Das Italien von Giorgia Meloni ist ein gespaltenes Land

Casoria, Villafranca di Verona Unkraut wuchert im Hof, das Absperrgitter verrostet, die Fassade blättert ab: Seit Jahren verfällt das „Cinema Rossi“, einst ein schillerndes Programmkino, mitten im Zentrum von Casoria. An vielen Ecken der Kleinstadt im Norden Neapels stehen Läden leer, Müll stapelt sich auf dem Boden, selbst das alte Rathaus ist mit Graffiti beschmiert.

Bis zu zwölfgeschossige Wohnblocks ragen hier in den Himmel. Überall hängen Schilder, die Wohnungen zum Kauf oder zur Miete anbieten. Ein Elektromarkt wirbt für Ratenzahlung – die erste Tranche wird erst an Ostern fällig. Daneben hängt eine Reklame für ein Beerdigungsinstitut, das Familien einen Bonus von 650 Euro zahlt, wenn das Haushaltseinkommen unter 30.000 Euro liegt.

Gut 700 Kilometer weiter nördlich, das gleiche Land, ein komplett anderes Bild: In Villafranca di Verona thront eine Burg aus dem 14. Jahrhundert über der Stadt. Vor dem Eingangstor sind Stiefmütterchen feinsäuberlich in Blumenkästen gepflanzt, neben der Steinmauer erstreckt sich ein tannengesäumter Park mit Spielplatz. Die meisten Häuser sind pastellfarben, die Fassaden frisch getüncht, kleine Boutiquen reihen sich an Bars und Restaurants, abends sind die neuen Sitzbänke der Hauptstraße beleuchtet.

Italien ist mehr denn je in zwei Teile aufgesplittet: Hier der arme und subventionsabhängige Süden, dort der reiche Norden. Die Pandemie hat die Unterschiede noch weiter verstärkt. Gleichsam geht ein ideologischer Riss durch den Stiefel: Bei der Parlamentswahl Ende September hat vor allem der Norden rechts gewählt, im Süden kamen die linken Parteien auf mehr Stimmen.

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Es sind zwei Italiens, die die neue Regierungschefin Giorgia Meloni nun vereinen muss – wirtschaftlich, sozial und politisch. Am Sonntag wurde die Chefin der postfaschistischen Partei Fratelli d’Italia vereidigt, an diesem Dienstag und Mittwoch muss sie noch die Vertrauensfrage im Parlament überstehen – was angesichts einer deutlichen Mehrheit des Rechtsbündnisses aber nur als Formsache gilt.

Jugendliche finden keine Perspektive mehr

„Reich war unsere Stadt noch nie“, sagt Raffaele Ferrara. „Aber Corona hat uns den letzten Schlag versetzt.“ Ferrara ist Pfarrer in der „Santa Maria delle Grazie“, einer kleinen Barockkirche im Zentrum Casorias. Mehr als 200 Familien kommen jeden Abend zur Essensausgabe, die seine Gemeinde organisiert. Neben Lebensmitteln stellen sie auch Stifte und Hefte für Schüler bereit. Nach dem Unterricht bieten sie eine kostenlose Nachmittagsbetreuung an.

Pfarrer Don Raffaele in Casoria

200 Familien kommen zur Essensausgabe der Kirchengemeinde.


(Foto: Wermke/Handelsblatt)

„Geschäfte wurden geschlossen, viele Bürger haben in der Pandemie ihre Jobs verloren“, erzählt Don Raffaele, wie ihn hier alle nennen. Nur das Grundeinkommen, das die linke Fünf-Sterne-Bewegung 2019 eingeführt hat, habe viele Menschen durch die Coronazeit gebracht.

Es ist für den 40-Jährigen auch die Erklärung für das deutliche Wahlergebnis: In dem Wahlkreis, zu dem Casoria gehört, votierten 48 Prozent der Wähler für die Sterne-Bewegung. Die Senatskandidatin der Linken holte sogar knapp 50 Prozent der Stimmen. Italienweit kam die Partei gerade mal auf 15 Prozent. „Die Menschen haben Angst, dass ihnen das Grundeinkommen von den Rechten wieder genommen wird“, sagt Don Raffaele. Denn das war die Ankündigung von Meloni und Co. im Wahlkampf: Die Leistung wird kassiert, weil sie zu oft missbraucht wird.

