„Wir müssen uns unabhängiger machen“

Frankfurt Der Ukrainekrieg hat aus Sicht des Chefs der Deutschen Bank, Christian Sewing, gezeigt, wie gefährlich es für Europa ist, zu abhängig von einzelnen Ländern oder Regionen zu sein. Die Debatte darüber sollte sich aus seiner Sicht nicht auf Rohstoff- und Energieimporte aus Russland beschränken, sondern auch die Abhängigkeit der deutschen Wirtschaft von China miteinschließen. 

Denn aus der zunehmenden Abschottung des Landes und den wachsenden Spannungen zwischen China und den USA erwachsen für Deutschland aus seiner Sicht erhebliche Risiken. „Diese Abhängigkeit zu verringern, wird einen mindestens ebenso fundamentalen Wandel erfordern wie die Entkoppelung von russischer Energie“, sagte der Deutsche-Bank-Chef. Im Gespräch mit Handelsblatt-Chefredakteur Sebastian Matthes erklärt Sewing genauer, wie das funktionieren kann.

Herr Sewing, Sie fordern eine größere Unabhängigkeit der deutschen Wirtschaft von China. Wie kann dieser fundamentale Wandel aussehen?
China ist und bleibt ein extrem wichtiger Handelspartner für Deutschland, und ich meine nicht, dass ich das abschalten will – ganz im Gegenteil. Aber ein Risikomanager muss sich nach den Erfahrungen mit der Energieabhängigkeit von Russland fragen, auf welchen Feldern uns Ähnliches passieren könnte, wenn es zu geopolitischen Spannungen kommt. Und wir können den sich zuspitzenden geopolitischen Konflikt zwischen China, Taiwan und den USA ja nicht ganz wegdiskutieren. 

Was folgt daraus?
Das Gebot der Stunde ist, dass wir uns alle – Unternehmen wie Banken – immer wieder fragen, welche Möglichkeiten es gibt, die Abhängigkeit von einzelnen Märkten zu reduzieren und uns zu diversifizieren. Ich glaube, genau das geschieht gerade: Viele Kunden fragen uns nach Rat, wie sie ihre Wertschöpfungsketten zum Beispiel in andere Länder transferieren können und wie sie Lieferketten und Rohstoffversorgung sicherstellen können. 

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Wohin orientieren sich die Unternehmen?
Nach Südostasien zum Beispiel, aber auch nach Lateinamerika – auch Afrika ist ein Kontinent, der in diesen Gesprächen mit Kunden enorm an Bedeutung gewinnt.

Fakt ist aber auch: Diese Diversifizierung ist in der Theorie immer einfacher als in der wirtschaftlichen Realität.
Klar, das kann man nicht in den nächsten zwei, drei Jahren bewerkstelligen, das ist ein langfristiger Prozess. Aber wenn wir es jetzt nicht angehen, könnten wir uns in drei oder vier Jahren fragen, ob wir uns dieser Herausforderung nicht eher hätten stellen müssen. Es geht hier nicht um einen Rückzug, es geht darum, auch andere Märkte zu erschließen.

Ihre Sorgen scheinen nicht alle zu teilen. Die Direktinvestitionen der deutschen Wirtschaft in China haben gerade neue Rekordmarken erreicht.
Das muss man sich schon sehr genau ansehen. Wichtig ist: Wir haben es hier auch mit einer gegenseitigen Abhängigkeit zu tun. China nimmt nicht nur acht Prozent der deutschen Exporte ab, sondern stellt auch zwölf Prozent der deutschen Importe. Dennoch muss sich jeder Risikomanager nun fragen, wie sich diese Abhängigkeiten verringern lassen.

Christian Sewing im Gespräch mit Handelsblatt-Chefredakteur Sebastian Matthes

Der Chef der Deutschen Bank erwartet erst spät im Jahr 2024 moderatere Inflationsraten.


(Foto: Marc-Steffen Unger für Handelsblatt)

Was bedeutet das für die Automobilindustrie? Gerade bei deutschen Konzernen ist die Abhängigkeit von China gigantisch.
Auch in der Automobilbranche finden sicherlich solche Überlegungen statt. Allerdings muss man auch sehen, dass in China gerade auch der Markt im Automobilbereich weiter wächst. Deshalb ist klar, dass die Automobilhersteller hier sehr ausbalanciert vorgehen müssen.

Was bedeutet das alles für die Deutsche Bank und ihr Geschäft in China? Wird das auch auf den Prüfstand gestellt?
Natürlich überprüfen wir das selbst auch fortlaufend. Ich kann nicht meinen Kunden raten, sich und ihre Abhängigkeiten zu überprüfen, und es selbst unterlassen. Die direkte Abhängigkeit der Deutschen Bank von China ist deutlich geringer als bei vielen anderen Dax-Unternehmen. Aber wir arbeiten mit unseren Kunden, und wenn unsere Kunden von China abhängig sind, sind wir das indirekt mit unserem Geschäft auch. Wir sollten deshalb gemeinsam mit unseren Kunden versuchen, gute Lösungen zu finden.

