„Bei 3 Milliarden Gamern täglich muss sich ein Museum dieses Themas annehmen.“

Düsseldorf Frau Stoschek, der Krieg in der Ukraine überschattet alles. Sie haben 2008 im Museum des Oligarchen Victor Pinchuk in Kiew Teile Ihrer Sammlung von Medien- und Videokunst ausgestellt. Haben Sie noch Verbindungen zur ukrainischen Kunstszene?
Ich bin erschüttert über den völkerrechtswidrigen Einmarsch Russlands und die humanitäre Katastrophe. Aktuell habe ich keinen Kontakt in die Ukraine. Pinchuk setzt sich sehr stark für die zeitgenössische Kunst in der Ukraine ein, der von ihm ausgelobte Future Generation Art Prize ist einer der renommiertesten für aufstrebende Künstler weltweit. Als wir 2008 für die Ausstellung in Kiew waren, hatten wir täglich fast 5000 Besucher. Die junge, liberale Kunst- und Kulturszene, die ich dort kennenlernen durfte, hat mich begeistert. An sie muss ich besonders denken, wenn ich die Bilder des Krieges sehe.

Nun fehlen die Oligarchen im Kunstmarkt. Leute wie Roman Abramowitsch, der für 86 Millionen Euro ein Bild von Francis Bacon kaufte oder wie Wladimir Potanin, der das Guggenheim-Museum in New York beriet.
Mich beschäftigt das nicht. Was ich liebe und betreibe ist sehr weit entfernt von der Kunst, die im Allgemeinen von Oligarchen gekauft wird. Als Kunstkäufer werden russische Milliardäre wahrscheinlich ebenso wegfallen wie als Immobilienkäufer. Das betrifft den Sekundärmarkt.

Sie sind Kunstsammlerin und aktive Mitgesellschafterin des Automobilzulieferers Brose in Coburg. Welche Auswirkungen hat der Krieg auf Ihr Metier?
Für die Autoindustrie ist das die schwerste Krise, die wir je hatten. Nach Corona und der Halbleiterkrise kommt jetzt die gravierende Störung der Lieferkette hinzu. In der Gesellschaft sind Kunst und Kultur in dieser bedrückenden Gesamtlage Rettungsinseln und Reflexionsräume, auch als Trostspender. Als Corona ausbrach, wurden Museen zunächst mit Vergnügungsetablissements wie Bordellen verglichen. Die darüber entstehende gesellschaftliche Debatte über den Wert der Kunst für die Gesellschaft hat unsere Arbeit in meinen Augen gestärkt. Mit der Sammlung machen wir hochpolitische Ausstellungen wie zuletzt in Berlin „A Fire In My Belly“ über Themen wie Gewalt, Faschismus und Rassismus. Unsere kommende Show „at dawn“ in Berlin wird ein utopischer Fluchtpunkt sein, etwa mit traumwandlerischen Installationen des jungen amerikanischen Künstlers Jacolby Satterwhite.

Die Julia Stoschek Collection ist vor 15 Jahren entstanden. Sie hat inzwischen Weltrang. Was planen Sie zum Jubiläum?
Eine Ausstellung zum Thema Gaming. Drei Milliarden Menschen haben täglich in irgendeiner Form damit zu tun. Gaming hat die Gesellschaft durchdrungen wie kein anderes Phänomen. Kuratiert wird „WORLDBUILDING“ von einem der international wichtigsten Kuratoren der letzten Jahrzehnte, Hans Ulrich Obrist. Er ist mit der Fragestellung angetreten, inwieweit die Spielewelt und die Kunstszene sich gegenseitig beeinflussen.