An sich sei das Grundeinkommen eine gute Sache, findet der Pfarrer. „Aber anders als bei euch in Deutschland gibt es hier im Süden keine Jobs.“ Ohne Arbeit fehle der Anreiz, aus der staatlichen Abhängigkeit herauszukommen. „So werden daraus ewige Subventionen ohne Gegenleistung.“ Die Jugendlichen fänden hier im Ort keine Perspektive. Sie gingen nach Neapel, nach Rom, nach Norditalien. Viele verschwänden auch ins Ausland. Innerhalb von zehn Jahren ist die Bevölkerung‧ um mehr als 5000 Einwohner geschrumpft – auf heute rund 73.000 Menschen.

Casoria: Seit zwei Jahren in finanzieller Notlage

Seit Jahrzehnten ist Casoria in der Hand von Mitte-links-Parteien – und seit jeher hoch verschuldet. Vor zwei Jahren rief die Gemeinde die finanzielle Notlage aus, weil sie ihre Schulden nicht mehr selbst tragen kann. „Sie belaufen sich auf schätzungsweise 40 Millionen Euro“, heißt es auf Nachfrage aus der Stadtverwaltung. Bis 2025 kümmert sich eine vom Innenministerium eingesetzte Kommission um Casorias Finanzen – die Befugnisse der Gemeinde sind in dieser Zeit stark eingeschränkt.

Zerfallenes Kino in Casoria

Abbröckelnde Fassaden direkt im Zentrum der Stadt.


(Foto: Wermke/Handelsblatt)

Im Jahr 2021 befanden sich rund fünf Prozent der italienischen Gemeinden in finanziellen Schwierigkeiten, wie aus einem Bericht des italienischen Observatoriums für öffentliche Finanzen hervorgeht. Die Daten für den Süden des Landes zeichnen demnach „ein besorgniserregendes Bild“: In Sizilien befinde sich fast jede fünfte Gebietskörperschaft in Problemen. In den anderen Süd-Regionen Kalabrien, Kampanien, Molise und Apulien sind es mehr als zehn Prozent der Gemeinden.

In Casoria beziehen rund 3000 Familien das Grundeinkommen. „Die Pandemie hat die Krise der wenigen Unternehmen in der Region verschärft, neue Arbeitslosigkeit geschaffen und die Zahl der Leistungsempfänger weiter erhöht“, erklären Bürgermeister Raffaele Bene und seine Stadträte. Bene regiert hier seit 2019, trat damals für eine linke Bürgerliste an und ist vor anderthalb Jahren zu Italia Viva gewechselt, der Kleinstpartei von Ex-Premier Matteo Renzi.

Bene hofft, mit den Geldern aus dem EU-Wiederaufbaufonds das „Gesicht der Stadt tief greifend zu verändern“. Öffentliche Plätze sollen renoviert, neue Räume für Jugendliche und Senioren in von der Mafia beschlagnahmten Gebäuden geschaffen werden. Die Gemeinde träumt schon von Freiräumen für Kreativität, Kultur, Coworking-Spaces. Sie will die Nähe zu Neapel „im positiven Sinne nutzen“, neue Investitionen und Bürger anziehen.

Prekäre Jobs im Süden, unbefristete Stellen im Norden

Noch ist die Realität aber eine andere: An einem Kreisverkehr steht der „Chicken Store“. Die Stühle sind verdreckt, auf dem Boden liegen ungeöffnete Briefe, mit einer schwarzen Staubschicht überdeckt. Schräg gegenüber, im „Gran Caffè Santamaria“, serviert Letizia Espresso, Croissants und Panini. 28 Jahre war ihr Geschäft geöffnet, Ende Oktober schließen sie und ihr Mann den Laden für immer.

„Die Energiepreise sind gestiegen, die Miete hat angezogen, aber die Gehälter der Kunden sind nicht gestiegen. Es lohnt sich einfach nicht mehr.“ Café-Betreiberin Letizia

„Die Energiepreise sind gestiegen, die Miete hat angezogen, aber die Gehälter der Kunden sind nicht gestiegen“, sagt Letizia. Obendrein hätten zu viele andere Läden im Umkreis aufgemacht, die das Gleiche anbieten. „Es lohnt sich einfach nicht mehr.“ Die beiden sind noch jung, Ende 30, haben Kinder. „Wir werden schon was Neues finden“, ist sie überzeugt. Was: Das weiß das Paar noch nicht genau.

