Russland mit neuer Offensive auf Mariupol – Video zeigt offenbar Militärangriff auf Zivilisten

Mariupol

Den Menschen in der Hafenstadt könnten weitere russische Angriffe bevorstehen.

(Foto: Reuters)

Düsseldorf Die Intensität der Kämpfe im Osten der Ukraine bleibt hoch, im Fokus steht weiter die Hafenstadt Mariupol. Die Gräuel von Butscha im russischen Krieg gegen die Ukraine feuern die weltweite Debatte an: Was tun gegen Moskau? Der ukrainische Präsident berät mit dem Westen über neue Sanktionen gegen Russland. Macron sagt seinen Angaben zufolge Unterstützung bei Ermittlungen zu Gräueltaten zu.

Die militärische Lage

Die russischen Streitkräfte treiben nach Angaben des ukrainischen Präsidenten Wolodimir Selenski ihre Offensive in der Ostukraine voran. Die ukrainischen Truppen leisteten jedoch Widerstand und verhinderten ein weiteres Vorrücken, sagte Selenski am frühen Mittwochmorgen in einer Videobotschaft.

Die Ukraine sei sich bewusst, dass Russland Verstärkung für seine Offensive zusammenziehe, erklärte der Präsident. Die ukrainischen Streitkräfte seien mit Blick auf die Anzahl ihrer Soldaten und ihre Ausrüstung unterlegen. „Wir haben keine Wahl – das Schicksal unseres Landes und unseres Volkes wird gerade entschieden“, sagte er. „Wir wissen, wofür wir kämpfen. Und wir werden alles tun, um zu gewinnen.“

„Die humanitäre Lage in der Stadt verschlechtert sich“, teilt das britische Verteidigungsministerium auf Basis von Informationen des Militärgeheimdienstes mit. Die meisten der verbliebenen Einwohner müssten ohne Licht, Kommunikationsmöglichkeiten, medizinische Versorgung, Heizung oder Wasser auskommen.

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Die russischen Streitkräfte hätten den Zugang für humanitäre Hilfen verhindert, wahrscheinlich um den Druck auf die Verteidiger zur Kapitulation zu erhöhen. Die Angaben waren zunächst nicht unabhängig zu überprüfen.

Das russische Verteidigungsministerium hatte eine neue Offensive angekündigt. Die Regierung in Kiew – Russland bezeichnet sie zur Rechtfertigung seines Angriffs als „Regime“ – ignoriere ständig Aufforderungen, die Kämpfe einzustellen, sagte Ministeriumssprecher Igor Konaschenkow am Dienstagabend in Moskau.

Die Truppen sollten die Waffen niederlegen und aus der Stadt über die vereinbarten Korridore abziehen. Kiew habe aber kein Interesse daran, das Leben seiner Soldaten oder der Menschen in der Stadt zu schützen, hieß es in zwei Mitteilungen des Ministeriums.

„Mariupol wird durch die Einheiten der russischen Streitkräfte und der Donezker Volksrepublik befreit von den Nationalisten“, sagte Generalmajor Konaschenkow. Sein Kollege Michail Misinzew sagte, dass die humanitären Korridore kaum funktionierten. Die russische und die ukrainische Seite werfen sich immer wieder gegenseitig Verstöße gegen die Feuerpause vor. Die russischen Streitkräfte teilten mit, sie hätten zwei ukrainische Kampfhubschrauber in der Stadt abgeschossen. Überprüfbar waren diese Angaben nicht.

Ukrainische Medien berichten derweil über Explosionen in den Gebieten Lwiw (Lemberg) im Westen und Dnipropetrowsk im Südosten des Landes. Der Chef der Militärverwaltung von Lwiw, Maxym Kosyzkyj, habe Explosionen in der Nähe der Stadt Radechiw nordöstlich von Lwiw bestätigt, berichtete die „Ukrajinska Prawda“ in der Nacht zu Mittwoch. Es gebe noch keine Informationen über Opfer oder Schäden, hieß es weiter.

