Ottmar Edenhofer warnt im Interview vor Deindustrialisierung

Berlin Ottmar Edenhofer verteidigt den Aufbau einer Infrastruktur für verflüssigtes Erdgas (LNG) in Deutschland. „Das ist angesichts der Situation richtig so. Energiesicherheit hat für den Standort Deutschland eine überragende Bedeutung“, sagt der Direktor des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung (PIK) im Handelsblatt-Interview. Die Kritik an langen Vertragslaufzeiten für LNG-Lieferungen teilt Edenhofer nicht: „Da bin ich entspannt, solange die EU und Deutschland zu ihren Klimazielen stehen.“

Die Europäer hätten den Weltmärkten mit ihren Klimazielen klar signalisiert, dass ihre Öl- und Gasnachfrage ab 2030 zurückgehen werde. „Darauf werden sich die Marktteilnehmer einstellen, und das kann man auch in den Vertragskonditionen berücksichtigen“, sagt Edenhofer.

Der Wissenschaftler spricht sich dafür aus, den Weg für die Speicherung von CO2 zu ebnen: „CCS ist unverzichtbar für die unvermeidbaren Restemissionen aus Industrie und Landwirtschaft.“

Außerdem gehe es darum, der Atmosphäre in Zukunft im großen Stil Kohlendioxid zu entziehen, um es zu nutzen oder zu speichern. „Wir brauchen diese Technologie in großem Umfang zwar erst in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts, aber wir sollten jetzt dringend mit Pilotprojekten beginnen“, fordert Edenhofer.

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Der PIK-Direktor warnt davor, Deutschland als Industrieland infrage zu stellen: „Wir sollten etwaigen Tendenzen einer Deindustrialisierung entschieden entgegentreten“, erklärt er. „Wir hatten und haben noch immer eine Industrie mit hoher Wertschöpfung. Ich sehe nicht, warum Deutschland dieses Geschäftsmodell aufgeben sollte.“

Lesen Sie hier das gesamte Interview:

Herr Edenhofer, seit der Pariser Klimakonferenz 2015 kommt die Welt beim Klimaschutz nicht mehr wirklich voran. Sind die jährlichen Treffen verzichtbar?
Die Fortschritte bei den Weltklimakonferenzen sind tatsächlich viel zu gering. Ich würde trotzdem nicht auf sie verzichten.

Warum?
Dass sich in diesen beiden Wochen fast 200 Staaten treffen und über Klimathemen reden, hat einen Wert an sich. Es wird auch darüber verhandelt, ob diejenigen, die viel emittieren, die Länder entschädigen müssen, die besonders unter den Klimaschäden leiden. Aber man darf die Konferenzen nicht mit Erwartungen überfrachten und auf Durchbrüche bei der Verminderung von Emissionen warten, die nie passieren werden.

Aber ohne Durchbrüche wird es nicht gehen.
Dazu braucht es andere Formate, bei denen fokussiert ein Thema vorangebracht werden kann, etwa der weltweite Kohleausstieg, ein Schlüsselthema bei der Reduzierung klimaschädlicher Emissionen. Entwicklungsbanken sollten Ländern im globalen Süden dabei helfen, Kohlekraftwerke stillzulegen, und stattdessen zinsgünstige Kredite für CO2-freie Technologien vergeben.
Die durch Risikoaufschläge hohen Kapitalkosten in diesen Ländern sind ein Riesenproblem für den Ausbau der erneuerbaren Energien dort. Hier ließe sich was machen, das direkt dem Klima nützt. Im Gegenzug sollen die begünstigten Länder die Subventionen für fossile Energieträger zurückfahren.

Machen da alle mit?
Daran müssen wir arbeiten. Klar ist: Wenn wir den globalen Kohleausstieg nicht weiter vorantreiben, dann schlagen wir die Tür zum 1,5-Grad-Ziel unwiderruflich zu, und die Erwärmung geht dann sicher auch über die Zwei-Grad-Grenze. Damit nähmen die Klimarisiken dramatisch zu.

Die G7-Staaten haben sich gerade auf die Gründung eines Klimaklubs geeinigt. Was soll der bringen, wenn große Emittenten wie China nicht dabei sind?
Wenn der Klimaklub erfolgreich sein soll, wird es ohne China nicht gehen, auch nicht ohne Indien. Trotzdem ist es vernünftig, verstärkt nach Kooperationsmöglichkeiten der Hauptemittenten zu suchen. Da die Hauptemittenten mit Forderungen konfrontiert sind, für die verursachten Schäden zu bezahlen, entsteht ein zusätzlicher Anreiz zur Kooperation.

Die jährlichen Klimakonferenzen, dazu ein Format zum Kohleausstieg, der Klimaklub – das klingt nach Verzettelung.
Nein. Wir müssen hier mehrere Sachen parallel anschieben. Die Suche nach Lösungen beim Kohleausstieg ist ein eher kurzfristiges Projekt. Der Klimaklub ist im Aufbau. Bis er handlungsfähig ist, dauert es noch eine Weile.

