Möglich macht das ein Dekret von Präsident Wladimir Putin vom April: Demnach können Firmen aus „unfreundlichen Staaten“ wie Dänemark, Frankreich oder Deutschland unter staatliche Kontrolle gestellt werden. Im Frühjahr erging es so der Tochter Unipro des Düsseldorfer Energiekonzerns Uniper.
Nun scheint Putin seine Drohung häufiger wahrzumachen, um damit den Rückzug westlicher Firmen zu erschweren. Für Experten wie José Campos Nave ist das „eine weitere Eskalationsstufe“. Der geschäftsführende Partner der Beratung Rödl & Partner sagt: „Enteignungen könnten eine gängige Praxis werden, um westliche Unternehmen zu bestrafen, die den russischen Markt verlassen wollen.“
Bosch hat immer noch ein Werk in Russland
Tanja Galander, Partnerin der Wirtschaftskanzlei Graf von Westphalen, die westliche Firmen in Russland berät, berichtet, dass viele ihrer Mandanten beunruhigt seien. „Unternehmen, die vor Ort autark produzieren und für den russischen Staat von Interesse sind, weil sie zum Beispiel helfen, die Lebensmittelversorgung sicherzustellen, haben ein höheres Risiko“, sagt sie mit Blick auf mögliche Enteignungen.
Ein Warnsignal ist das auch für Bosch. Die Stuttgarter haben zwei ihrer drei russischen Werke verkauft, für den Standort in St. Petersburg gibt es aber noch keine Entscheidung. Dort fertigte Bosch bis zum Kriegsausbruch Haushaltsgeräte, seither ruht die Produktion. Zur Gefahr der Enteignung will sich der Konzern nicht äußern.
Dieses Risiko droht auch dem japanischen Autobauer Hyundai, dem Londoner Tabakproduzenten British American Tobacco oder dem niederländischen Telekommunikationskonzern Veon. Der Bierbrauer Heineken wartet seit April auf die Genehmigung der russischen Behörden, sein Geschäft zu verkaufen, und könnte ebenfalls enteignet werden.
Der Kasseler Energiekonzern Wintershall Dea arbeitet seit Monaten an seinem Rückzug. Die BASF-Tochter hatte mit Gazprom Öl und Gas in Sibirien gefördert. Russland erließ 2022 ein Gesetz, das die russischen Gewinne von Wintershall rückwirkend nichtig gemacht hat. Wintershall sagt, de facto bereits enteignet worden zu sein.
Für Firmen mit Russlandgeschäft wird die Lage komplexer. Wer weiter in dem Land wirtschaftet, muss sich vorwerfen lassen, mit Steuern den Krieg anzutreiben. Zudem droht im Heimatmarkt ein Imageverlust. Wer an seinem Rückzug arbeitet, läuft hingegen Gefahr, sein Geschäft komplett an den russischen Staat zu verlieren.
„Zum Nulltarif an moderne Produktionsanlagen“
Danone und Carlsberg gehören jetzt auch Oligarchen aus dem Dunstkreis des Kremls. Neuer Danone-Chef in Russland ist Jakub Sakriew, der 34-jährige Neffe des tschetschenischen Machthabers Ramsan Kadyrow, dessen Privatarmee für Russland gegen die Ukraine kämpft.
Bei Carlsberg profitiert Taimuras Bollojew, ein alter Putin-Freund. Die russische Carlsberg-Tochter gilt mit 8400 Beschäftigten und 1,6 Milliarden Dollar Umsatz als größter Bierbrauer des Landes. Danone stellte dort in zwölf Werken Joghurt und Babynahrung her. Die 7500 Mitarbeiter erzielten drei Milliarden Dollar Umsatz.
Beide Konzerne müssen wohl ihr gesamtes Geschäft abschreiben. „Der russische Staat kommt so im Prinzip zum Nulltarif an moderne Produktionsanlagen und westliches Know-how“, sagt Jurist Campos Nave. Dass Putin zu Konsumgüterfirmen greift, ist kein Zufall. Er will die Versorgung der Bevölkerung nicht gefährden und weitere Unruhe vermeiden.
Um westliche Assets im Land zu behalten, hatte Putin Unternehmen den Exit erschwert. Unternehmen müssen sich ihren Verkauf genehmigen lassen. Ein russischer Gutachter beurteilt den Firmenwert, für den Kaufpreis werden davon mindestens 50 Prozent abgezogen. Manche müssen eine zusätzliche Abgabe an den Staat zahlen. Die „Exit-Tax“ beträgt mindestens fünf Prozent des Marktwertes.
>> Lesen Sie auch: Warum viele Firmen sich gerade aus Russland zurückziehen
So wird der Rückzug zum Verlustgeschäft: Persil-Hersteller Henkel etwa erzielte im Frühjahr für seine Russlandtochter mit über einer Milliarde Euro Umsatz nur einen Verkaufserlös von 600 Millionen. Zu normalen Zeiten wäre es ein Vielfaches gewesen. Verglichen mit Danone und Carlsberg scheint das ein Luxusproblem zu sein.