In der Region Dnipropetrowsk berichteten Augenzeugen der „Ukrajinska Prawda“ zufolge von Explosionen in Nowomoskowsk, einer Industriestadt rund 25 Kilometer nordöstlich von der Gebietshauptstadt Dnipro.

USA und Europa erhöhen Sanktionsdruck auf Russland

Die USA und ihre Verbündeten wollen den Druck auf Russland mit weiteren Sanktionen erhöhen. Ein weiteres – mit den G7-Staaten und der EU abgestimmtes – Paket solle am heutigen Mittwoch vorgestellt werden, kündigte die Sprecherin des US-Präsidialamtes, Jen Psaki, an. So sollen jegliche neuen Investition in Russland verboten werden.

Joe Biden

Die USA wollen heute weitere Sanktionen gegen Russland vorstellen.


(Foto: AP)

Zudem würden bereits geltende Strafmaßnahmen gegen Banken und staatliche Unternehmen verschärft. Betroffen seien auch Regierungsvertreter und ihre Familien mit zusätzlichen Strafmaßnahmen belegt werden. Die Sanktionen verursachten Kosten für Russland und werde das Land, wirtschaftlich, finanziell und technologisch weiter isolieren.

Ein französischer Regierungsvertreter hatte zuvor gesagt, dass die Europäische Union wohl am Mittwoch neue Sanktionen vorlegen werde. Zwei europäische Diplomaten sagten, das Paket sei noch in der Abstimmung und werde am Mittwoch koordiniert bekanntgegeben.

Die Verschärfung ist eine Reaktion auf den Tod Hunderter Zivilisten in dem Kiewer Vorort Butscha, für den die Ukraine und der Westen Russland verantwortlich macht. Russland weist den in diesem Zusammenhang erhobenen Vorwurf von Kriegsverbrechen zurück und spricht von einer Fälschung zur Diskreditierung Russlands.

>> Lesen Sie hierzu: Washington verbietet US-Banken Auszahlungen an Russland – Staatspleite rückt näher

Der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski hatte zuvor nach eigenen Angaben mit westlichen Staats- und Regierungschefs über eine neue Sanktionsrunde gegen Russland beraten. „Nach dem was die Welt in Butscha gesehen hat, müssen die Sanktionen gegen Russland im Einklang mit der Schwere der Kriegsverbrechen stehen, die von den Besatzern verübt worden sind“, sagte Selenski am frühen Mittwochmorgen in seiner Videobotschaft an die Nation.

Frankreichs Staatschef Emmanuel Macron und Selenski sprachen über Maßnahmen, damit die Gräueltaten von Butscha nicht unbestraft bleiben. Frankreich habe zur Mithilfe bei der Aufklärung der Verbrechen eine Sonderzahlung in Höhe von 490.000 Euro an den Internationalen Strafgerichtshof geleistet, hieß es im Anschluss an das etwa einstündige Gespräch der Präsidenten am Dienstagabend aus Kreisen des Pariser Élyséepalastes. Außerdem könnte Frankreich dem Gericht zwei Richter und zehn Gendarmen zur Verfügung stellen.

>> Lesen Sie hierzu: Neue Sanktionen nach russischen Gräueltaten – EU will Importstopp für russische Kohle

Die deutsche Industrie unterstützt den Sanktionskurs der Bundesregierung und der Europäischen Union gegen Russland. „Die Gräueltaten in Butscha verlangen nach einer entschiedenen, unmissverständlichen Reaktion des Westens“, sagte Siegfried Russwurm, Präsident des Bundesverbands der Deutschen Industrie, der Deutschen Presse-Agentur in Berlin.

