Berlin Der Streit um die Kindergrundsicherung legt tiefe Risse in der Ampelkoalition, aber auch innerhalb der Bundesregierung und der Grünen, offen. Dass Familienministerin Lisa Paus vergangene Woche wegen des Streits das Wachstumschancengesetz im Kabinett blockiert habe, sei „kein Glanzstück“ gewesen, kritisierte Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) seine Parteifreundin im „Heute-Journal“.
Zusätzlich unter Druck gerät Paus durch ein Gutachten des Wissenschaftlichen Beirats beim Bundesfinanzministerium, das dem Handelsblatt vorliegt. Darin empfehlen die Berater von Ressortchef Christian Lindner (FDP), die noch ausstehende Reform der Kindergrundsicherung zu nutzen, um endlich ein einheitliches, in sich konsistentes Grundsicherungssystem zu schaffen, das auch die Arbeitsanreize erhöht.
Bis zur Kabinettsklausur auf Schloss Meseberg am kommenden Dienstag soll der Konflikt um die Kindergrundsicherung beigelegt sein, hatte Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) angekündigt. In Berlin kursieren mittlerweile mehrere Gesetzentwürfe, die aber oft nach Stunden schon wieder überholt sind.
Im ZDF beklagte Vizekanzler Habeck das Erscheinungsbild der Ampel. Der Eindruck des Streits sei sehr ärgerlich, weil die Koalition eigentlich ständig wichtige Dinge beschließe, sagte Habeck: „Wir versauen es uns permanent selbst. Und das ist natürlich auf Dauer kein Erfolgsgeheimnis.“
Bei der Kindergrundsicherung dreht sich der Streit auch um die Frage, ob den Kindern und ihren Familien wirklich damit geholfen ist, einfach mehr Geld ins System zu pumpen. Deutschland zahle im Vergleich zu anderen EU-Ländern sehr hohe Sozialleistungen, liege aber bei der Kinderarmut trotzdem über dem Durchschnitt, sagte FDP-Fraktionschef Christian Dürr dem Handelsblatt.
„Mehr Geld ist nicht automatisch die Lösung“
„Das muss doch ein Weckruf sein, dass mehr Geld nicht automatisch die Lösung ist.“ Stattdessen gelte es, die Bildungs- und Aufstiegschancen für benachteiligte Kinder zu verbessern und dafür zu sorgen, dass die Eltern mehr Chancen auf dem Arbeitsmarkt haben.
In diese Richtung zielt auch das Gutachten des Beirats beim Bundesfinanzministerium. Die derzeitige Grundsicherung sei zu intransparent und führe zu Ungerechtigkeiten, weil vergleichbare Haushalte bei gleichem Arbeitseinkommen regional in unterschiedlicher Höhe gefördert würden. Und die Frage, ob sich Arbeit oder Mehrarbeit für Leistungsbezieher lohne, hänge stark von deren Wohnort ab, kritisieren Lindners Berater.
Das liege daran, dass für Geringverdiener de facto zwei schlecht aufeinander abgestimmte Grundsicherungssysteme nebeneinander existierten, heißt es in dem Gutachten. Auf der einen Seite das Bürgergeld, auf der anderen Seite vorrangige Leistungen wie das Wohngeld, der Kinderzuschlag und das vom Einkommen unabhängige Kindergeld.
Schon mit einer Mieterhöhung, der Anpassung des Wohngelds oder einer Lohnsteigerung können sich die Zuständigkeiten zwischen den Ämtern ändern, mitunter müssten Leistungsbezieher mehrfach zwischen den zwei Grundsicherungssystemen wechseln.
FDP hat Arbeitsanreize im Fokus
Wegen der Intransparenz könnten Transferempfänger auch schlicht nicht nachvollziehen, wie sich Mehrarbeit auf ihr Einkommen auswirke, heißt es in dem Gutachten.
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Anhand eines vierköpfigen Alleinverdienerhaushalts rechnen die Berater vor, dass eine Bruttolohnerhöhung von 4000 auf 4320 Euro im Monat zu einem Verringern von Transferleistungen führt. In der Folge würde das verfügbaren Haushaltseinkommens um vier Euro sinken, wenn die Familie in München wohnt. Lebt sie dagegen in Leipzig, stiege das Haushaltseinkommen bei der angenommenen Lohnerhöhung um 98 Euro netto.
Lindners Berater schlagen vor, „die noch ausstehende Reform der Kindergrundsicherung dazu zu nutzen, die zweigeteilte Grundsicherung in eine einheitliche, in sich konsistente Grundsicherung zu überführen“.
Kern des Reformgedankens ist, die Kosten der Unterkunft aus dem Bürgergeld und das bestehende Wohngeld in einem neuen Wohngeld zusammenzufassen. Das Bürgergeld umfasst dann nur noch den täglichen Bedarf für Erwachsene, die neue Kindergrundsicherung den der Kinder.
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Eine solche Reform mit modifizierten Hinzuverdienstregeln und einem aufeinander abgestimmten Entzug von Sozialleistungen könne „vorteilhafte und transparente Arbeitsanreize setzen“, schreiben Lindners Berater.
Die Grünen oder der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), Marcel Fratzscher, argumentieren aber, dass man mit der materiellen Absicherung der Kinder nicht warten können, bis sich deren Eltern selbst aus der Armut herausgearbeitet hätten.
Paus sieht Geld als Hilfe gegen Armut
Familienministerin Paus will mit der Kindergrundsicherung auch Leistungsverbesserungen durchsetzen – und erhält dafür Rückendeckung aus ihrer Partei: „Kinderarmut zu ignorieren, schadet nicht nur jedem einzelnen Kind“, sagte Grünen-Sozialpolitikerin Stephanie Aeffner dem Handelsblatt.
Die gesamtgesellschaftlichen Folgekosten überstiegen die Kosten der Kindergrundsicherung um ein Vielfaches, wie gerade eine Studie des DIW und der Diakonie gezeigt habe. „Deshalb ist die Kindergrundsicherung eine wichtige Investition in die Zukunft unseres Landes“, sagte Aeffner.
Und selbstverständlich helfe Geld gegen Armut: der Schreibtisch zum Lernen, die Fußballschuhe oder das kleine Geschenk, um beim Kindergeburtstag dabei zu sein – das alles koste.
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