Was soll er machen?
Ich sehe zwei Themen: Er muss Innovationen vorantreiben und sich für eine CO2-Bepreisung einsetzen. Die Gelegenheit ist günstig, weil die USA mit dem Inflation Reduction Act ein großes Technologie- und Innovationsprogramm aufgelegt haben und ähnlich ambitioniert sind wie die EU mit ihrem Green Deal. Das gibt Raum für Verhandlungen. Und was mir besonders wichtig ist: Der Klimaklub kann verhindern, dass die USA und die EU grünen Protektionismus betreiben, Klimapolitik also zum Treiber für Handelskonflikte werden könnte. Das sollte vermieden werden.

Sie haben das jüngste EU-Klimapaket als „Durchbruch“ bezeichnet. Wirft das Paket nicht noch eine Reihe von Fragen auf, etwa wie unter dem geplanten CO2-Grenzausgleich Exporte aus der EU heraus eine Chance haben sollen?
Das schnellere Absenken der Emissionsobergrenze und die weitere Verknappung der Zertifikate führen im Emissionshandel für Industrie und Strom zu einem steigenden CO2-Preis, damit wird ein rascher europäischer Kohleausstieg möglich. Die Einführung eines zweiten Emissionshandels für Verkehr und Gebäude ist am Ende doch noch gelungen, aber der festgelegte Höchstpreis beschränkt seine Wirksamkeit.
Der Klimasozialfonds federt grundsätzliche soziale Verwerfungen ab, ist aber im Volumen zu klein. Der Grenzausgleich für Importe hilft, dass Zement und Eisen wettbewerbsfähig bleiben, aber für die Entlastung der Exporte ist noch keine Lösung gefunden. Es gibt erste Vorschläge für negative Emissionen, aber die EU ist zu langsam.
Trotz der Kritik im Detail bleibe ich dabei: Es ist ein Durchbruch für den Klimaschutz und die Energiesicherheit in Europa. Wir haben jetzt die Mittel an der Hand, um unsere Ziele auch zu erreichen.

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Sie haben Innovationen angesprochen: Welche braucht es?
Ein wirklich großer Durchbruch ist meines Erachtens bei dem Thema Negativemissionen notwendig. Wir werden der Atmosphäre in großem Maßstab Kohlendioxid entziehen müssen, um es zu nutzen oder zu speichern. Wir reden hier über komplexe Technologien, die eine spezielle Regulierung benötigen, für die Subventions- oder Auktionssysteme gebraucht werden. Da stehen wir noch ganz am Anfang.
Wir brauchen diese Technologie in großem Umfang zwar erst in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts, aber wir sollten jetzt dringend mit Pilotprojekten beginnen. Wir reden hier über nichts Geringeres als den Einstieg in ein industrielles Management des Kohlenstoffkreislaufs.

Mit der Speicherung von CO2 rühren Sie in Deutschland an ein sehr umstrittenes Thema. Lässt sich die Technologie hierzulande anwenden?
Es ist wichtig, dass wir die Technologie der Abscheidung und Speicherung von CO2 beherrschen. In erster Linie müssen wir natürlich den Ausstoß von Treibhausgasen rasch reduzieren. Aber Carbon Capture and Storage (CCS) ist unverzichtbar für die unvermeidbaren Restemissionen aus Industrie und Landwirtschaft.
Es war immer absurd zu glauben, CCS könne man einsetzen, um die Laufzeiten von Kohlekraftwerken in Deutschland zu verlängern. Die Kohlekraftwerke müssen ohnehin aus dem System verschwinden. Die Weichen dafür sind gestellt. Darum sollte CCS nun auch vermittelbar sein.

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Muss das Kohlendioxid denn in Deutschland gespeichert werden?
Nein, das halte ich nicht für erforderlich. Norwegen bietet sich an, gegen Bezahlung CO2 dauerhaft unter dem Meeresgrund zu speichern.
Aber ist es nicht verwerflich, wenn die Deutschen alle schwierigen Themen auslagern?
Das hat natürlich einen Beigeschmack. Man muss aber einfach anerkennen, dass die Norweger mit CCS reichlich Erfahrung haben. Sie beherrschen die Technologie. Und es darf da durchaus eine Arbeitsteilung geben. In einem dicht besiedelten Industrieland wie Deutschland ist es nicht leicht, CCS anzuwenden.

