EU-Parlamentspräsidentin Metsola verspricht weniger Bürokratie

Brüssel Europäische Unternehmen warnen seit Jahren, dass steigende Regulierungskosten ihre Wettbewerbsfähigkeit bedrohen. In Brüssel stießen sie damit lange auf wenig Resonanz, andere Themen waren wichtiger, allen voran der Kampf gegen den Klimawandel. 

Nun jedoch beginnen sich die Prioritäten zu verschieben. Angesichts der sich eintrübenden Konjunktur finden die Sorgen der Wirtschaft beim Spitzenpersonal der EU wieder mehr Gehör. „Es gibt eine unsichtbare Linie, unsere Bürger wollen nicht, dass wir sie überschreiten“, sagte Roberta Metsola, Präsidentin des Europäischen Parlaments, im Interview dem Handelsblatt. „Ich glaube, wir haben sie in der Vergangenheit überschritten.“ 

Auch die EU-Kommission schlägt einen veränderten Ton an. Es müsse darum gehen, Unternehmen und Bürger im Transformationsprozess „zu begleiten“, betonte Binnenmarktkommissar Thierry Breton bei einem Pressegespräch. Bei der Umsetzung von Klimaschutzmaßnahmen müsse Europa darauf achten, „unsere Industrie nicht zu zerstören, sondern ihr helfen, sich anzupassen“. 

Wie stark die Sorge vor einer Deindustrialisierung inzwischen ist, machten am Mittwoch die deutschen Ministerpräsidenten deutlich, die zum ersten Mal seit 2018 gemeinsam nach Brüssel gereist sind. 

Auf dem Weg zur Klimaneutralität gehe es auch darum, deutsche und europäische Stärken zu bewahren, mahnte Niedersachsens Ministerpräsident Stephan Weil (SPD) bei einem Treffen mit Kommissionschefin Ursula von der Leyen (CDU). Nordrhein-Westfalens Ministerpräsident Hendrik Wüst (CDU) ergänzte: „Das wird die Aufgabe der nächsten Jahre sein: Wettbewerbsfähigkeit hinzukriegen.“

Metsola erinnert an „One in, one out“-Prinzip

Eigentlich hatte die Kommission der Wirtschaft ein „One in, one out“-Prinzip in Aussicht gestellt: Für jede neue Vorschrift sollte eine bestehende gestrichen werden. Doch es blieb bei einer guten Absicht – und in vielen Mitgliedstaaten wuchs der Eindruck, dass sich Brüssel mehr und mehr von der Lebenswirklichkeit der Menschen entfernt.

Ursula von der Leyen

Auch die EU-Kommission schlägt einen veränderten Ton an.

(Foto: dpa)

Vor den Europawahlen im kommenden Jahr blicken die EU-Spitzen mit Sorge auf die steigenden Umfragewerte für rechtspopulistische Parteien. Die Bekenntnisse zum Bürokratieabbau sollen den Bürgern nun zeigen: Wir haben verstanden.

„Wir müssen an das ‚One in, one out‘-Prinzip erinnern“, sagte Metsola. Einen pauschalen Regierungsstopp lehnt sie zwar ab: „Ich bin kein Fan des Wortes Moratorium.“ Um das Migrationsproblem in den Griff zu bekommen oder EU-Bürger im Internet zu schützen, seien neue Gesetze nötig. Die konservative Politikerin aus Malta mahnte aber an, die Kosten neuer Vorschriften genauer abzuschätzen und regelmäßig zu überprüfen.

„Ich bin eine Pragmatikerin“, sagte Metsola, es gehe darum, die richtige Balance zu halten. „Ich verstehe die Regierungschefs, die sagen: Ich kann nichts gegen den Zuwachs für Europaskeptiker unternehmen, wenn das Gefühl vorherrscht, dass die Bürokratie die Wirtschaft lähmt.“ In Brüssel werde zu oft über große Regulierungsvorhaben gesprochen – und sich zu wenig mit ihren Auswirkungen beschäftigt.

Als Beispiel nannte Metsola den Umstieg auf Elektroautos und die Sorge, dass chinesische Anbieter bald auf den europäischen Markt drängen und heimische Hersteller verdrängen. Allerdings vermied sie es, konkrete Maßnahmen zu benennen, mit denen Unternehmen entlastet werden können. Auch EU-Kommissar Breton hielt seine Ausführungen allgemein. „Es ist leicht, Strategien zu entwickeln, die Umsetzung ist sehr viel schwieriger“, räumte er ein.

Kommissionspräsidentin von der Leyen hatte ihre Beamten schon vor Monaten angewiesen, Vorschläge zu machen, wie die Behörde 25 Prozent der Berichtspflichten für Firmen streichen kann. Doch bisher ist nichts geschehen. Unternehmensvertreter fürchten, hingehalten zu werden – und rufen die nationalen Regierungen auf, in Brüssel zu intervenieren. 

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In dem Brief an den französischen Präsidenten Emmanuel Macron und den deutschen Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) mahnen führende Wirtschaftsverbände, unter anderem der Bundesverband der Deutschen Industrie und die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände, dass die Wettbewerbsfähigkeit Europas zunehmend in Gefahr gerate.

Eine Richtlinie sorgt für besonders viele Probleme

Vor allem an der Richtlinie über unternehmerische Sorgfaltspflicht – auch EU-Lieferkettengesetz genannt – stört sich die Wirtschaftslobby. Denn das europäische Vorhaben geht weit über das deutsche Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz und das französische Pendant hinaus.

Textilindustrie in Bangladesch

Unternehmen sollen sicherstellen, dass ihre Produkte sozialverträglich hergestellt wurden – und daher darauf achten, dass ihre Lieferanten, egal ob in Bangladesch oder im Kongo, keine Kinder beschäftigen.

(Foto: dpa)

Der Grundgedanke ist der gleiche: Unternehmen sollen sicherstellen, dass ihre Produkte sozialverträglich und nachhaltig hergestellt wurden – und daher darauf achten, dass ihre Lieferanten, egal ob in Bangladesch oder im Kongo, keine Kinder beschäftigen oder das Grundwasser vergiften. 

Die EU will aber nicht nur Großunternehmen, sondern auch Mittelständler zu entsprechenden Nachweisen verpflichten. Firmen mit 250 Mitarbeitern und einem Umsatz von 40 Millionen Euro sollen unter das Gesetz fallen. Außerdem soll die Sorgfaltspflicht für die gesamte Wertschöpfungskette gelten – und nicht nur für unmittelbare Zulieferer. In ihrem Brief warnen die Wirtschaftsverbände vor „gewaltigen rechtlichen Risiken“.

Im Streit um das Lieferkettengesetz entlädt sich viel Frust. Aber es ist nicht der einzige Grund, warum die Unternehmensverbände vor Überregulierung warnen. Die europäischen Institutionen sind ein Apparat, der ständig neue Vorschriften formuliert. Eine aktuelle Studie des Europaparlaments zeigt, dass die Kommission in der laufenden Legislaturperiode 610 Initiativen angekündigt hat. 221 davon sind verabschiedet, 199 werden derzeit beraten, 174 müssen noch vorgestellt werden. Nur 16 wurden bisher zurückgezogen.

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Michael Hüther, Direktor des IW Köln, machte sich bei einem Besuch in Brüssel für einen neuen Politikansatz stark, der weniger regulatorische Feinsteuerung erfordern würde: „Statt zu versuchen, jeden Einzelfall zu definieren und zu regeln, sollte die Verwaltung mehr Spielraum erhalten.“

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