Ein anderes drängendes Problem ist die Gaskrise. Einige Ökonomen betrachten Deutschland deswegen schon wieder als den kranken Mann Europas. Ist das übertrieben?
Ja, wir sollten nicht alles kleinreden, was wir hier geschaffen haben. Dieses Land hat eine enorme Widerstandskraft. Wenn Sie sich die Verschuldung, die Liquiditätslage und die Kapitalausstattung ansehen, dann sind deutsche Firmen deutlich besser aufgestellt als etwa in der Finanzkrise in den Jahren 2007 und 2008. Darauf sollten wir uns natürlich nicht ausruhen, im Gegenteil. Wir müssen deshalb jetzt die langfristig richtigen Schritte wählen. 

Was bedeutet das? Wie viele Hilfspakete kann sich Deutschland eigentlich leisten?
Zunächst einmal ist es richtig, dass wir in der aktuellen Situation über diese Rettungspakete reden und das Geld dafür auch ausgeben. Gerade Kleinverdiener spüren die enormen Preissteigerungen. 

Mit welchen Konsequenzen?
Es gibt in Deutschland viele Familien, bei denen die monatlichen Ausgaben jetzt über den monatlichen Einnahmen liegen. Das heißt, ein materieller Anteil der privaten Haushalte in Deutschland lebt zurzeit von seinen Ersparnissen. Das ist gefährlich. Deshalb sind die Unterstützungspakete richtig. Aber natürlich müssen wir auch über die dauerhafte Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands reden. 

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Und die ist durch die hohen Energiepreise in Gefahr.
Ja, wir müssen uns auf der Energieseite unabhängiger machen. Energie und insbesondere Gas werden auf Jahre hinaus deutlich teurer sein. Internationale Investoren kalkulieren bereits fest ein, dass Europa und auch Deutschland über Jahre hinweg deutlich höhere Energiepreise haben werden.

Braucht es nicht auch eine Debatte, wo in Zukunft überhaupt Wachstum herkommen soll?
Wir müssen darüber reden, dass die Firmen in Deutschland und in Europa wieder wettbewerbsfähiger werden. Da geht es auch um Regulierung, etwa mit Blick auf die grüne Transformation. Die Vorschriften hierfür erstrecken sich auf viele Seiten. Das betrifft nicht nur Banken, sondern alle Unternehmen in Europa. Ein Großkonzern kann es sich vielleicht noch leisten, Tausende Seiten Regulierungsvorgaben zu lesen, ein Mittelständler kann das nicht stemmen. Wir dürfen nicht das Silicon Valley der Regulierung werden.

Welche Rolle spielt die Steuerpolitik?
Die Steuerquote ist gegenüber anderen OECD-Staaten zu hoch. Das heißt: Die Unternehmensteuern müssen runter. 

Wer sagt, dass die so eingesparten Mittel für Investitionen verwendet werden – und nicht für Dividenden oder Aktienrückkäufe?
Natürlich sind Ausschüttungen auch Teil einer Unternehmensstrategie. Aber der wichtigste Teil der Strategie ist, in Innovationen zu investieren.

In welche Innovationen?
Vor allem in die Transformation zu einer grünen Ökonomie. Da hat Europa einen großen Wettbewerbsvorsprung gegenüber Asien und Amerika. Wenn wir da investieren, haben wir eine Chance, Vorreiter in einem Bereich zu sein, der die nächsten Jahrzehnte dominieren wird. Damit könnten wir wieder Wachstum generieren und die Wettbewerbsfähigkeit in Europa sichern.

Kurzfristig müssen wir erst einmal sehen, wie wir über den Winter kommen. Rollt auf uns eine Insolvenzwelle zu – und damit deutlich steigende Kreditausfälle?
Zurzeit sehen wir das nicht. Die gesamte Bankenbranche in Deutschland ist meiner Einschätzung nach recht konservativ in ihrer Kreditvergabe gewesen. Und auch die deutschen Unternehmen sind stabiler als noch vor 15 Jahren. Wir werden dennoch sicherlich in diesem Jahr mehr Insolvenzen und auch höhere Kreditausfälle sehen, aber alles in einem Rahmen, der meines Erachtens gut verkraftbar ist.

Gilt das auch für Ihr Haus?
Wir haben schon vor einiger Zeit gesagt, dass wir in diesem Jahr von Kreditausfällen ausgehen, die leicht über unserer ursprünglichen Planung aus dem vergangenen Jahr liegen werden. Daran hat sich nichts geändert, und damit liegen wir in einem Rahmen, der mich gut schlafen lässt.

Die Renditeziele für den Konzern für dieses Jahr sind also auch angesichts des russischen Gaslieferstopps nicht Makulatur?
Wir haben ein erstes Halbjahr hingelegt, auf das wir alle sehr stolz sind – das beste erste Halbjahr seit 2011. Wir haben dies trotz einer deutlich kleineren Bilanzsumme und mit einer deutlich besseren Liquiditäts- und Kapitalausstattung geschafft. Im ersten Halbjahr haben wir unser Renditeziel von acht Prozent erreicht. Wir haben aber auch bereits gesagt, dass das zweite Halbjahr vor dem Hintergrund des kommenden Winters und der Gesamtsituation schwieriger wird, das ist auch klar.

