Wie die Alterung Deutschlands Innovationen bremst – und was sich dagegen tun lässt

Berlin Mathilde Vossen*, 82, hat ihr Berufsleben lang als technische Zeichnerin gearbeitet – auch mit dem Computer. Heute bereut sie vor allem eins: „Dass ich das mit dem Computer in der Rente nicht weiterverfolgt habe.“ Das hat Folgen für die kinderlose Witwe: Obwohl sie in einer Großstadt wohnt, in der es jede Menge Lieferdienste gibt, kauft ihre Putzfrau für sie ein.

Wenn sie nicht die Kraft hat, selbst zu kochen, geht sie in eine Gaststätte. Essen per App bestellen kann sie nicht. Ein großes Problem sind auch Arzttermine: „Oft hänge ich ewig in der Warteschleife, bevor ich telefonisch einen Termin machen kann.“

Menschen wie Mathilde Vossen gibt es Millionen in Deutschland. Die Bundesrepublik ist eine der ältesten Gesellschaften der Welt, nur Japan und Italien sind älter. Das Medianalter, das die deutsche Bevölkerung in zwei Hälften teilt, beträgt 45 Jahre. Viele Industrieländer sind weit jünger: Die Briten im Schnitt knapp 40, US-Amerikaner sogar nur 38 Jahre alt. Afrikanische Gesellschaften haben oftmals sogar ein Medianalter von unter 20.

Ein hohes Bevölkerungsalter birgt nicht nur große Lasten für das Renten- und Gesundheitssystem – es mindert auch die Innovationskraft einer Volkswirtschaft. Weil Nachwuchs fehlt, aber auch weil die Fähigkeiten der vielen Älteren nachlassen. Denn ältere Beschäftigte sind nicht nur weniger innovativ, viele fallen wie Mathilde Vossen auch als Konsumenten digitaler Angebote aus.

Doch es gibt Gegenstrategien – die die Politik laut Experten rasch anwenden sollte, wenn Deutschland bei der Innovationskraft nicht weiter den Anschluss verlieren will.

Nur Japaner und Italiener sind älter als die Deutschen 

Das hohe Alter der Deutschen stellt die Wirtschaft nicht nur wegen des Fachkräftemangels vor Probleme. Zwar sind auch ältere Erwerbstätige noch innovativ, nicht zuletzt weil sie die Früchte ihrer Erfahrung ernten. Doch Ökonomen gehen davon aus, dass die Arbeitsproduktivität ab Mitte 40 tendenziell sinkt. Die höchste Patentierungsrate haben laut US-Daten zufolge Männer Anfang 40 und Frauen Ende 30.

Zudem sind Patente Älterer tendenziell weniger disruptiv: Sie ermöglichen also seltener völlig neue Produkte oder Technologien, sondern verbessern eher die vorhandenen. „Die generelle Schwäche Deutschlands bei den radikalen Neuerungen dürfte sich durch die Alterung also eher noch verschärfen, was gerade im aktuellen transformationsbedingten Strukturwandel problematisch ist“, sagt Guido Bünstorf, Mitglied der „Expertenkommission Forschung und Innovation (EFI)“ der Bundesregierung.

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Eine einfache Gegenstrategie in Unternehmen sind altersgemischte Teams. Arbeiten junge Kreative und erfahrene Ältere zusammen, bringen sie laut EFI „mit höherer Wahrscheinlichkeit Innovationen hervor“. 

US-Daten zeigten zudem, dass altersgemischte Teams auch Innovationen mit größerer Tragweite produzieren. Allerdings zeigen Daten für deutsche Arbeitnehmer, dass gemischte Teams umso weniger innovativ sind, je höher der Altersdurchschnitt ist. Die Teams altern jedoch fast zwangsläufig, je knapper der Nachwuchs wird.

Senioren in Leipzig

Wer das Internet nicht nutzen kann, bleibt auch bei digitalen Geschäftsmodellen außen vor.

(Foto: dpa)

Auch die Politik kann einiges tun. Die einfachste Lösung ist, ältere Menschen so lange wie möglich im Erwerbsleben zu halten. Dafür müsse die Bundesregierung Arbeiten im Alter aber attraktiver machen, fordern Experten der EFI. Nicht nur mit erleichtertem Zuverdienst zur Rente, wie ihn die Ampel bereits beschlossen hat, sondern auch mit mehr Möglichkeiten für Arbeitgeber, sie befristet einzustellen. 

Daneben müssten Ältere so gut wie möglich weitergebildet werden. Hier geht es „vor allem um Digitalkompetenz, die die Produktivität Älterer maßgeblich erhöht“, sagt Oliver Falck, Ökonom am Ifo-Institut, der sich mit Innovationen beschäftigt.

