vorschläge für steuerliche Entlastungen der Wirtschaft machte. Das sei nicht abgestimmt gewesen, hieß es aus Habecks Umfeld.

>> Lesen Sie hier: Höhere Investitionsprämie? Ampel streitet über neue Finanzierungswege für Steuerentlastungen

Lindner habe mit seinen Ankündigungen in der Öffentlichkeit aber die Erwartung gesetzt, dass es zu Steuerentlastungen kommt. Und damit auch, dass der Bund das Geld dafür zur Verfügung stellt, während gleichzeitig nicht das notwendige Geld für die Kindergrundsicherung da sei, zeigt man sich im Umfeld des Wirtschaftsministeriums erbost. „Lindner zeigt sich bei Unternehmen großzügig und streicht für soziale Vorhaben Mittel“, beschreibt eine Grünen-Abgeordnete die Lage. „Da können wir nicht einfach so mitgehen.“

Bundesfamilienministerin Lisa Paus

Die Kindergrundsicherung soll bisherige Leistungen wie Kindergeld, die Bürgergeldzahlungen, den Kinderzuschlag sowie Leistungen aus dem Bildungs- und Teilhabepaket bündeln.

(Foto: IMAGO/Political-Moments)

Hinzu komme: Bei den Grünen sei die Macht auch nicht so einseitig verteilt wie bei SPD und FDP: Scholz und Lindner würden vielleicht so handeln, dass ihre Zustimmung für die ganze Partei gesetzt ist. Bei den Grünen sei es gewollt, dass Regierungsmitglieder auch eine andere Sicht als Habeck haben könnten. „Wir sind eben keine Ein-Männer-Partei“, hieß es.

Vermengung verschiedener Themen

Es ist nicht das erste Mal, dass Paus querschießt. Schon kurz vor der Sommerpause hatte sich die Haushaltsaufstellung für 2024 verzögert, weil die Familienministerin bis zuletzt um mehr Mittel für die Kindergrundsicherung kämpfte.

Ging es damals aber tatsächlich ums Geld, vermengt Paus ihre Kindergrundsicherung dieses Mal mit einem anderen Vorhaben. Paus hat sich offenbar vorgenommen, mit allen Mitteln einen Grundsatzstreit mit Lindner auszufechten: Wenn er Milliarden zur Entlastung der Wirtschaft bereitstellt, dann muss auch Geld für bedürftige Kinder da sein.

War die FDP schon vorher von Paus entnervt, sind die Liberalen jetzt endgültig bedient. Paus nehme Ampel-Projekte in „ständige Geiselhaft für noch mehr Sozialstaat“, zeterte FDP-Fraktionsvize Christoph Meyer. „Lisa Paus‘ Verhalten schadet dem Standort Deutschland. Das Manöver der Grünen ist eine Belastung für das Vertrauen der Wirtschaft in die Ampel-Politik. Robert Habeck ist aufgefordert, seiner Kollegin die Dringlichkeit zu erklären, sonst wird die Blockade zu Problem für den Wirtschaftsminister.“

>> Lesen Sie hier: Sechs ungelöste Problemfälle: Worüber sich die Ampel nach dem Heizungsgesetz streitet

Der Ärger ist auch so groß, weil das Wachstumschancengesetz eigentlich längst zwischen Habeck und Lindner geeint war. Das Gesetz sieht ein ganzes Bündel von Erleichterungen für die Wirtschaft vor. Über verschiedene neue Abschreibungsmöglichkeiten und eine so genannte „Investitionsprämie“ will die Ampel Unternehmen Investitionen erleichtern. Gegenüber Lindners ursprünglicher Planung nahmen SPD und Grüne einige Korrekturen an dem Steuerpaket vor.

Habeck verhandelte die degressive Abschreibung rein

Ursprünglich war die Investitionsprämie für Energieeffizienz-Maßnahmen das Herzensprojekt der Grünen. Die hatte Lindner in seinem Entwurf aber nur in äußerst kleiner Form abgebildet. In den regierungsinternen Verhandlungen machte Habeck eine größere Prämie aber nicht zu seiner Kernforderung. Theoretisch sei das das beste Instrument, eine Ausweitung aber auch mit weiterer Bürokratie verbunden und mit Lindner nur schwierig zu machen, heißt es aus dem Umfeld des Wirtschaftsministers.

Stattdessen brachte Habeck die degressive Abschreibung in die Verhandlungen ein. Die degressive Abschreibung ist zwar nicht auf grüne Investitionen zugeschnitten. Trotzdem warb Habeck dafür, weil sie generell gut für den Anreiz von Investitionen sei – und damit deutlich besser als ein anderes Instrument, das Lindner vorgeschlagen hatte: den Verlustvortrag, bei dem aktuelle Verluste mit Gewinne aus der Vergangenheit steuerlich verrechnet werden können.

Auch Kanzler Scholz habe das unterstützt. Der hatte bereits in seiner Zeit als Finanzminister die degressive Abschreibung einmal vorübergehend eingeführt. Scholz war zufrieden, Habeck zufrieden, Lindner konnte mit den Änderungen leben – nur Paus nicht mit dem Gesamtpaket.

Bundeskanzleramt

Bis zur letzten Sekunde wurde verhandelt, doch das Kabinett konnte am Mittwoch im Kanzleramt nicht wie geplant das Gesetz verabschieden.

(Foto: imago images/Bernd Elmenthaler)

Für die Ampel ist der Vorgang auch deshalb brisant, weil ausgerechnet die Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit den Arbeitsschwerpunkt der Ampel in den kommenden Monaten bilden soll. Ende August will die Ampel bei der Sommer-Kabinettsklausur ein Programm entwickeln, was gegen den Wirtschaftsabschwung getan werden kann. Doch der Streit um das Wachstumschancengesetz zeigt, wie groß die Unterschiede schon bei kleineren Reformvorhaben sind.

Denn eine Kritik der Grünen und der SPD ist, dass das Wachstumschancengesetz mit rund sechs Milliarden Euro vom Volumen her eigentlich viel zu klein.

Damit stößt die Ampel aber absehbar auf den nächsten Streitpunkt: die Schuldenbremse. Denn jede künftige Maßnahme gegen den Abschwung darf kein Geld kosten, wenn die Koalition wie vereinbart die Schuldenbremse einhalten will.

Mehr: Wachstumschancengesetz – So will Lindner Unternehmen entlasten

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