Wann erwarten Sie für die Wirtschaft eigentlich die schwierigste Zeit? Schon im vierten Quartal oder erst im kommenden Jahr?
Für die gesamte Wirtschaft ist es sicher sehr richtig, für die kurzfristigen Nöte die Pakete zu schnüren, die gerade diskutiert werden. Die nächsten zwei Jahre dürfen wir aber tatsächlich nicht aus dem Blick verlieren. Auch wenn die Zentralbank so agiert, wie wir es jetzt erwarten, müssen wir uns dauerhaft auf eine höhere Inflation einstellen.

Warum?
Weil es neben den Energiepreisen auch weitere strukturelle Preistreiber gibt. Dem Inflationsziel von ungefähr rund zwei Prozent werden wir wohl erst im zweiten Halbjahr 2024 wieder nahekommen. Das bedeutet natürlich auch, dass die Wirtschaft im Jahr 2023 noch durch eine sehr herausfordernde Zeit gehen wird.

Spricht das für einen EZB-Zinsschritt um 0,75 Prozentpunkte?
Ich bin sehr froh, dass die EZB eine klare Haltung eingenommen hat. Die Inflationsbekämpfung muss Top-Priorität haben, um Zündstoff aus der Gesellschaft zu nehmen. Und wenn ich Top-Priorität sage, dann bin ich natürlich daran interessiert, dass es möglichst schnell und vielleicht auch mal mit einem größeren Schritt vorangeht. Aber da wird die EZB schon das richtige Maß finden.

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Eine noch offene Frage ist der Umgang mit dem Geld aus dem deutschen Bankenrestrukturierungsfonds. Was sollte damit geschehen?
Der nationale Restrukturierungsfonds war ein vorgeschalteter Fonds für den europäischen Sicherungsfonds, den es mittlerweile gibt. Eigentlich war angelegt, dass die Altmittel aus dem Fonds wieder an die Banken zurückgegeben werden, sobald es eine europäische Lösung gibt. Das ist auch unsere Sicht. Zumal das Geld wichtig ist, um damit die Wirtschaft zu finanzieren. Im Jahr 2023 werden sich mehr Unternehmen refinanzieren müssen als in diesem Jahr. Wir brauchen starke Banken mit starker Kapitalbasis, um die Finanzierungen der Wirtschaft im nächsten Jahr zu sichern.

Auch Bundesfinanzminister Christian Lindner könnte das Geld gut brauchen.
Ich bin kein Jurist, aber der Fonds war zweckgebunden, man kann die Mittel nun nicht zweckentfremden.

Es gibt allerdings auch noch jede Menge andere Schulden aus den Bankenrettungen nach der Finanzkrise.
Das sollte man jetzt nicht einfach verrechnen. Es wurden einzelne Finanzinstitute rekapitalisiert. Solche Fragen sollte man bilateral lösen, aber bitte nicht einen völlig anderen Fonds dafür nutzen. 

Banken-Gipfel 2022

Im Fokus der Veranstaltung steht, wie die Finanzbranche mit den Herausforderungen dieser Zeit umgeht.


(Foto: Marc-Steffen Unger für Handelsblatt)

Sie haben das Thema Nachhaltigkeit (ESG) zum ganz großen Thema für sich und für die Deutsche Bank gemacht. Wie groß ist der Vertrauensschaden, den die Greenwashing-Affäre bei der DWS angerichtet hat?
Ein Reputationsschaden lässt sich immer nur langfristig messen. Daher werde ich nicht den Fehler machen zu sagen, es ist alles gut. Was die konkreten Vorwürfe angeht, hat die DWS dazu bereits öffentlich Stellung genommen, und daran hat sich nichts verändert. Warten wir ab, was die Untersuchungen ergeben. Aber natürlich nehmen wir solche Vorwürfe dennoch immer zum Anlass, unsere eigenen Prozesse zu überprüfen.

Die DWS hat die Vorwürfe zurückgewiesen. Gab es Folgen für das Geschäft?
Wenn ich auf die geschäftliche Entwicklung im Bereich Nachhaltigkeit blicke, scheint es mir nicht so, als hätten wir an Reputation eingebüßt. Wir sehen im Bereich Nachhaltigkeit einen enormen Zulauf an Kunden und Marktanteilsgewinne. 

Wir haben viel über Krisen gesprochen. Was stimmt Sie trotzdem optimistisch, wenn Sie auf das nächste Jahr schauen?
Erst einmal, dass wir die letzten Krisen in Deutschland gut bewältigt haben. Das bedeutet nicht, dass ich mich zurücklehne. Aber gerade diese unternehmerische Haltung im Mittelstand, diese ständige Innovationsbereitschaft stimmt mich zuversichtlich. Als der Krieg ausgebrochen ist, haben manche Unternehmen innerhalb von drei, vier Wochen Lösungen für ihre Probleme gefunden. Das zeichnet die Kreativität und die Haltung der deutschen Industrie aus. Und auch die Bundesregierung.

Herr Sewing, vielen Dank für das Gespräch.

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