Berlin In einer historischen Turbinenhalle, mitten im Bezirk Berlin-Moabit, spielt ein Jazz-Quartett Arbeiterlieder, Arbeitsminister Hubertus Heil hält die Festrede. Vor 150 Jahren, in einer Zeit harter Klassengegensätze, sei der Grundstein für die Sozialpartnerschaft gelegt worden, lobt der SPD-Minister. Im damaligen Kaiserreich gab es den historischen Handschlag zwischen der neu formierten Buchdruckergewerkschaft und den im Deutschen Buchdruckverein organisierten Arbeitgebern – der erste Flächentarifvertrag trat in Kraft. „Tarifverträge sind heute aus unserer Sozialen Marktwirtschaft nicht mehr wegzudenken“, sagt Heil.
Doch stimmt das wirklich? Daran sind ernste Zweifel angebracht. Im Mai stand ein zweites Jubiläum an, bei dem es aus Verdi-Sicht eher weniger Grund zum Feiern gab: Vor zehn Jahren, am 14. Mai 2013, legten erstmals Amazon-Beschäftigte in den Verteilzentren Bad Hersfeld und Leipzig die Arbeit nieder, um den US-Konzern zur Anerkennung des Flächentarifs im Einzel- und Versandhandel zu bewegen. Doch trotz immer neuer Streiks: Dieses Ziel ist bis heute nicht erreicht.
Das Pathos, mit dem an die tapferen Buchdrucker erinnert wurde, will nicht recht zur aktuellen Realität des Flächentarifs und der Tarifbindung allgemein passen. So wie Amazon wollen auch viele andere Unternehmen nichts oder nichts mehr von kollektiven Verträgen mit einer Gewerkschaft wissen. So sehr die Tarifbindung in politischen Sonntagsreden auch hochgehalten wird – sie schwindet gewaltig.
2022 arbeitete knapp jeder zweite Beschäftigte in einem tarifgebundenen Betrieb
Laut Statistischem Bundesamt arbeitete im vergangenen Jahr nur noch knapp jeder zweite Beschäftigte in einem tarifgebundenen Betrieb. Zur Jahrtausendwende waren es noch gut zwei von drei. Weiter aufgeschlüsselte Daten liefert das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB).
Demnach waren im vergangenen Jahr nur noch 23 Prozent der Betriebe und 41 Prozent der Beschäftigten an einen Tarifvertrag gebunden, der für eine ganze Branche gilt – also den gerade gefeierten Flächentarif. Firmen- oder Haustarifverträge galten für weitere zwei Prozent der Betriebe und zehn Prozent der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer.
Aus Sicht der Gewerkschaften ist die seit Jahren sinkende Tarifbindung ein Skandal. „Es ist der Auftrag des Grundgesetzes, die Arbeitsbeziehungen sozialpartnerschaftlich zu gestalten“, sagt Yasmin Fahimi, Chefin des Deutschen Gewerkschaftsbunds (DGB).
Denn in Artikel 9, Absatz 3 der Verfassung heißt es: „Das Recht, zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbeziehungen Vereinigungen zu bilden, ist für jedermann und für alle Berufe gewährleistet.“
Es möge im Einzelfall subjektive Gründe geben, bei diesem „Spiel“ nicht mitzumachen, sagt Fahimi. „Aber wenn das zum Massenphänomen wird – und das ist es inzwischen –, dann muss man sich irgendwann die Frage stellen, ob noch weiter tatenlos zugesehen werden kann, wenn der Auftrag aus der Verfassung an die Sozialpartner aufgekündigt wird.“
Flächentarif wird zum Auslaufmodell
Für die Gewerkschaften liegen die Vorzüge der Tarifbindung auf der Hand. Vollzeitbeschäftigte in tariflosen Betrieben arbeiten im Schnitt 54 Minuten pro Woche länger und verdienen trotzdem knapp elf Prozent weniger als ihre Kolleginnen und Kollegen in Betrieben mit Tarifvertrag, hat die gewerkschaftsnahe Hans-Böckler-Stiftung ermittelt.
Von einer flächendeckenden Tarifbindung würden aus Sicht des DGB nicht nur die Beschäftigten mit einer um 42 Milliarden Euro erhöhten Kaufkraft profitieren. Auch die Sozialkassen hätten Mehreinnahmen von rund 30 Milliarden Euro im Jahr – und der Fiskus zusätzliche Steuereinnahmen von 18 Milliarden Euro.
Doch die Arbeitgeber sehen in Artikel 9 des Grundgesetzes keine Pflicht für Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften, die Arbeitsbeziehungen sozialpartnerschaftlich zu regeln, sondern ein Angebot, das auch das Recht beinhalte, bei dem von Fahimi gerühmten „Spiel“ eben nicht mitzumachen. Man spricht dann von „negativer Koalitionsfreiheit“.
