Schäden wegen Corona: Wer soll das bezahlen?

Frankfurt Am Anfang war die Krise. Die Bank of England wurde 1694 errichtet, im sogenannten Neunjährigen Krieg, den England gegen Ludwig XIV. von Frankreich führte. Nach einer verlorenen Seeschlacht gegen die Franzosen fehlte dem britischen König William III. das Geld, eine neue Flotte aufzubauen.

Die Regierung bekam wenig Steuern und war in der Londoner City nicht sonderlich kreditwürdig. Um das Problem zu lösen, gründeten die Briten die Bank of England, eine der ältesten Notenbanken der Welt. „Papiergeld war Schuldengeld, und Schuldengeld war Kriegsgeld, und dabei blieb es“, kommentierte der Anthropologe und bekennende Anarchist David Graeber im Rückblick.

Von Anfang an ist die Geschichte der Zentralbanken mit einer entscheidenden Frage verbunden: Wer soll das bezahlen? Es geht immer wieder um Verteilungskonflikte, der per Notenbank auf die lange Bank geschoben werden.

Hätte die Krone zur Kriegsfinanzierung die Steuern erhöht, wären dieser Konflikt und seine Verlierer gleich offengelegt worden. Die Folge wäre wahrscheinlich eine politische Krise gewesen, die im Krieg niemand gebrauchen konnte.

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An dieser Problematik hat sich bis heute nichts geändert, und vor dem Hintergrund steigender Inflation lohnt es sich, die Lehren der Geschichte genauer in den Blick zu nehmen. In einem bekannten Karnevalsschlager kommt nach „Wer soll das bezahlen?“ die Zeile „Wer hat das bestellt?“ Bei Inflation und Schulden geht es fast immer darum, dass irgendwer etwas politisch „bestellt“ hat und dann die Frage bleibt, wer es bezahlt. Und auf die Frage im Schlager, wer so viel Geld hat, liegt die Antwort nah: die Notenbanken.

Papiergeld war Schuldengeld, und Schuldengeld war Kriegsgeld, und dabei blieb es. David Graeber, Autor von „Schulden – die ersten 5000 Jahre“

Die Bank of England bekam bei ihrer Gründung das Privileg, Banknoten zu drucken, konnte so Geld schaffen und es als Darlehen an die Krone weiterreichen. Das tun die Notenbanken heute wieder, vor allem seit der großen Finanzkrise vor gut zehn Jahren. Sie vergeben keine direkten Darlehen, aber sie kaufen Staatsanleihen. Diese Käufe können sie mit der Notwendigkeit begründen, die langfristigen Zinsen zu senken. Trotzdem: Nüchtern betrachtet fließt einfach Geld von der Notenbank zur Regierung.

Alexander Hamilton, der erste Finanzminister der USA, hatte den Revolutionskrieg erlebt und erkannte den Vorteil der britischen Krone, ihre Soldaten mithilfe einer Notenbank und eines liquiden Marktes für Staatsanleihen zu finanzieren. Er versuchte, dieses System in den USA einzuführen, hatte aber keinen nachhaltigen Erfolg, weil es konservativen Politikern als zu wenig seriös erschien. Später bekam er recht: Heute beruht die Macht der USA zu einem guten Teil darauf, dass ihre Schulden weltweit als Wertpapiere begehrt sind.

England und die Kriegsfinanzierung sind nicht die einzige historische Parallele. Die Schwedische Reichsbank entstand 1668. Sie wurde geschaffen, um eine Finanzkrise zu stabilisieren, die ihren Ausgangspunkt letztlich schon im Dreißigjährigen Krieg hatte. Die Fed in den USA wurde 1913 als Lehre aus der Finanzkrise 1907 gegründet, die nur durch den Einsatz des Bankiers John Pierpont Morgan aufgefangen werden konnte, des Gründers der US-Bank J.P. Morgan. Nie wieder sollte die Wirtschaft der USA so von einem Privatmann abhängen, deswegen musste eine öffentliche Notenbank her.

Auch das kommt uns bekannt vor: Die Fed, und in Abstufungen andere Notenbanken wie die Europäische Zentralbank (EZB), haben immer wieder in Krisensituation massiv in die Märkte eingegriffen, um einen Kollaps des Finanzsystems zu verhindern. In der Finanzkrise kursierten bei Bankern Sprüche wie „Die Notenbank kauft alles außer Unterwäsche“. Diese Funktion, Geld zu leihen, wenn es sonst niemand kann, ist immer eine Kernaufgabe der Notenbanken gewesen, darauf hat schon Walter Bagehot 1873 in seinem Buch „Lombard Street“ hingewiesen, das bis heute als eine Art Bibel der Notenbanker gilt.

Halten wir fest: Zentralbanken sind geschaffen worden, um pleitegehende Regierungen zu finanzieren oder um das Bankensystem zu retten. So wurde Fed-Chef Ben Bernanke der Retter in der großen Finanzkrise seit 2008, und EZB-Präsident Mario Draghi wurde es in der anschließenden Euro-Krise. Sie haben nicht nur Applaus dafür bekommen.

