Wie Kamala Harris mit einer Sklaverei-Kontroverse ihr Profil schärfen will

Washington Kamala Harris’ Stimme bebt, ihre Stirn glänzt in der Hitze eines vollbesetzten Saals. Die US-Vizepräsidentin ist aufgebracht. „Sie beleidigen uns! Sie missbrauchen uns!“, ruft sie von der Wahlkampfbühne herab. „In Florida sollen Schüler allen Ernstes lernen, dass Sklaven von der Sklaverei profitierten.“ Hunderte demokratische Anhänger raunen und buhen. 

Harris meint Lehrpläne, die die Bildungsbehörde des republikanisch regierten Bundesstaats kürzlich beschlossen hatte. In den 216-seitigen Richtlinien zum Schulunterricht heißt es an einer Stelle wörtlich: Sklaven hätten berufliche Fähigkeiten entwickelt, „die sie in einigen Fällen zu ihrem persönlichen Vorteil nutzen konnten“. Das Publikum bricht in Applaus aus, als Harris sagt: „Wollt ihr mich verarschen? Wir werden das nicht hinnehmen!“

Es ist einer der wenigen emotionalen Momente von Harris, die stets beherrscht und kontrolliert auftritt. Allerdings überzeugte sie damit in ihrer bisherigen Amtszeit kaum: In Umfragen liegen ihre Zustimmungswerte unter 40 Prozent. Die Vizepräsidentin ist damit noch unbeliebter als US-Präsident Joe Biden, der zusammen mit Harris im November 2024 wiedergewählt werden will.

Dabei war Harris mit hohen Erwartungen ins Amt gestartet. Schließlich ist die 58-Jährige nicht nur die erste Frau, sondern auch die erste Schwarze und die erste US-Amerikanerin mit indischen Wurzeln im Amt. Sie habe viele Mauern durchbrochen, „aber es wird nicht die letzte sein“, sagte sie bei ihrer Siegesrede 2020. Der Satz konnte auch als Versprechen gewertet werden, dass die USA mit Harris die erste weibliche Präsidentin bekommen könnten. 

Tatsächlich würde Harris an Bidens Stelle rücken, sollte der inzwischen 80-jährige Präsident sein Amt nicht mehr ausüben können. Daran ändern auch die mauen Beliebtheitswerte nichts. Dass ein Präsident seinen Vize austauscht, gilt als nahezu ausgeschlossen. Es würde wie ein Eingeständnis wirken, dass ein zentraler Teil der Regierung nicht funktioniert.

Harris ist für Biden unverzichtbar

Harris ist auch aus anderen Gründen für Biden unverzichtbar. Frauen und Schwarze sind wichtige Wählergruppen für die Partei, und Harris genießt immerhin bei ihnen soliden Rückhalt. Über Abtreibungen oder Rassismus kann Harris authentischer sprechen als der Präsident. Dass diese Themen für die Basis eine große Rolle spielen, bewiesen die Kongresswahlen 2022, als das Abtreibungsurteil enorm mobilisierte. 

Neuerdings macht Harris immer mehr Wahlkampf, ihr Terminplan ist voller als sonst. Die Attacke auf Ron DeSantis, Gouverneur von Florida und republikanischer Präsidentschaftsbewerber, war bislang das deutlichste Signal dafür, dass Harris stärker wahrgenommen werden will. Unter DeSantis ist Florida zum Zentrum der Kulturkämpfe zwischen dem linken und dem konservativen Lager geworden, die Auseinandersetzungen werden über Buch-Verbote und Gesetze zu Transmenschen, Abtreibung oder Waffenbesitz ausgetragen.

Als „Extremist und Möchtegern-Politiker“ beschimpfte Harris nun DeSantis. Die Lehrpläne seien „Propaganda“ und „Whitewashing“, die die Geschichte der Sklavenhaltung „mit Lügen“ umschreiben wollten.

Ron DeSantis

Floridas republikanischer Gouverneur will Präsidentschaftskandidat werden und setzt auf harsche Rhetorik.

(Foto: IMAGO/ZUMA Wire)

Harris steht nun mitten im Kulturkampf – und könnte daraus neue Kraft ziehen, so sehen es zumindest ihre Unterstützer. „Wenn sie frei ist, sie selbst zu sein, wenn sie menschlich und echt sein darf, dann ist sie am besten“, sagt Lauren Leader, Geschäftsführerin von „All In Together“, einer Non-Profit-Organisation für Frauen in Machtpositionen.

Leader hat sich Gedanken darüber gemacht, warum Harris im Amt nicht zündete. Vizepräsidenten haben eine undankbare Rolle, sie dürfen den Präsidenten nicht überragen. Bei Harris kämen Vorurteile gegenüber Frauen dazu, ist sich die Aktivistin sicher, „das haben wir schon bei Hillary Clinton gesehen“.