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Cao Fei „i.Mirror by China Tracy (AKA: Cao Fei)“

Chinas wichtigste Videokünstlerin ist mit dabei in in der Gaming-Ausstellung „WORLDBUILDING“ in Düsseldorf. Quelle: JSC / Creative Vitamine Space, Guangzhou

Und was folgt daraus?
Wir haben etwa frühe Arbeiten von Elaine Sturtevant, Peggy Ahwesh oder Cory Arcangel in der Sammlung, in denen zum Beispiel das Kult-Videospiel Pacman appropriiert oder das Computerspiel Tomb Raider feministisch angeeignet wird. Darüber hinaus zeigen wir überwiegend neue Arbeiten von jungen Künstlerinnen und Künstlern, die Computerspiele ganz selbstverständlich in ihre künstlerischen Arbeiten einbeziehen.

Feuilletonisten schauen eher kulturpessimistisch auf Games.
Das wird gerade glücklicherweise überwunden. Dazu hat auch die Lockdown-Phasen beigetragen. In den virtuellen Ersatzwelten des Metaverse sitzen nicht mehr nur Nerds, sondern auch Unternehmensberater. Ich persönlich tauche jetzt auch tiefer ins Thema ein. Unsere Gaming-Ausstellung wird anderthalb Jahre laufen, die Arbeiten werden sich über die Dauer verändern und weiterentwickeln. Wie Videospiele. Die Show ist fluide.

Julia Stoschek Collection

Sie wollen ein junges Publikum anziehen, das für eine Bilderausstellung nicht ins Museum käme?
Ja. Bei so vielen Usern weltweit, muss man sich dieses Themas einfach annehmen. Es wäre großartig, darüber Menschen erstmals ins Museum zu locken.

Erscheint Ihre Sammlung bald im Metaverse, mit einem Avatar von Julia Stoschek? Und wird man sich dort über Token, also mit NFTs, an Ihrer Kunst beteiligen können?
Das ist eine Entwicklung, die wir intensiv beobachten und leidenschaftlich diskutieren, auch in unserem neuen Beirat, dem Advisory Board. Dessen Mitglieder bringen mir in strategischen Fragen Inspiration und Expertenwissen. NFTs sind bisher in erster Linie eine Buchhaltungstechnologie für digitale Objekte, um mit ihnen gesichert Handel betreiben zu können. Das ist der Beginn einer Veränderung, vor allem aber für den Kunstmarkt. Wenn wir uns zum 25-jährigen Jubiläum wiedersehen, reden wir noch mal über ganz andere Entwicklungen.

Sie glauben, dass Virtual Reality (VR) die Kunst stark verändert?
In der Kunstgeschichte haben neue technologische Bedingungen immer zu veränderter Formensprache geführt. VR entwickelt sich derzeit enorm weiter, bietet eine plastische Dreidimensionalität und Interaktion. Das kann reizvoll sein. Bisher genießt man VR allerdings noch allein. Mir fehlt an der Stelle die gemeinschaftliche Erfahrung von Kunst und der Austausch. Aber auch das wird bald technisch möglich sein.

Jeremy Shaw „I can see forever“

In der Zweikanal-HD-Videoinstallation löst sich die menschliche Figur in packenden Bildern auf und entsteht neu. Quelle: JSC / König Galerie, Berlin

Zum Jubiläum werden Sie abends Videokunst auf der Straße zeigen, auf einer 112 Meter langen LED-Wand in Düsseldorf. Ein Akt der Popularisierung?
Ich bin angetreten, die Videokunst zugänglich zu machen. Für das Projekt „Out of Space“ verlässt die Kunst jetzt die Ausstellungsräume und präsentiert sich den Bürgerinnen und Bürgern im öffentlichen Raum. Es handelt sich um ein Projekt unseres Weiterbildungsprogramms für den internationalen Nachwuchs an Kuratoren. Unser Stammhaus hier in Düsseldorf-Oberkassel wird im Innenhof mit einer Arbeit von Tony Oursler angestrahlt. Sie haben wohl noch nie eine so große Hand unser Gebäude streicheln sehen.

Ist dieses Kunsthaus, in das Sie viele Millionen gesteckt haben, noch Ihre „Burg“, wie Sie das nannten?
Sie ist das Herz der Sammlung und hat nichts von seiner Strahlkraft verloren, selbst wenn ich inzwischen in Berlin lebe und auch dort ausstelle. Berlin ist unser Satellit, die Räume dort gehören nicht mir, sondern der Bundesimmobilienanstalt, also dem Bund. Derzeit verhandeln wir über einen neuen Mietvertrag. Das Objekt soll renoviert werden. Manches dauert in Berlin eben etwas länger.