Es ist die Perspektivlosigkeit, die viele Italiener im Süden zunehmend in prekäre Jobs treibt. Im Jahr 2021 waren in Italien rund 25 Prozent der Bevölkerung von Armut und Ausgrenzung bedroht, wie eine europaweite Erhebung ergeben hat. Im Süden Italiens liegt der Anteil bei mehr als 41 Prozent, in der Region Kampanien, zu der Casoria gehört, ist es sogar die Hälfte. Das ist weit über dem EU-Schnitt von gut 20 Prozent. 2,45 Millionen Menschen leben im Süden sogar in absoluter Armut. Während im Norden des Landes in diesem Jahr viele unbefristete Stellen geschaffen worden sind, ist die Zahl der unbefristeten Jobs in Süditalien weiter gesunken, liegt weiter unter dem Niveau der Vor-Corona-Zeit.

„Mein Sohn Antonio arbeitet am Flughafen, hat im Vertrag vier Stunden pro Tag stehen“, sagt eine Passantin in den Fünfzigern. „Aber oft arbeitet er zehn Stunden.“ Beschweren könne er sich nicht darüber – es stünde sofort der Nächste bereit, der trotz der schlechten Konditionen einspringt. Eigentlich habe ihr Sohn Archäologie studiert, spreche gut Englisch, habe als Flugbegleiter bei Ryanair gearbeitet. „Er mag den Flughafen“, sagt seine Mutter. Aber auch der Job am Airport ist nur auf vier Monate befristet, für die Sommersaison. „Antonio hat geweint, als er den ersten Gehaltsscheck über 1100 Euro gesehen hat“, erzählt die Mutter. Das reiche bei der derzeitigen Inflation hinten und vorne nicht. Der 23-Jährige sei jetzt wieder bei ihr zu Hause eingezogen.

Villafranca di Verona: Knotenpunkt von Europas Logistikindustrie

Schaut man auf eine Karte von Europas größten Autobahntrassen, liegt Villafranca di Verona ziemlich genau im Zentrum. Hier kreuzen sich zwei der wichtigsten Straßenzüge des Kontinents: Die Mittelmeer-Autobahn verbindet Ungarn mit Portugal, die andere verläuft von Skandinavien über Deutschland bis nach Süditalien. Der „Interporto Quadrante Verona“ ist eines der größten Güterverkehrszentren Europas. Viele Logistikkonzerne haben sich an diesem Knotenpunkt niedergelassen, etwa Zalando, das hier vor gut zwei Jahren einen 130.000 Quadratmeter großen Logistik-Hub eröffnete, nur 13 Kilometer südlich von Villafranca.

Burg von Villafranca

Stiefmütterchen feinsäuberlich in Blumenkästen gepflanzt.


(Foto: Wermke/Handelsblatt)

Obendrein profitiert die 34.000-Einwohner-Gemeinde vom Tourismus: Der Flughafen Verona ist nicht weit, der Gardasee nur eine Viertelstunde Autofahrt entfernt, es gibt mit dem „Museo Nicolis“ ein Technikmuseum, in dem neben Oldtimern und Jukeboxen auch handsignierte Formel-1-Helme von Michael Schumacher stehen. „Der Wohnungsmarkt ist gerade sehr lebendig hier“, erklärt ein Mitarbeiter der Immobilienagentur Castello. Die Pandemie habe das nicht verändert. „Es wird jetzt nur noch mehr nach Terrassen und Gärten geschaut, um dem Stress der Großstadt zu entfliehen.“ Einzelhäuser verkauft er zwischen 400.000 und 700.000 Euro, je nach Lage und Zustand.

Schräg gegenüber der Agentur steht das rot getünchte Rathaus, in dem Bürgermeister Roberto Dall’Oca empfängt. Der 55-Jährige blickt auf gesunde Finanzen – und das seit Jahrzehnten. Rund 25 Millionen Euro hat der Ort an jährlichen Steuereinnahmen. „Und 25 Millionen davon geben wir auch wieder aus“, sagt Dall’Oca. Seit seinem Amtsantritt vor vier Jahren seien allein 20 Millionen Euro in die Infrastruktur geflossen: in Schulen, neue Straßen, Radwege. Trotz Pandemie habe er fast alle seine Wahlversprechen schon erfüllt, sagt der Bürgermeister. Klar, dass er im kommenden Jahr wieder kandidieren will.