Diese wird beispielsweise am südwestlichen Ende der Republik hochgehalten, wo der Schwarzwald von meist kleinen mittelständischen Betrieben gesprenkelt ist. Hier vertritt der Wirtschaftsverband Industrieller Unternehmen Baden (WVIB) die Interessen von gut 1000 Mitgliedsfirmen. Rund 90 Prozent von ihnen sind nicht oder nicht mehr tarifgebunden.
„Wir erleben eine starke Emotionalisierung und Skandalisierung“, sagt Christoph Münzer, Hauptgeschäftsführer des WVIB. „Nach Lesart der Gewerkschaften ist ein Betrieb ohne Tarifvertrag ein schlechter Betrieb. Mit dieser Sichtweise würden 90 Prozent unserer Mitgliedsfirmen kriminalisiert.“
Aus Sicht der in einer Branche Beschäftigten sorgt der Tarifvertrag für eine Gleichheit der Lebensverhältnisse – egal, ob sie in Flensburg oder Kempten arbeiten. Für die Arbeitgeber schafft er ein „Level Playing Field“, weil kein Unternehmen sich allein über niedrige Lohnkosten Wettbewerbsvorteile verschaffen kann.
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Doch wenn heute überhaupt noch neue Tarifverträge geschlossen werden, dann sind es meist Haus- oder Firmentarifverträge, die nur für ein einzelnes Unternehmen gelten. Und viele wollen nicht einmal das.
Vorbehalte gegen Tarifbindung
Ortswechsel von Baden an die Küste, wo die IG Metall einen Kampf geführt hat, der an Don Quijote erinnert. Statt um Windmühlen ging es um Windräder – und um knappe Arbeitskräfte, die für die Energiewende dringend benötigt werden. Und die kann man aus Sicht der Gewerkschaft nur mit vernünftigen Arbeitsbedingungen gewinnen.
Seit November 2022 hat sich die IG Metall deshalb mit immer neuen Arbeitskämpfen bemüht, dem dänischen Windkraftanlagenhersteller Vestas einen Tarifvertrag abzuringen. Nach 123 Tagen Streik, einem der längsten in der Geschichte der Metaller, war sie endlich am Ziel.
Bei ausländischen Eigentümern werde oft das duale System aus Betriebsrat und Gewerkschaft nicht so richtig verstanden, beschreibt Daniel Friedrich, Leiter des IG-Metall-Bezirks Küste, die anfängliche Skepsis des Arbeitgebers. Wenn man sich mit dem Betriebsrat einige, warum müsse dann auch noch die Gewerkschaft mitreden?
Offenbar habe es zudem die Befürchtung gegeben, dass tarifliche Errungenschaften aus Deutschland dann auch nach Dänemark überschwappen könnten, sagt Friedrich. Doch führte die Hartnäckigkeit der Beschäftigten schließlich zum Erfolg: „Mit Solidarität, Kraft und Ausdauer lässt sich viel erreichen“, betont der Gewerkschafter – „hoffentlich bald auch in vielen anderen Betrieben der Windbranche, die bei Tarifverträgen noch Nachholbedarf haben.“
Aber nicht nur bei ausländischen Eigentümern gibt es Vorbehalte gegen die Tarifbindung. Arbeitgeber führen an, dass die Regelungen viel zu komplex geworden seien. Statt Mindestbedingungen festzulegen, haben viele Tarifverträge eine Detailtiefe erreicht, die immer mehr Unternehmen überfordert.
Um zu verhindern, dass mit dem Flächentarif unzufriedene Unternehmen ihrem Verband Adieu sagen, haben die Metallarbeitgeber – wie auch andere Branchen – eine Mitgliedschaft ohne Tarifbindung eingeführt, die sogenannte OT-Mitgliedschaft. Die Unternehmen genießen die Vorzüge einer Verbandsmitgliedschaft wie beispielsweise Rechtsberatung, ohne sich dem Tarif unterwerfen zu müssen.
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Seit 2016 übersteigt die Zahl der OT-Mitglieder in der Metallindustrie die der tarifgebundenen Unternehmen. Die Gewerkschaften würden deshalb OT am liebsten verbieten lassen. Allerdings bleiben in der Metallindustrie vor allem die großen Betriebe dem Tarif treu. Die Zahl der Beschäftigten im Flächentarif liegt seit OT-Einführung 2005 annähernd stabil bei 1,8 Millionen.
Geredet wird über das Thema Tarifbindung nur ungern – bei den Verbänden und erst recht bei den Unternehmen selbst. „Bitte haben Sie Verständnis, dass wir uns in dieser Angelegenheit nicht äußern möchten“, antwortet beispielsweise Amazon auf eine entsprechende Anfrage.
28 Prozent der Beschäftigten im Einzelhandel sind im Tarifvertrag
Eine Ausnahme macht dm mit seinen rund 46.300 Beschäftigten in Deutschland. Der Drogeriewarenhändler hat so ziemlich alles im Angebot, was in deutschen Badezimmern steht – Cremes, Seifen oder Deos. Nur einen Tarifvertrag, den gibt es nicht.