Gilt das auch für das Thema Fracking? Kann man diese Technik zur Gasförderung für Deutschland einfach ausschließen?
Wir reden hier über geringe Mengen Gas, die zusätzlich gefördert werden könnten, und müssen den zeitlichen Vorlauf sehen, den die Anwendung der Technik hätte. Für die aktuelle Krisenbewältigung dürfte das keinen großen Nutzen haben. Wir werden trotz der Konflikte, die wir jetzt mit Russland haben, auch in Zukunft auf eine internationale Arbeitsteilung angewiesen sein. Das gilt nicht nur beim Erdgas, sondern auch bei erneuerbaren Energien, speziell bei grünem Wasserstoff. Und es gilt eben auch für das Thema CCS.
Das heißt nicht, dass sich die Deutschen von allen technologischen Herausforderungen fernhalten sollten, im Gegenteil: Wir können sicher sehr viel zur technischen Umsetzung beitragen und dabei helfen, die besten Lösungen zu entwickeln. Wir haben die Innovationskraft und wirklich viele Champions, die ganz herausragende Dinge zustande bringen in der Forschung und Entwicklung. Darauf müssen wir aufbauen.

Wie besorgniserregend sind die Investitionen in die fossile Infrastruktur?
Viele haben lange geglaubt, dass die Erneuerbaren allein dadurch, dass sie preiswerter werden, Kohle, Öl und Gas verdrängen. Der russische Krieg hat das beendet, in der Energiekrise stehen die fossilen Energien wieder im Mittelpunkt. Das kann nicht so bleiben, zumal gerade die Krise deutlich gemacht hat, welche Risiken die Abhängigkeit von fossilen Importen bedeutet. Klar ist: Wir brauchen einen schnellen Ausstieg aus der Kohle.

Was ist mit Gas? Deutschland investiert Milliarden in den Aufbau einer Infrastruktur für den Import von verflüssigtem Erdgas (LNG).
Das ist angesichts der Situation richtig so. Energiesicherheit hat für den Standort Deutschland eine überragende Bedeutung. Das Kernproblem ist nicht, dass es bei dem Ziel Klimaneutralität kurzfristig mitunter Umwege geben muss. Schlimm wäre es aber, wenn aus einem Umweg ein Weg in die falsche Richtung werden würde. Es muss also weiter darum gehen, Gas einzusparen. Es stimmt mich im Übrigen hoffnungsvoll, dass es in den vergangenen Monaten gelungen ist, eine erhebliche Menge Gas einzusparen. Das zeigt ein weiteres Mal: Demokratie und Marktwirtschaft sind durchaus in der Lage, große Herausforderungen zu meistern.

Schiffsanleger in Wilhelmshaven

Seit dem 17. Dezember ist in Wilhelmshaven das erste LNG-Terminal Deutschlands in Betrieb.

(Foto: dpa)

Potenzielle LNG-Lieferanten wollen Verträge mit möglichst langer Laufzeit abschließen. Werden da nicht Strukturen zementiert, die im Widerspruch zum Ziel der Klimaneutralität bis 2045 stehen?
Da bin ich entspannt, solange die EU und Deutschland zu ihren Klimazielen stehen. Die Europäer haben den Weltmärkten mit ihren Klimazielen klar signalisiert, dass ihre Öl- und Gasnachfrage ab 2030 zurückgehen wird. Darauf werden sich die Marktteilnehmer einstellen, und das kann man auch in den Vertragskonditionen berücksichtigen.

Wir haben Ihnen in den vergangenen Jahren immer wieder die Frage gestellt, ob Deutschland ein Industrieland bleiben wird. Sie waren stets optimistisch. Wie beantworten Sie die Frage heute unter den Vorzeichen der Energieversorgungs- und Energiepreiskrise?
Wir sollten etwaigen Tendenzen einer Deindustrialisierung entschieden entgegentreten. Natürlich heißt das nicht, dass alle Wertschöpfungsketten in Deutschland bleiben werden. Das wäre eine Illusion. Aber wir müssen uns strategisch aufstellen und Abhängigkeiten reduzieren. Vor dem Ukrainekrieg waren die Energiestückkosten, also die Energiekosten pro erwirtschafteter BIP-Einheit, in Deutschland sogar unter dem europäischen Mittelwert – obwohl wir schon lange die höchsten Strompreise hatten und das russische Gas nicht einmal besonders billig war.
Das war möglich, weil die deutsche Wirtschaft sehr innovativ ist. Wir hatten und haben noch immer eine Industrie mit hoher Wertschöpfung. Ich sehe nicht, warum Deutschland dieses Geschäftsmodell aufgeben sollte. Wir müssen uns nur strategischer aufstellen. Wir müssen die außenwirtschaftlichen Beziehungen diversifizieren und erreichen, dass wir weniger verletzlich sind.

Wie bewerten Sie nach gut einem Jahr die Arbeit der Ampelkoalition, gerade in den energie- und klimapolitischen Fragen?
Ich habe mir erhofft, als die Ampel angefangen hat, dass die Grünen die Ambitionen in der Klimapolitik einbringen, die FDP die marktwirtschaftliche Orientierung und die SPD den sozialen Ausgleich. Hieran gemessen würde ich sagen: Bei der Ampel ist noch ordentlich Luft nach oben.

Herr Edenhofer, vielen Dank für das Interview.

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