Start-ups suchen ihr Glück in der Nische der Automobilbranche

Köln Es gibt Vorschriften für den Innenraumteppich, für das Schiebedach, den Tankdeckel, aber auch für die Fahrzeugsoftware und die Cybersecurity im Auto: „Weltweit sehen wir mehr als 4000 Regularien, die bei einem Fahrzeug wichtig sind“, sagt Nico Wägerle. Mit seinem Start-up Certivity baut er eine Plattform, in der Ingenieure und Juristen sehen, worauf sie achten müssen – und wo ein rechtliches Update nötig ist.

Das passiert in Zeiten von Emissionsdebatten, Fortschritten bei alternativen Antrieben und autonomem Fahren immer häufiger. „Die Geschwindigkeit und die Anzahl der Änderungen haben sich in den letzten Jahren erhöht und vervielfacht“, sagt Wägerle. Die 2021 gegründete Firma kratzt an der Millionengrenze beim Umsatz, hat 31 Mitarbeiter und Investoren mit Automotive-Erfahrung.

Certivity steht beispielhaft für eine neue Generation von Start-ups in der Branche. Investoren suchten prinzipiell nach Gründern, deren Geschäftsmodell globales Potenzial habe, sagt Jan-Christoph Rickers, Geschäftsführer des spezialisierten Risikokapitalgebers Mobilityfund. Doch die Bereitschaft von Gründern und Geldgebern ist gewachsen, sich auf Nischen im Automobilsektor zu fokussieren – die immer noch einen Milliardenmarkt versprechen: „Der europäische Weg, nicht direkt alles umzukrempeln, sondern sich darauf zu konzentrieren, bestimmte Teile besser zu machen, könnte langfristig der erfolgreichere sein“, sagt Rickers.

Einfach ist der Weg nicht. Die Automobilbranche, die sich von heute an in München auf der Messe IAA Mobility trifft, ist mit sich selbst beschäftigt: die laufende Transformation weg von den Verbrennern, mehr Kostendruck, mehr Druck aus Asien. Das hat Auswirkungen auf die Start-ups, die um Aufmerksamkeit und Aufträge der Industrie buhlen. „Die Sorgen im Automo‧tive-Bereich sind da. Wir spüren, wie ein Umdenken stattfindet“, sagt Certivity-Gründer Wägerle. Im vergangenen Jahr brach die Finanzierung für Mobility-Start-ups in Deutschland ein, wie ein Report des Datendienstleisters Dealroom zeigt – um 51 Prozent auf nur noch 1,4 Milliarden Dollar.

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Investor Rickers glaubt dennoch daran, dass die aufstrebenden Tech-Firmen auch in der Automobilbranche ihre Vorteile ausspielen können: „Start-ups sind deutlich schneller, weil sie effizienter mit ihren Ressourcen umgehen und unternehmerisch denken.“ Beim Thema Umsetzungswillen kann Alexander Sohl mitreden. Bei einem großen Zulieferer hatte er sich lange damit beschäftigt, wie sich abseits von Batterien oder Brennstoffzellen Energie speichern ließe. Doch im Unternehmenskonglomerat hätten seine Ideen keine Chance gehabt. „In Konzernen fehlt der Mut, mit solchen Lösungen bis zur Serienreife zu gehen“, sagt Sohl.

2019 gründete er mit Inès Adler das Start-up Me Energy. Heute baut die junge Firma in Wildau bei Berlin im Monat sechs Container zusammen, in denen aus Bioethanol Strom gewonnen wird. So entstehen mobile Schnellladestationen, die unabhängig von lokalen Stromnetzen funktionieren. Die Berliner Verkehrsbetriebe laden so etwa ihre Elektrobusse an Endhaltestellen, große Logistiker versorgen ihre Flotten, Behörden stellen sicher, dass sie ihre E-Fahrzeuge auch bei einem Stromausfall auf die Straße bringen. Vor zwei Wochen schaute Bundeskanzler Olaf Scholz bei einem Wahlkreisbesuch zu, wie ein Elektro-Lkw mit diesem Grünstrom versorgt wurde. „Wir helfen bei Engpässen im Stromnetz“, sagt Sohl. „Schlecht für die Gesellschaft, gut für uns, dass es die so oft gibt.“

Mühsame Suche nach Partnern

Die Vertriebsarbeit bleibt mühsam. Neun Monate benötige man in der Regel bis zu einem Abschluss, mal waren es auch zweieinhalb Jahre, sagt Sohl: „Man braucht einen langen Atem und idealerweise gute Verbindungen.“ Vielen Mobility-Start-ups geht es nicht anders. Oft stehen sie mit einer Handvoll Mitarbeitern mächtigen Konzernen gegenüber. Bis zum richtigen Ansprechpartner vorzudringen, der dann auch noch die Entscheidungsmacht hat, um einen Vertrag zu unterzeichnen, sei ein Glücksspiel. „Wir müssen die richtige Person mit dem richtigen Budget zum richtigen Zeitpunkt finden“, sagt Moritz von Grotthuss, Co-Gründer des Start-ups Bareways.

Das Lübecker Unternehmen konzentriert sich darauf, möglichst exakte Navigationsdaten für alle Straßen jenseits der Autobahn zu liefern – bis hin zu abgelegenen Schotterpisten. Zwei große Automobilhersteller konnte das Team bereits gewinnen. Die integrieren die Bareways-Software in ihre Fahrzeuge, um den Besitzern besondere Fahrerlebnisse zu liefern oder eine exaktere Routenplanung zu ermöglichen. Damit positioniert sich das Start-up als Gegenpol zu einem mächtigen Marktteilnehmer, der in die Branche drängt: „Von Google bekommen die Hersteller vermeintlich preisgünstig ein umfangreiches Softwarepaket“, sagt von Grotthuss, „aber nach ein paar Monaten merken sie, dass sie so zum reinen Hardwarelieferanten werden und den Kontakt zum Kunden verlieren.“

Die Suche nach namhaften Partnern prägt gerade in der frühen Phase die Agenda von Gründern. „Das ist superkritisch für den Erfolg eines Start-ups“, sagt Investor Rickers. Die Herausforderung: Die Lösungen der jungen Tech-Firmen versprechen häufig Vorteile, doch andererseits bringen sie zunächst auch große Veränderungen in die Arbeits- oder Produktionsabläufe der Industriekunden. Die schrecken gerade in schwierigeren Zeiten davor zurück, Unruhe in den Arbeitsalltag zu bringen. „Ein gutes Produkt und ein guter Vertrieb reichen manchmal nicht aus, wenn die Kunden das Risiko nicht eingehen wollen“, beobachtet Investor Rickers.

Die Strategien der Start-ups unterscheiden sich. Certivity mit Sitz in München etwa ist mit seiner Regulierungssoftware bewusst in der Mobilitätsbranche gestartet, schließlich haben fast alle Co-Gründer zuvor jahrelang in dieser Industrie gearbeitet. Doch das Team weiß , dass andere streng regulierte Branchen wie die Medizintechnik oder der Luftfahrt neugierig auf die Lösung sind. „Dieses Jahr legen wir den vollen Fokus auf Automotive“, sagt Wägerle. „Aber wir haben schon auch Pilotkunden aus anderen Bereichen.“

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