Die meisten Firmen hatten sich Rückkaufklauseln zusichern lassen, um langfristig die Option eines Wiedereinstiegs zu haben. Auch das hat der Kreml im Juli erschwert. „Die Unternehmen können nur noch zum halben Marktpreis verkaufen, müssen aber zum vollen Preis zurückkaufen“, sagt Juristin Galander. Zudem können solche Optionen auch nur noch für eine kurze Frist von zwei Jahren vereinbart werden. In der Praxis bedeutet das den endgültigen Abschied, eine so rasche Rückkehr ist für Unternehmer unrealistisch.
Deutsche Firmen zahlen 400 Millionen Euro Gewinnsteuern in Russland
Auch Firmen, die weiter in Russland wirtschaften, geraten zunehmend unter Druck, weil sie im Westen als Kriegsfinanzierer gelten können. Laut Organisation B4Ukraine haben westliche Konzerne 2022 rund 3,5 Milliarden Dollar direkte Gewinnsteuern an den Kreml gezahlt, allein aus Deutschland sind es 400 Millionen gewesen.
Nach Zählung der Kyiv School of Economics (KSE) wollen rund 60 Prozent der westlichen Firmen mit Russlandgeschäft abwarten oder an ihrer Produktion festhalten. Nur 19 Prozent haben Russland komplett verlassen.
Westliche Hersteller von Waren des täglichen Bedarfs haben ihr Engagement in dem Land sogar weiter ausgebaut. Alkohol- und Tabakhersteller aus dem Ausland steigerten 2022 ihre Gewinne in Russland laut KSE von 1,4 auf 2,4 Milliarden Dollar. Lebensmittel- und Getränkehersteller verdoppelten sie auf 2,6 Milliarden.
Hersteller von Alltagsprodukten und Genussmitteln sind wie Händler kaum von Sanktionen betroffen. Mit Coca-Cola und Henkel haben sich nur wenige bekannte Namen der Branche komplett zurückgezogen – auch wenn deren Produkte über Drittländer weiter nach Russland gelangen.
Die meisten Firmen sind weiter vor Ort: Großhändler Metro, Schokoriegelproduzent Mars, Mondelez (Milka, Philadelphia), Softdrinkhersteller Pepsi, Tiefkühlgemüseproduzent Bonduelle, Nestlé (Kitkat, Nespresso), Unilever (Dove, Knorr), Beiersdorf (Nivea) oder Procter & Gamble (Ariel, Pampers).
Viele dieser Konzerne haben ihre Aktivitäten reduziert oder Neuinvestitionen gestoppt. Unilever argumentiert, keine Möglichkeit gefunden zu haben, das Geschäft so zu verkaufen, dass „der russische Staat keinen weiteren Nutzen daraus ziehen kann“. Die Fortführung unter „strengen Auflagen“ sei der beste Weg.
Auch Zentis verteidigt sein Engagement. Die Firma vertreibt in Russland Fruchtzubereitungen für Joghurt, liefert an Ehrmann oder Danone. „Mit einem Rückzug würden wir nur den normalen russischen Bürger treffen“, so Zentis-Chef Karl-Heinz Johnen.
Ehrmann steigert Umsätze in Russland um 32 Prozent, Mondelez um 45 Prozent
Unstrittig ist aber, dass manche Firmen in Russland erquickliches Geschäft machen. Die Molkerei Ehrmann steigerte ihre Erlöse in Russland 2022 laut KSE-Daten um 32 Prozent, Käsehersteller Hochland um 26 Prozent. Auch die enteigneten Firmen Carlsberg (plus 28 Prozent) und Danone (plus elf Prozent) waren gewachsen. „Solche Firmen agieren als Kriegsgewinner. Das ist beschämend und unethisch“, so Yale-Professor Jeffrey Sonnenfeld.
Getoppt wird das von Mondelez mit einem Umsatzplus von 45 Prozent. Dabei hatte der US-Konzern nach Kriegsausbruch versprochen, nur noch „Basisangebote“ in Russland zu machen. Dieser Kurs hatte in Skandinavien zu einem breiten Boykott geführt, Ikea und die Fluglinie SAS etwa bieten Mondelez-Produkte nicht mehr an. Daraufhin kündigte der Hersteller an, das Russlandgeschäft mit einer „autarken Lieferkette“ zu verselbstständigen – offenbar aus Sorge vor einem Imageverlust.
Diesen muss auch die Metro fürchten. Denn der Handelskonzern führt einen Teil seiner russischen Gewinne nach Deutschland ab. Eigentlich dürfen westliche Firmen nur einen Bruchteil der Gewinne in den Westen transferieren. Mit einer Genehmigung des russischen Finanzministeriums kann man sich jedoch bis zu 50 Prozent des Gewinns ausschütten – vorausgesetzt, das Unternehmen sichert einen Verbleib im Land zu.
„Metro transferiert Gelder auf rechtskonforme Weise durch Dividendenzahlungen“, bestätigte ein Sprecher, ohne den Betrag zu nennen. Metro hatte in Russland zuletzt 231 Millionen Euro Gewinn erzielt. Auch der Lebensmittelhändler Globus hat die Sondererlaubnis bekommen. Die Erträge aus dem Russlandgeschäft würden mittlerweile kaum noch vor Ort investiert, sondern nach Deutschland fließen.
Mehr: Neun von zehn deutschen Unternehmen sind weiter in Russland aktiv.