Nur jede vierte Person ab 60 Jahren kann gut mit dem Computer umgehen 

Obwohl mehr Digitalkompetenz im überalterten Deutschland besonders nötig wäre, gelingt Weiterbildung besonders schlecht. Das zeigt der jährlich erneuerte Digital-Index der Initiative D21, ein Thinktank, der zusammen mit Unternehmen und Institutionen zur Digitalisierung forscht. Auch weil Ältere tendenziell seltener Angebote erhalten: Beschäftigte, die eine Weiterbildung nutzen, sind in der Mehrheit unter 50.

Eine Folge: Nur knapp jede vierte Person ab 60 Jahren attestiert sich gute oder sehr gute Kenntnisse im Umgang mit dem Computer, mit dem Smartphone können nur 22 Prozent gut umgehen. Das zeigen Zahlen aus einer Studie zur Mediennutzung älterer Menschen.

Und auch ältere Beschäftigte sind nach den Untersuchungen von Ifo-Ökonom Falck nicht grundsätzlich digital versiert: Von den 55- bis 65-Jährigen haben nur knapp zwei Drittel digitale Basisfähigkeiten wie etwa Informationen finden, Textprogramme nutzen, Fotos verschicken oder Funktionen des Smartphones anpassen. In Schweden, Dänemark und den Niederlanden waren es mehr als drei Viertel dieser Altersgruppe, in Neuseeland sogar mehr als 80 Prozent. 

Um die Innovationskraft der Beschäftigten zu steigern, sei „eine proaktive Weiterbildungspolitik entscheidend, um vor den Trend zu kommen“, sagt Enzo Weber vom bundeseigenen Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung. Dabei gehe es nicht um Anpassungsqualifizierung, sondern um vorausschauende Kompetenzentwicklung. „Das muss stärker sowohl auf die betriebliche als auch die politische Agenda.“

Frau am Computer

Ältere Menschen fallen als Nutzer digitaler Angebote aus, wenn sie digitale Grundlagen nicht beherrschen.

(Foto: DigitalVision/Getty Images)

Neben den älteren Berufstätigen könnten auch Millionen Rentner eine zentrale Rolle für die Innovationskraft Deutschlands spielen. Dazu müsste man jedoch „ihre Fähigkeit und Bereitschaft zur Nachfrage nach Innovationen stärken“, mahnt EFI-Mitglied Bünstorf.

Das jedoch geht nur, wenn die im Vergleich zu den Jüngeren noch größeren Digitallücken der Senioren geschlossen werden: Die D21-Zahlen zeigen, dass von den rund 16 Millionen Menschen ab 67 mindestens sieben Millionen Menschen digital nicht erreichbar sind. Sie können weder im Netz einkaufen noch Online-Sprechstunden, Medizin-Apps oder E-Rezepte nutzen, nicht einmal einen Arzttermin buchen.

Damit brechen sie als digitale Konsumenten weg. Zugleich reduzieren ihre Defizite den Nutzen der digitalen Gesundheitsversorgung deutlich, denn diese Patienten fallen auch als wertvolle Datenlieferanten für eine bessere Medizin aus. 

Kanada hat in kurzer Zeit 400.000 Menschen digital geschult – vor allem Ältere 

Andere Länder sind längst aktiv: So hat Kanada 2018 ein Programm aufgelegt, um Digitalkompetenzen vor allem Älterer zu stärken. Bis 2022 wurden mehr als 400.000 Menschen erreicht – mehr als ein Prozent der Bevölkerung. 2022 verlängerte die Regierung das Projekt.

Auch in der Digitalstrategie der Bundesregierung findet sich das Ziel, den „souveränen Umgang mit dem Digitalen im Alter stärken“ – auch, um so die „Innovationskraft unseres Landes zu sichern“. Konkrete Programme kann das Haus von Digitalminister Volker Wissing (FDP) allerdings nicht nennen. Der „Digitalpakt Alter“ von Familienministerin Lisa Paus (Grüne) finanziert immerhin Beratung. Im ersten Jahr wurden aber nur 10.000 ältere Menschen erreicht. 

Die EFI schlägt vor, der Staat solle „die überfällige Digitalisierung der öffentlichen Verwaltung unmittelbar mit umfassenden Unterstützungsangeboten bei der Nutzung der digitalen Dienste für Ältere verbinden“. Nutznießer dessen wären am Ende alle: Staat, Wirtschaft – und Senioren wie Mathilde Vossen. 

*Name geändert

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