Das Unternehmen steht damit nicht allein. Im Einzelhandel profitieren nur noch 28 Prozent der Beschäftigten von Flächen- oder Haustarifverträgen. Bei dm gilt der Tarif aber dennoch als Orientierungsgröße, wie Christian Harms erläutert, der in der Geschäftsleitung für das Ressort Mitarbeiter zuständig ist.
So wird im Arbeitsvertrag geregelt, dass als Untergrenze bei der Bezahlung der jeweilige regionale Einzelhandelstarif gilt. Auch die Eingruppierung je nach Erfahrung richtet sich am Tarif aus.
Außerdem hat dm im Oktober 2022 einen unternehmensinternen Mindestlohn von 14 Euro brutto pro Stunde eingeführt. Das unterste Gehalt liegt damit höher als von Verdi aktuell im Tarifkonflikt für den Einzelhandel in Nordrhein-Westfalen gefordert.
Trotzdem würde die Gewerkschaft dem Unternehmen gerne einen Anerkennungstarifvertrag abringen, also tariflich festschreiben, dass dm sich an den Einzelhandelstarif halten muss. Harms hält das für wenig sinnvoll: „Ein Anerkennungstarifvertrag kann jederzeit gekündigt werden. Die Bezugnahme über den Arbeitsvertrag lässt sich dagegen fast nur im Wege einer Änderungskündigung aufheben“, sagt er.
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Allerdings habe Tarifbindung einen rechtsverbindlichen Charakter, während der Arbeitgeber alles, was er freiwillig mache, auch wieder zurücknehmen könne, erwidert Sebastian Riesner, Geschäftsführer der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG) in Berlin und Brandenburg.
In seinem Bezirk, da, wo die Hauptstadt am südöstlichen Rand langsam in Felder und Industriebrachen ausläuft, erhebt sich wie eine futuristische Trutzburg Deutschlands größtes Hotel. Das Estrel hat mehr als 1100 Zimmer, Europas größtes Kongresszentrum, einen Schiffsanleger an der Spree – aber keinen Tarifvertrag.
Mit 20 Prozent ist die Tarifbindung der Beschäftigten im Gastgewerbe noch niedriger als im Einzelhandel. Doch um überhaupt noch Arbeitskräfte zu finden, bieten viele Unternehmen Bedingungen, die über den Tarif hinausgehen.
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„Wir hören von Betrieben, die neuen Mitarbeitern 30 Tage Urlaub gewähren, weil sie sonst keine Leute mehr kriegen, und Beschäftigte, die schon jahrelang dabei sind, haben nur 28 Tage“, sagt Riesner. Das schaffe Unfrieden im Betrieb und sei auch eine Zwickmühle für die NGG-Betriebsräte, die der Einstellung neuer Kräfte ja zustimmen müssten.
Heil arbeitet an Bundestariftreuegesetz
Für DGB-Chefin Fahimi ist Tarifbindung längst nicht nur eine Frage von gewerkschaftlicher Durchsetzungsmacht. „Die Tarifflucht der Arbeitgeber ist in den meisten Fällen ideologisch motiviert“, sagt sie. Viele Arbeitgeber böten den Beschäftigten gerne ordentliche Gehälter und vernünftige Arbeitsbedingungen, wollten aber aus Prinzip die Gewerkschaft nicht im Haus haben.
Deshalb soll jetzt die Politik helfen. Arbeitsminister Heil arbeitet an einem Bundestariftreuegesetz mit dem Ziel, dass Firmen nur noch dann Aufträge vom Bund erhalten sollen, wenn sie sich an einschlägige Tarifverträge halten. Auch in anderen Gesetzen, beispielsweise zur Einwanderung, sind bestimmte Vorteile an eine Tarifbindung geknüpft.
Berlin bekommt dabei auch Druck aus Brüssel. Nach der im vergangenen Oktober verabschiedeten EU-Richtlinie über angemessene Mindestlöhne sollen Mitgliedstaaten mit einer tarifvertraglichen Abdeckung der Beschäftigten von weniger als 80 Prozent einen Aktionsplan zur Förderung von Tarifverhandlungen erstellen.
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Auf der Arbeitgeberseite stößt das auf erheblichen Widerspruch. „Wir sollten aufhören mit solchen planwirtschaftlichen Ideen, weil wir doch ganz andere Probleme haben“, sagt Gesamtmetall-Hauptgeschäftsführer Oliver Zander. Deutschland sei aktuell kein modernes Land. Wenn die Politik diesen Reformstau aufgelöst habe, könne sie sich gerne auch wieder um die Tarifbindung kümmern.
Die ständige Einmischung des Gesetzgebers werde die Tarifbindung nicht fördern, sagt auch Arbeitgeberpräsident Rainer Dulger. „Jeder Sozialpartner muss seine organisatorischen Herausforderungen selbst und nicht mithilfe des Staates lösen.“
So wie die Buchdrucker, die vor 150 Jahren ihr Schicksal selbst in die Hand nahmen. Um ihr tarifpolitisches Vermächtnis wird heute hart gerungen.
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