„Ein vollständiges, europaweit abgestimmtes Embargo auf russische Kohle geht über die von den Unternehmen bereits umgesetzte Reduzierung russischer Kohlelieferungen noch einmal deutlich hinaus. Die Umsetzung ist nicht einfach und hat ihren Preis, aber die Entscheidung ist vor dem Hintergrund der Eskalation der Gewalt mehr als nachvollziehbar.“

Lawrow warnt Ukraine vor Sabotage der Verhandlungen mit Russland

Russlands Außenminister Sergej Lawrow warnte vor einer Sabotage der Verhandlungen zwischen Moskau und Kiew für eine Ende der Kämpfe in der Ukraine. Russland werde sich nicht auf ein „Katz-und-Maus-Spiel“ einlassen wie in den vergangenen Jahren bei dem Friedensplan für die Ostukraine, sagte Lawrow am Dienstag in einem von dem Ministerium verbreiteten Video.

Konkret sagte Lawrow, dass Russland keine Volksabstimmung über einen möglichen Vertrag zwischen Moskau und Kiew zur Lösung des Konflikts wolle. Es gebe „eine sehr hohe Wahrscheinlichkeit“, dass der Verhandlungsprozess im Falle eines „negativen Ergebnisses“ bei dem Referendum wieder von vorne beginne, mahnte Lawrow.

Die ukrainischen Unterhändler hatten sich zuletzt zwar bereiterklärt, über einen neutralen Status des Landes samt Verzicht auf eine Nato-Mitgliedschaft zu verhandeln. Im Gegenzug fordert Kiew Sicherheitsgarantien von Drittstaaten. Nach Vorstellung der Ukraine soll ein möglicher Vertrag über die Neutralität des Landes am Ende der Bevölkerung noch zur Abstimmung vorgelegt werden – nach Abzug der russischen Truppen. Lawrow lehnte das nun erstmals offen ab.

Weitere aktuelle Berichte zum Krieg:

USA liefern Ukraine Schutzausrüstung gegen Chemie- und Biowaffen

Die USA wollen der Ukraine Schutzausrüstung liefern, die bei einem russischen Einsatz von chemischen oder biologischen Waffen angewendet werden kann. Das sagte ein Vertreter der US-Regierung. Die Ausrüstung, um die Kiew gebeten hat, werde fortlaufend in die Ukraine geschickt. Ein Teil sei bereits versendet worden.

Die USA billigten der Ukraine weitere 100 Millionen Dollar (91,3 Millionen Euro) für Waffen. Damit könne der dringende Bedarf Kiews an panzerbrechenden Waffen gedeckt werden, teilte US-Außenminister Antony Blinken in der Nacht zum Mittwoch mit. Er bekräftigte zugleich die weitere Unterstützung der USA für die Souveränität und territoriale Gesamtheit der Ukraine.

Ukraine-Krieg

Die ukrainischen Soldaten sollen weitere Waffen aus den USA bekommen.

(Foto: dpa)

Bereits Ende vergangener Woche hatten die USA 300 Millionen Dollar für Waffen für die Ukraine genehmigt. Das Paket war für Drohnen, Raketensysteme, gepanzerte Fahrzeuge, Munition, Nachtsichtgeräte, sichere Kommunikationssysteme, Maschinengewehre, medizinische Güter und die Bereitstellung von kommerziellen Satellitenbildern vorgesehen.

SPD-Chef Lars Klingbeil kündigte an, dass die Bundesregierung weitere Waffenlieferungen prüfen will. „Wir haben gerade in diesen Tagen gesehen, was Putin für ein furchtbarer Kriegsverbrecher ist, das darf nicht ohne Konsequenzen bleiben“, sagte Klingbeil in „RTL Direkt“. Man müsse sagen, „dass mit dem 24.Februar, dem Kriegsbeginn, ein Umdenken in der Regierung stattgefunden hat“. Deutschland sei inzwischen einer der größten Waffenlieferanten an die Ukraine. „Es muss jetzt in einem großen Tempo jeden Tag geprüft werden, was wir noch liefern können. Wir müssen immer prüfen, ob das notwendig, ob das sinnvoll ist“, so Klingbeil. „Aber Deutschland muss liefern, die Ukrainerinnen und Ukrainer müssen gestärkt werden.“