Sind weitere Standorte denkbar?
Vor ein paar Jahren habe ich mit Los Angeles geliebäugelt. Jetzt war ich zur Frieze-Messe dort und bin erschüttert, wie offensichtlich die Spaltung des Landes geworden ist. Viele Orte der Begegnung haben mittlerweile dauerhaft geschlossen, vor den Geschäften am Sunset Boulevard stehen bewaffnete Sicherheitskräfte. Amerika hat Corona leider nicht gut überstanden.

Inzwischen kann man einige Ihrer Kunstwerke auch online am eigenen Rechner sehen. Ist das erstrebenswert?
Es gibt keinen Grund, den Zugang zu einer Kunstform zu beschränken, für die in ihrer einfachsten Form nur die Endgeräte benötigt werden, die wir täglich nutzen. Auf unserer Webseite www.jsc.art können Sie recherchieren, neue Künstler und Künstlerinnen entdecken sowie Werke vor- und zurückspulen. Ihre Lieblingsarbeiten können Sie so oft ansehen, wie Sie möchten. Videokunst ist ein demokratisches Medium, das ohne sichtbaren Verlust unendlich reproduziert werden kann. Ich stelle diese Kunst mit der Zustimmung der Künstler und Künstlerinnen und mit Wasserzeichen online, ohne Bezahlschranke und zeitliche Beschränkung. Wir erreichen so monatlich mindestens 10.000 Unique User. Die Website wird aber niemals den Ausstellungsbesuch ersetzen.

Stimmt es eigentlich, dass die zeitbasierte Medienkunst nur fünf Prozent des gesamten Kunstmarkts ausmacht?
Der Anteil liegt auf jeden Fall unter zehn Prozent. Eine Sammlertätigkeit aus Investitionsgründen – günstig kaufen, teurer verkaufen – war nie ein Ansporn für mich. Außerdem gibt es keinen ernstzunehmenden Markt für zeitbasierte Kunst. Mit Blick auf die Versicherungssummen nehme ich mit Genugtuung zur Kenntnis, dass der Wert der Sammlung jährlich steigt. Über die konkrete Summe möchte ich nicht reden. Es würde sich wohl auch keine Institution den ganzen technischen Aufwand der Archivierung und Konservierung antun wollen.

Frances Stark „My Best Thing“

Dieses Video von 2011 wird in der kommenden Düsseldorfer Ausstellung zu sehen sein. Ihr Thema: Wie sich Computerspiele und Video-Kunst gegenseitig beeinflussen. Quelle: JSC / Gladstone Gallery New York

Sie bleiben also ewig dabei.
Ich will weitermachen. Wir sind erst 15 Jahre alt, also richtige Teenager. Der Bereich der zeitbasierten Kunst hat sich in der Zeit wahnsinnig entwickelt, dazu haben wir einen großen Beitrag geleistet. Früher waren in Gruppenausstellungen bestenfalls ein, zwei Werke Richtung Ausgang, nahe der Toilette, auf einem Monitor installiert. Mittlerweile hat das Museum of Modern Art in New York die Abteilung „Media and Performance“ eingeführt. Das Medium ist angekommen. Es ist der künstlerische Ausdruck unserer Zeit…

…und für Sie so faszinierend wie früher oder nur noch Routinearbeit?
Wo denken Sie hin? Videokunst verhandelt die wichtigsten Themen unserer Gegenwart und Zukunft auf hochpolitische Weise. Routine ist da kein Register.

