Ukraine sagt die für Herbst geplanten Parlamentswahlen ab

Ukrainerinnen beim Schießtraining

Der Krieg hat das Land in einen permanenten Ausnahmezustand versetzt.

(Foto: ddp/abaca press)

Wien Das ukrainische Parlament hat am Donnerstag den Kriegszustand bis Mitte November verlängert. Damit entschieden die Abgeordneten der Werchowna Rada, dass es im Herbst keine Wahlen geben wird. In Friedenszeiten hätten diese im Oktober stattfinden sollen, Präsidentschaftswahlen wären dann Ende März 2024 fällig gewesen.

Wie und ob das Land solche Urnengänge inmitten eines allgemeinen Verteidigungskriegs abhalten soll, bleibt unbeantwortet. Für die russische Propaganda ist die sich schon länger abzeichnende Entscheidung ein willkommener Vorwand, um angebliche autoritäre Tendenzen anzuprangern.

„Der größte Demokratie-Aktivist der Welt, Feldmarschall Selenski, scheint die Demokratie in der Ukraine auszusetzen“, höhnte auch der ehemalige Fox-News-Starmoderator Tucker Carlson, der in den USA zu den einflussreichsten Stimmen der Ultrakonservativen zählt. Besorgt äußern sich gleichzeitig auch ukrainische Aktivisten und westliche Politiker wie Tiny Kox, der Präsident der Parlamentarischen Versammlung des Europarates.

Dass Krieg und Demokratie in einem Spannungsfeld zueinander stehen, erlebt die Ukraine nicht als erstes Land. So hielt Großbritannien während des Zweiten Weltkrieges keine Urnengänge ab. Die 1935 gewählten Abgeordneten blieben 10 Jahre im Amt. Bei der Entscheidung für oder gegen Wahlen muss Kiew komplexe sicherheitstechnische, demokratie- und außenpolitische Aspekte abwägen.

Rechtlich ist die Lage grundsätzlich klar geregelt: Artikel 19 des Gesetzes über den Kriegszustand verbietet es, Wahlen abzuhalten. Laut Artikel 83 der Verfassung verlängert sich die Amtsdauer der Abgeordneten automatisch bis zu deren Aufhebung. Da das Kriegsrecht größere Versammlungen verbietet, ist auch ein Wahlkampf praktisch unmöglich. Dies bedeutet, dass die Demokratie in einen Ruhezustand versetzt wird.

Wolodimir Selenski vor dem Parlament

Der ukrainische Präsident lässt in diesem Jahr nicht mehr wählen.

(Foto: IMAGO/ZUMA Wire)

In der Realität machen es die russischen Raketenangriffe praktisch unmöglich, einen gefahrlosen Urnengang zu garantieren. Moskau könnte diesen sogar gezielt ins Visier nehmen, um Kiews Schwäche vorzuführen. In frontnahen Gebieten haben die Kämpfe die Infrastruktur stark beschädigt, Beamte, Polizei und Politiker müssen sich darauf konzentrieren, das Überleben der Bevölkerung zu sichern.

Dazu kommen kurzfristig kaum lösbare administrative Schwierigkeiten: Etwa acht Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer sind ins Ausland geflohen, wo es kaum Möglichkeiten zur Stimmabgabe gibt. Innerhalb der Ukraine gibt es sechs Millionen Vertriebene. Dazu kommen die Zehntausende von Getöteten, die noch im Wahlregister stehen.

Dieses wurde seit Beginn der russischen Invasion nicht mehr aktualisiert, entsprechende Pläne sollen im Herbst vorgelegt werden. Völlig unklar wäre, wie man mit den besetzten Territorien umgeht: Auch hier leben Millionen von Menschen, die theoretisch über das Wahlrecht in der Ukraine verfügen.

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Dass Präsident Selenski durch den Krieg eine politische Dominanz erlangt hat, die demokratiepolitisch problematisch ist, lässt sich nicht abstreiten. Nach wie vor produzieren die großen Fernsehsender propagandistische Einheitsnachrichten, die Tendenz wächst, wichtige Informationen unter dem Vorwand der Geheimhaltung der Öffentlichkeit vorzuenthalten. In der Wirtschaft haben Nationalisierungen von Unternehmen die Macht intransparenter Gruppen im Hintergrund erhöht. Kiew setzt zwar immer wieder korrupte Beamte ab, doch das Vorgehen bleibt selektiv.

Das Parlament agiert im Wesentlichen als verlängerter Arm des Präsidentenbüros, in dem Selenski und seine Berater viele zentrale Entscheidungen treffen. Anzeichen für einen Missbrauch ihrer verfassungsrechtlichen Befugnisse oder gar die politische Verfolgung von Gegnern gibt es jedoch kaum.

Auch weisen Politologen darauf hin, dass die Verschiebung der Wahl nicht im Interesse von Selenski wäre, zielte er auf die Festigung seiner Macht ab. In der Bevölkerung sind nur die Sicherheitskräfte beliebter als der Präsident. Seine Partei erhielte wohl eine noch größere Mehrheit als 2019. Schließlich neigen Wähler in Kriegszeiten nicht zu Experimenten.

Selenski besänftigt die Ungeduldigen mit dem Versprechen, der Sieg sei nah und werde das Problem beseitigen. Der langsame Verlauf der ukrainischen Offensive lässt eine rasche Befreiung der besetzten Gebiete aber in weite Ferne rücken. Längerfristig müssen sich die Ukrainer sogar mit der Möglichkeit auseinandersetzen, dass die Hoffnung auf eine
Rückeroberung aller verlorenen Gebiete eine Illusion darstellt.

Wahlsieger Selenski im Jahr 2019

Bei den vergangenen Parlamentswahlen siegte Wolodimir Selenski – hier mit First Lady Olena. Damals war noch nicht absehbar, dass Russland das Land knapp drei Jahre später in einen blutigen Krieg verwickeln würde.

(Foto: action press)

Kurzfristig bedeutet der aktuelle Kriegsverlauf, dass neben der Parlamentswahl auch jene Wahl für die Präsidentschaft im Frühling immer unsicherer wird. Sollte diese in eine unbestimmte Zukunft verschoben werden, stiege aber auch der internationale Druck auf Selenski, irgendeinen Urnengang abzuhalten, selbst unter schwierigen Bedingungen.

Wenn dieser nicht ideal verlaufe, werde sich niemand beschweren, sagte Tiny Cox. „Aber ohne Wahlen ist eine Demokratie unmöglich“, führte der Europaparlamentarier an. Niemand könnte in einem solchen Fall garantieren, dass die von einem EU-Kandidatenland erwarteten Standards eingehalten würden.

Zweifellos würden Skeptiker und Feinde der Ukraine Unregelmäßigkeiten als Beweis für die demokratische Unreife des osteuropäischen Staates anführen. Wirklich gute Lösungen für die Vereinbarkeit von Demokratie und Krieg gibt es nicht.

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