Ist Inflation eher eine Lösung als ein Problem?

Letztlich ging es früher immer schon um Verteilungskonflikte. Das ist die Parallele zu den großen Inflationen des 20. Jahrhunderts, aber auch zum heutigen Anstieg der Preise. Sie legt nahe: Wenn wir aus der heutigen Zusammenballung von zu hohen Staatsschulden, zu viel Geld und zu hohen Preisen herauskommen wollen, müssen wir die darunterliegenden Verteilungsprobleme erkennen – und nach Möglichkeit auch lösen.

Lehrreich ist gerade auch die große deutsche Inflation der 20er-Jahre. Die Regierung hatte den Weltkrieg über Anleihen finanziert, die später durch Reparationen der besiegten Gegner getilgt werden sollten. Weil das gründlich misslang, saß die neue deutsche Republik nach dem verlorenen Krieg auf einem Haufen von Schulden. Hinzu kam, dass ihr das Kaiserreich ein völlig unzureichendes Steuersystem hinterlassen hatte.

Die Weimarer Republik hatte daher eine schlechte Wahl. Die Pleite erklären? Das hätte das Bürgertum, das fleißig und patriotisch Kriegsanleihen gezeichnet hatte, enteignet. Zugleich wäre es wahrscheinlich zum wirtschaftlichen Kollaps, hoher Arbeitslosigkeit und so zum Zusammenbruch der jungen Demokratie gekommen, der im wahren Geschichtsverlauf dann 1933 stattfand.

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Die Inflation enteignete die Anleihebesitzer, begünstigte die Hausbesitzer und traf die Verbraucher hart. Sie nahm den Arbeitern aber wenigstens nicht gleich wieder ihre Jobs; außerdem waren viele Löhne an die Preisentwicklung gekoppelt. Sie verschob die Zeit der Stabilisierung um einige Jahre, so dass es größere Chancen dafür gab als direkt nach dem Krieg. Außerdem hatte Finanzminister Matthias Erzberger unterdessen das Steuersystem reformiert.

Die Geschichte lehrt hier: Möglicherweise war selbst die große Inflation, das Schreckgespenst der Deutschen, weniger ein Problem als eine Lösung, die allerdings leider auch nur rund zehn Jahre gehalten hat. Wobei die Wirtschaft in den 30er-Jahren dann vor allem von einer strengen Deflationspolitik ruiniert wurde: Der „eiserne Kanzler“ Heinrich Brüning sparte das Land kaputt.

Bei einer Panik muss die Bank of England das Publikum freigiebig und entschlossen aus ihren Reserven bedienen. Walter Bagehot, Autor von „Lombard Street“

Das führt zu der provokanten Frage: Ist die heutige Inflation auch eher eine Lösung als ein Problem? Wir haben keinen Krieg hinter uns, aber die schlimmste Pandemie seit der sogenannten Spanischen Grippe vor rund 100 Jahren. Auch jetzt stellt sich wieder die Frage: Wer soll das bezahlen? Bestellt haben die Regierungen die Milliardenhilfen – aus gutem Grund: Sie wollten den Zusammenbruch der Wirtschaft durch Seuche und Lockdown verhindern.

Wenn es darum geht, offene Rechnungen zu bezahlen, gibt es zwei Möglichkeiten: Man bezahlt sie sofort, oder man lässt sie offen. Anders gesagt: Der Staat erhöht die Steuern, oder er macht Schulden, und lässt die im Zweifel von der Notenbank finanzieren. Im besten Fall läuft die zweite Variante darauf hinaus, dass die Rechnung so lange verschoben wird oder einfach offenbleibt, dass niemand so richtig fühlbar dafür geradestehen muss.

Im schlechtesten Fall kommt es zum Staatsbankrott, wie Griechenland ihn in der Euro-Krise erlebt hat. Oder aber es kommt zu einer Inflation – was wir im Moment zu spüren bekommen. Ähnlich wie der in der großen deutschen Inflation, aber weitaus weniger dramatisch stellt sich daher jetzt die Frage: Was wäre die Alternative zu Verschuldung und Inflation?

Die Alternativen zur Inflation

Die Notenbanken hätten in der Krise die Finanzierung durch Staatsschulden auch lassen können. Zumindest einige Staaten hätten dann ihre Wirtschaft wahrscheinlich kaum stützen können. Die EZB hätte den Hahn auch früher oder stärker zudrehen können, als sie es getan hat. Was wäre dann passiert?

Im besten Fall hätten die Euro-Regierungen begriffen, dass sie untereinander zu einem stärkeren Finanzausgleich kommen müssen. Im schlechteren Fall würden sie es nicht begreifen und eine neue Euro-Krise heraufbeschwören. Jetzt kommt es darauf an, dass hochverschuldete Euro-Staaten den Spielraum, den die EZB ihnen gewährt, für durchgreifende Reformen nutzen.

