„Eine echte Gefahr“ für Putins Regime

Riga Gut vier Autostunden östlich von Moskau, ausgerechnet in der Region Wladimir, liegt Melechowo, bekannt für das Hochsicherheitsgefängnis IK-6. Hierhin hat Russlands Präsident Wladimir Putin seinen bekanntesten Kritiker Alexej Nawalny verbannt, ein Ort, an dem Folter zum Leben der Gefangenen gehört. Schon seit über einem Jahr ist Alexej Nawalny dort inhaftiert, insgesamt hat er bisher zwei von neun Jahren seiner aktuellen Strafe verbüßt.

Am Freitag dürfte nun ein weiteres Urteil gegen Russlands bekanntesten Kremlkritiker ergehen: Die Staatsanwaltschaft wirft dem 47-Jährigen Extremismus vor – und fordert 20 Jahre Haft im Straflager.

„Wenn er zu 20 Jahren verurteilt wird, bedeutet das: solange Putin an der Macht ist. Und das ist genau, was Putin erreichen will“, sagt Alexander Libman. Der russische Politikwissenschaftler und Osteuropaexperte forscht seit Jahren an der Freien Universität Berlin. Libman ist sich sicher, dass Nawalny verurteilt wird. Im heutigen Russland unter Wladimir Putin rechne niemand mit einem überraschenden Freispruch. „Das zeigt auch, dass das Regime ihn als eine echte Gefahr einstuft“, schlussfolgert Libman.

Der Prozess findet unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt. Insgesamt brachte die Staatsanwaltschaft gegen Nawalny sieben Anklagepunkte vor, darunter Gründung und Finanzierung einer extremistischen Organisation sowie Verharmlosung des Nationalsozialismus. Nawalny leitet eine Anti-Korruptions-Organisation mit Büros in ganz Russland. Viele Beobachter bezeichnen die Anklagepunkte als absurd, nennen den Prozess einen Schauprozess, der auch dazu diene, mögliche Nachahmer abzuschrecken. International wird Nawalny als politischer Gefangener angesehen, er selbst weist alle Vorwürfe zurück.

Für Russlands Opposition ist Nawalny, wenn auch inhaftiert, dennoch wichtig, betont Libman. Im Westen sowie in der Ukraine herrscht seit langer Zeit die Hoffnung, Putin könne die Macht im Land verlieren.

Immer mehr Mitstreiter im Gefängnis

„Falls morgen ein Regimewechsel käme und die jetzige Opposition eine Chance hätte, die neue Ordnung mitzugestalten, wäre Nawalny eine der wichtigsten Figuren“, sagt Libman. „Da Nawalny in Russland verhaftet ist und all diese Unterdrückung auf sich nimmt, hat er massives moralisches Kapital“, sagt Libman. Die Opposition im Ausland hätte es hingegen weitaus schwerer, eine Wahl zu gewinnen, meint er. „Nawalny ist zwar im Gefängnis, aber er ist in Russland.“

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Auch Nawalnys Mitstreiter werden von den Behörden festgehalten. Ende Juli wurde Wadim Ostanin, der Nawalnys Büro in Bernaul in Sibirien leitete, wegen Extremismusvorwürfen zu neun Jahren Lagerhaft verurteilt. Ostanin war schon im November 2021 festgenommen worden. Davor wurde Nawalnys Mitarbeiterin Lilia Tschanyschewa, Büroleiterin in Baschkortostan, zu siebeneinhalb Jahren verurteilt, die Vorwürfe waren ähnlicher Art.

Anfangs wurden Nawalny und eine Reihe von Mitarbeitern seiner Anti-Korruptions-Organisation noch wegen angeblicher Wirtschaftsvergehen belangt. Nun wird ihnen Extremismus vorgeworfen.

Aus der Ukraine kommt Kritik an Nawalny 

Für Libman bedeutet das eine neue Dimension im Vorgehen des russischen Regimes gegen seine Gegner. „Die aktuelle Anklage zeigt ganz klar, dass die Maske gefallen ist: Jetzt verfolgt man die Widersacher des Regimes ganz offen wegen politischer Vorwürfe“, so der Wissenschaftler. Dass Nawalnys Team unter diesen Bedingungen noch effektiv zusammenarbeiten kann, glaubt er nicht.

Wenn er zu 20 Jahren verurteilt wird, bedeutet das: solange Putin an der Macht ist. Und das ist genau, was Putin erreichen will. Alexander Libman, Russland-Experte Freie Universität Berlin

Nawalnys aktuelle Haftstrafe basiert auf einer Verurteilung wegen angeblichen Betrugs. Im Sommer 2020 war der studierte Jurist auf einem Flug innerhalb Russlands mit dem Nervengift Nowitschok vergiftet worden, er wurde daraufhin in Deutschland behandelt, kehrte nach seiner Genesung nach Russland zurück und wurde bei der Ankunft umgehend von den Sicherheitsbehörden verhaftet.

In der Ukraine ist Nawalny umstritten. Kritik gab es beispielsweise, als Anfang des Jahres der Dokumentarfilm „Nawalny“ mit einem Oscar ausgezeichnet wurde oder als Nawalny Igor Girkin als „politischen Gefangenen“ bezeichnete, nachdem dieser kürzlich von den russischen Behörden festgenommen worden war. Girkin war in den Niederlanden für den Abschuss des Flugzeugs MH-17 im Jahr 2014 verurteilt worden. Nawalny hat eine nationalistische Vergangenheit und kritisierte die Krim-Annexion 2014 zunächst nicht.

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