Kunst zum „Angeben“ lehnen Sie ab?
Absolut. Mit einer Drei-Kanal-Installation im Wohnzimmer lässt sich nicht so gut Eindruck machen wie mit einem Andy Warhol. Ich mag Kunst zum Anregen und interessiere mich stets für Bereiche, die noch unbesetzt sind.
Ihr Selbstmarketing als „philantropische Produzentin“ würde etwas anderes auch nicht erlauben.
Die Kunstwelt ist ein gesellschaftsrelevantes Ökosystem, in dem die Akteure untrennbar miteinander zusammenhängen: Institutionen, Galerien, Künstler, Kunstkritik und Sammler. In mehr als 40 Ausstellungen mit mehr als 500.000 Besuchern haben wir sehr produktiv zum Florieren dieses Ökosystems beigetragen.

Ihre Sammlung wird stets mit Videokunst assoziiert…
…was nicht ganz stimmt. Die Bandbreite unserer Sammlung, von Fotografien und Skulpturen bis hin zur Performance, ist recht groß.

Auf der Website der Julia Stoschek Collection publizieren Sie inzwischen, dass Ihr Familienunternehmen Brose im „Dritten Reich“ enge Verbindungen zum Nazi-System hatte. Eine Reaktion auf den TV-Satiriker Jan Böhmermann, der sich im ZDF der Sache öfters angenommen hat?
Von der Sendung habe ich gehört, aber noch nie eine gesehen.

>> Lesen Sie hier: Medienkunst zwischen Gewalt und Befreiung

Es gibt in Coburg andauernd Streit mit Ihrem Vater Michael Stoschek. Er hat sogar den goldenen Ehrenring der Stadt zurückgegeben. Hat sich Ihr Verhältnis zur Heimat verändert?
Nein. Das ist mein Geburtsort, meine Familie lebt dort und es ist der Stammsitz des Unternehmens. Ich bin sehr gerne zu Besuch und kann mir auch das ein oder andere Engagement mit der Sammlung dort vorstellen. Die Gegend ist traumhaft schön und die Herzlichkeit der Oberfranken absolut ehrlich. Das hat mich geprägt.

Wie involviert sind Sie persönlich ins Unternehmen Brose?
Mein Vater ist weiterhin Sprecher der Gesellschafterversammlung. Ich fungiere nach wie vor als aktive Gesellschafterin. Ob sich das künftig ausweitet, kann ich nicht sagen. Mein Vater ist seit vielen Jahren damit beschäftigt, alle Kinder der vierten Generation für die Zukunft ordentlich vorzubereiten. Das betrifft meinen Bruder, meine Cousine und mich. Viele Jahre hat das Unternehmen derart gut gewirtschaftet, dass wir diese Krisenzeit jetzt gut durchstehen werden.

Problemzeiten wie jetzt: die Arbeitnehmer verzichten auf Gehalt, die Gesellschafter auf Dividende.
Dass Arbeitgeber und Arbeitnehmer in solchen Zeiten auf eigene Ansprüche verzichten, zeichnet ein Familienunternehmen aus. 2021 haben wir erstmals in der Nachkriegsgeschichte einen Verlust gemacht. Ich bin aber sehr zuversichtlich, dass wir aus diesem Tal wieder herauskommen. Grundsätzlich sind wir auf Zukunftsfeldern aktiv, nämlich im Komfortbereich des Automobils. Egal ob Verbrenner, Elektroantrieb oder autonomes Fahren, für unsere Produkte ist nicht der Antrieb entscheidend. Fenster, Türen und Sitzsysteme werden auch Zukunft benötigt werden.

Könnte Ihnen ohne Dividende das Geld ausgehen für Ihre Kunstkollektion?
Die Lage in Coburg betrifft auch mich. Für die Sammlung habe ich einen festen Budgetplan. Der ist mit viel Herzblut, Leidenschaft, Zeit und Geld verbunden.

Es wird also anstrengender.
Ich kenne Sammler, die schon nach ein paar Jahren mit dem Ausstellungsmachen aufgehört haben. Ein langer Atem gehört dazu. Natürlich merke ich auch die Anstrengungen der letzten 15 Jahre. Aber ich würde alles genauso wieder machen.

Frau Stoschek, vielen Dank für das Interview.

Mehr: Wie aus Schloss Derneburg ein Hotspot für Kunst wird

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