Anders sei es nicht zu erklären, dass Harris sogar unpopulärer sei als ein Vizepräsident wie Dick Cheney, der die USA nach einer Chemiewaffen-Lüge in den Irakkrieg führte. Doch Leader sieht auch Versäumnisse bei Harris, vermisst einen „klaren Fokus“ und eine „echte Strategie“, Botschaften zu vermitteln. 

Harris’ Wahlkampfpotenzial steht spätestens seit 2020 infrage, als sie demokratische Präsidentschaftskandidatin werden wollte. Nach nur wenigen Monaten geriet ihre Kampagne ins Aus. Biden holte sie später als „running mate“ in sein Team, er wollte damit sein Versprechen von Vielfalt einlösen. Harris war zudem als frühere Senatorin und Generalstaatsanwältin von Kalifornien politisch sehr erfahren. 

„Beliebt wie Giftmüll“

Doch im Amt gab es laut Biden-Biograf Chris Whipple immer wieder „Spannungen“. Harris sei unzufrieden mit den Themen, die Biden ihr zuwies: Flüchtlingspolitik und Wahlrecht. Biden sehe Harris als „work in progress“, die noch nicht bereit für das höchste Amt sei. Harris hat laut US-Medien wie CNN einen hohen Mitarbeiterverschleiß, bei öffentlichen Auftritten leistet sie sich regelmäßig Schnitzer, lacht an unpassender Stelle oder verliert den Faden.

Als im Sommer 2021 die Inflation stieg und der chaotische Afghanistan-Abzug die Welt entsetzte, sackten Bidens und Harris’ Zustimmungswerte ab – diesen Vertrauensverlust konnten beide bis heute nicht wettmachen. 

Biden und Harris vor dem Weißen Haus

Die Rolle der Vizepräsidentin ist nicht leicht auszufüllen, ohne den Präsidenten zu überragen.

(Foto: IMAGO/ABACAPRESS)

Längst haben die Republikaner Harris als Hauptgegnerin ausgemacht, Präsident Biden gilt im republikanischen Lager ohnehin als dement. Nach dortiger Lesart ist Harris die tatsächliche Präsidentin und führe eine Art Marionettenregime.

„Wir müssen nicht Biden verhindern, sondern Harris“, sagte die republikanische Präsidentschaftskandidatin Nikki Haley im Fernsehsender Fox News. Dass Biden noch eine weitere Amtszeit durchhalte, sei „schwer vorstellbar“. Jesse Waters, Moderator desselben Senders, ätzte über Harris, sie sei „so beliebt wie Giftmüll“.

Vieles deutet darauf hin, dass Harris zunehmend auf emotionale Themen setzen wird. Demnächst will sie zu einer großen Konferenz gegen Waffengewalt reisen. Allein in diesem Jahr haben die USA 400 tödliche Massenschießereien verzeichnet, mehr als in jedem anderen Land der Welt.

Das Recht auf Abtreibung soll ein weiterer Fokus ihrer Wahlkampagne werden, denn rund ein Jahr nach dem Ende des nationalen Rechts auf Schwangerschaftsabbruch haben mehr als 20 Bundesstaaten ein Abtreibungsverbot erlassen. Die demokratische Frauenorganisation „Emily’s List“ steckt derzeit Millionen in eine Imagekampagne und feiert Harris in Werbespots als „Vorkämpferin der amerikanischen Werte“.

Doch wer Harris im Wahlkampf begleitet, erkennt: Die Vizepräsidentin ist in ihrer neuen Rolle noch nicht ganz angekommen. An einem heißen Julitag fährt ihre Autokolonne durch Baltimore, auf dem Weg zu einem Auftritt an einer Uni. Die Route führt durch eines der ärmsten Viertel der Stadt: Zerfallene Häuser, Kinder laufen neben Obdachlosen barfuß durch Müll.

Minuten später spricht Harris im Uni-Hörsaal über Klima-Investments für Kommunen, Solarpanels, Wärmedämmung und sauberes Wasser. Eigentlich ist der Termin eine Steilvorlage. Harris könnte die außergewöhnliche Hitzewelle dieses Sommers mit den Szenen verbinden, die sie durch die getönten Scheiben ihres Autos sehen konnte.

Doch Harris weicht nicht vom Manuskript ab, ihre Augen sind auf ihren Teleprompter gerichtet. „Die Klimakrise betrifft alle, aber nicht alle Menschen gleichermaßen“, sagt Harris, weiter wird sie nicht gehen. Das Publikum bekommt die kontrollierte, beherrschte Vizepräsidentin, nicht die bewegte Idealistin. Nach 16 Minuten tritt Harris von der Bühne, ihre Limousine fährt durch das verfallene Viertel zurück nach Washington. 

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