Video zeigt mutmaßlichen Kriegsverbrechen in Butscha

Die „New York Times“ hat Videoaufnahmen vom Tod eines Zivilisten durch russische Soldaten im Kiewer Vorort Butscha veröffentlicht. Zuerst hatte das Recherchenetzwerk Bellingcat die Aufnahmen auf Twitter gezeigt. Das Video zeige, wie ein Zivilist sein Fahrrad durch Butscha schiebe und an einer Straßenecke durch Schüsse aus den Türmen von zwei russischen Schützenpanzern getötet wird, berichtete die Zeitung in der Nacht zum Mittwoch.

Das Video von Ende Februar stamme vom ukrainischen Militär und sei von der Zeitung unabhängig verifiziert worden. Die Leiche des Mannes sei schließlich nach dem Abzug der russischen Truppen an exakt jener Stelle gefunden worden, die auch im Video zu erkennen ist.

Schon am Vortag hatte die „New York Times“ Satellitenbilder aus Butscha veröffentlicht. Deren Datum-Einblendungen zeigen, dass sich die Leichen mehrerer Menschen bereits Mitte März auf Straßen befanden – also noch vor dem Abzug russischer Truppen. Die Todesursache der Menschen sei daraus allerdings nicht klar ersichtlich, hieß es weiter.

Mehr als 3800 Evakuierungen aus umkämpften Gebieten

Nach Angaben aus Kiew sind am Dienstag mehr als 3800 Menschen aus umkämpften Gebieten des Landes evakuiert worden. Rund 2200 Menschen seien aus der schwer umkämpften und größtenteils zerstörten Stadt Mariupol und dem nahen Berdjansk nach Saporischschja gebracht worden, teilte die Vizeregierungschefin Iryna Wereschtschuk in einer auf Telegram veröffentlichten Videobotschaft am Dienstag mit. Weitere mehr als 1000 Menschen seien aus der Region Luhansk in Sicherheit gebracht worden.

Ein Konvoi aus sieben Bussen, der Menschen aus Mariupol evakuieren sollte und der nach Angaben aus Kiew kurzzeitig samt Mitarbeitern des Roten Kreuzes von russischen Truppen in der ukrainischen Ortschaft Manhusch festgehalten worden war, habe schließlich umkehren müssen. Am Weg zurück hätten diese Busse Bewohner Mariupols und aus Berdjansk mitnehmen können, sagte Wereschtschuk weiter. Der Buskolonne folgten zudem mehr als 40 Privatautos. Man erwarte daher, dass in naher Zukunft weitere 400 Menschen in Saporischschja in Sicherheit seien.

Aus Moskau hieß es, binnen 24 Stunden seien mehr als 18 600 Menschen aus „gefährlichen Bezirken“ der Ukraine, der Region Luhansk und Donezk evakuiert worden. Das berichtete die staatliche Agentur Tass am Dienstagabend mit Berufung auf Angaben des Generalmajors Michail Misinzew vom russischen Verteidigungsministerium. Zudem käme es zu vermehrtem Beschuss eines Abschnitts eines zu Mariupols zählenden humanitären Korridors, hieß es weiter.

Das wird heute wichtig

  • Der Bundestag debattiert über die Gräueltaten von Butscha. Davor wird Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) vom Parlament befragt.
  • Abends kommen die Außenminister der 30 Nato-Staaten in Brüssel zusammen. Es geht unter anderem um eine Verstärkung der Nato-Ostflanke. Dafür warb bereits der US-Generalstabschef Mark Milley im US-Kongress. Russland lehnt dies kategorisch ab.

Mit Agenturmaterial

Mehr: Alle Entwicklungen im Ukrainekrieg im Newsblog


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