Das Mindesteinkommen, das so viele Menschen in Casoria dringend brauchen, habe in Villafranca für Probleme auf dem Arbeitsmarkt gesorgt. „Früher sind die jungen Leute arbeiten gegangen. Heute bleiben sie mit 700 Euro zu Hause, obwohl es hier genügend Jobs gibt“, sagt Dall’Oca. Bars, Cafés und Restaurants – alle suchten nach Personal. „Gerade haben wir hier mehr Arbeit als Arbeitskräfte.“

Dall’Oca kandidierte vor vier Jahren für eine konservative Bürgerliste – sicherte sich aber die Unterstützung aller rechten Parteien im Stadtrat. Mit deutlicher Mehrheit haben ihn die Parteien ins Amt gehoben, die nun auch in Rom die Regierung stellen: Fratelli d’Italia, Lega und Forza Italia. „Wir sprechen hier im Norden von einem anderen Mitte-rechts-Spektrum“, betont Dall’Oca. „Es ist moderat und liberal, es gibt hier keinen Extremismus oder Faschismus.“

Roberto Dall’Oca

Der Bürgermeister von Villafranca di Verona hat kaum Finanzprobleme in seiner Gemeinde.


(Foto: Wermke/Handelsblatt)

Rechts stünde in der Region Venetien für Fortschritt, für Aufschwung, für Unternehmertum. Die Lega von Matteo Salvini, gerade frisch zum neuen Infrastrukturminister ernannt, hetzt im Süden gegen Migranten, ist hier im Norden aber fest als Partei der Unternehmerinnen und Firmenchefs verankert. In dem Wahlkreis der Provinz Verona, zu dem Villafranca gehört, votierten mehr als 58 Prozent der Wähler für das rechte Parteienbündnis – so viele wie nirgendwo sonst in Italien.

Melonis Distanzierung vom Faschismus

„Melonis Erfolg ist zum größten Teil ihr persönlicher“, glaubt Dall’Oca. Sie handele kohärent und verantwortlich. „Ich hoffe, dass sie eine politische Koalition hinbekommt, auf die Italien nach Jahren der Expertenregierungen gewartet hat.“ Und der Vorwurf der faschistischen Vergangenheit, dem sich Meloni immer wieder stellen muss? „Ich glaube, dass sie ihre Position klargemacht hat, das sind überholte Diskussionen.“ Niemand wolle die Vergangenheit zurückholen.

>> Lesen Sie hier: Mussolini-Verehrer und Russland-Freund – das sind Giorgia Melonis mächtigste Männer im Parlament

In ihrer ersten Parlamentsrede am Dienstag distanzierte sich Meloni dann auch so deutlich wie bisher noch nicht: Sie habe nie Sympathie oder Nähe zu antidemokratischen Regimen empfunden. Das gelte für jedes Regime, „einschließlich des Faschismus“, erklärte die 45-Jährige. Die Rassengesetze von 1938 bezeichnete sie „als Tiefpunkt der italienischen Geschichte“ und „Schande“.

Meloni muss nun nicht nur das politisch zerstrittene Volk einen. Kommendes Jahr wird Italien genau wie Deutschland in die Rezession rutschen. Die neue Regierungschefin muss schnelle Hilfspakete für Unternehmen und Familien auf den Weg bringen, um die steigenden Energiepreise abzufedern – und gleichzeitig die strukturellen Reformen weiterführen, die ihr Vorgänger Mario Draghi so kraftvoll begonnen hat. Nur durch Wachstum kann sich das Land langfristig aus der Verschuldung befreien, die bei derzeit 150 Prozent der Wirtschaftsleistung liegt.

Ökonomisch gibt es extreme Unterschiede im Land. Nordregionen wie die Lombardei, Venetien oder Emilia-Romagna können wirtschaftlich mit Bundesländern wie Bayern oder Baden-Württemberg mithalten. Die Lombardei kam 2020 auf eine Wirtschaftsleistung von 38.200 Euro pro Kopf. In Kalabrien, der Stiefelspitze, waren es nur 17.100 Euro.

Aber ganz sorgenfrei ist derzeit nicht einmal der Norden. Villafrancas Bürgermeister etwa treibt die Energiekrise um. Für viele Firmen am Ort hätten sich die Rechnungen verdreifacht. „Sie stehen jetzt vor der Frage, ob sie noch die finanzielle Kraft haben oder vorübergehend in Kurzarbeit gehen müssen“, sagt Dall’Oca.

Mehr: In ihrer ersten Rede als Italiens Regierungschefin gibt sich die rechte Politikerin überraschend moderat.

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