In der Realität werden wir irgendwo in der Mitte landen: ein paar Reformbemühungen, etwa in Italien, die aber meist nicht so weit gelingen wie gewünscht. Etwas mehr Verständnis dafür, dass der Zusammenhalt der Euro-Zone auch den starken Mitgliedsländern nützt, die ja von Exportüberschüssen leben. Eine mittelweiche Geldpolitik, die es vielleicht an Entschiedenheit beim Kampf gegen die Inflation fehlen lässt, dafür aber ein Auseinanderkrachen der Euro-Zone verhindert.

So bezahlen am Ende über lange Zeit gestreckt alle ein bisschen von der großen Rechnung. Ist das die schlechteste aller Welten? Oder eine der besseren Varianten? Wir wissen es nicht. Denn die Geschichte passiert nur einmal. Wir sollten deswegen nicht zu voreilig urteilen.

Der Euro-Raum und die USA leiden beide unter ungelösten Verteilungsproblemen. Das haben schon die große Finanzkrise und die anschließende Euro-Krise gezeigt. Die Finanzkrise wurde durch minderwertige Kredite für US-Immobilien ausgelöst. Dabei spielte eine Rolle, dass die USA statt Sozialpolitik die Vergabe von Krediten an arme, eigentlich nicht kreditwürdige Haushalte gefördert haben.

Die Finanzkrise und die anschließende Geldflut der Notenbanken waren die Folge. In der Euro-Krise ging es dann um die Probleme zwischen den Euro-Ländern. Durch wirtschaftliche Ungleichgewichte bauten sich Verschuldungen auf, die ebenfalls zu einer nachträglichen Finanzierung mithilfe der Notenbank führten.

Joe Biden

Der US-Präsident hat Ausgabenpakete angestoßen, die zum Teil explizit die ungleiche Verteilung des Wohlstands lindern sollen.

(Foto: Reuters)

Corona hat neue Verwerfungen ausgelöst. Diesmal haben die Regierungen Europas ein gemeinsames Finanzpaket geschnürt. Aber es wird im Wesentlichen durch Schulden finanziert, die auch von der EZB gekauft werden können. In den USA wiederum hat Präsident Joe Biden Ausgabenpakete angestoßen, die zum Teil explizit die ungleiche Verteilung des Wohlstands lindern sollen. Die Rechnung bleibt wiederum offen: Sie werden durch Schulden finanziert.

Die vergangenen Jahrzehnte haben am Beispiel Japans gezeigt: Rechnungen können auch sehr lange offen bleiben. Die Bürger dort finanzieren den Staat, indem sie direkt oder indirekt Anleihen kaufen. So entsteht formaler Reichtum, der durch die Wirtschaftskraft schon lange nicht mehr gedeckt wird. Solange die Sparwut der Japaner anhält, bleibt dieses System aber stabil.

Die Alternative wären hohe Steuern: Sie würde im Prinzip zu ähnlichen Finanzströmen führen, aber auf größeren Widerstand stoßen. Die Notenbank hilft durch massive Anleihekäufe mit, das System zu stabilisieren, und hat trotzdem noch keine Inflation erzeugt.

Blasen oder Buchungssalden?

Gibt es am Ende also doch eine Münchhausen-Strategie, nach der sich Länder und Regionen mithilfe von Schulden und gedrucktem Geld aus dem Sumpf ziehen können? Oder entsteht so eine gewaltige Blase, die irgendwann platzen muss? Sind Staatsschulden und hochgepumpte Notenbankbilanzen nur Buchungssalden, die man gegenseitig wegstreichen kann? So erklärt es die Modern Monetary Theory (MMT).

Auch hier gilt: Wir wissen es nicht. Die MMT ist in den USA allerdings schon vor die Wand gelaufen. Schulden seien kein Problem, solange es keine Inflation gebe, hieß es. Jetzt gibt es sie.

Die Geschichte, auch die der Pandemie, hinterlässt uns mehrere Lehren. Erstens: Es hat wenig Sinn, Finanz- und Geldpolitik separat zu analysieren, auch wenn sie aus gutem Grund separat organisiert sind. In dem Punkt hat die MMT recht. Zweitens: Schulden und Inflation sind oft Ausdruck tieferer Probleme oder sogar deren Lösung, wenn auch schlechte. Es gilt herauszufinden, wo die eigentlichen Probleme stecken. Dabei wird man oft feststellen, dass sie schwer gut zu lösen sind. Und wenn es nur schlechte oder vorläufige Problemlösungen gibt, gilt es abzuwägen: Was ist die am wenigsten schlechte Option?

Man wird dabei häufig Wege finden, die ordnungspolitisch keineswegs preisverdächtig sind. Ist das ein Freibrief, ohne Hemmungen Schulden und Geld zu produzieren? Nein. Was in Japan lange Zeit funktioniert, kann immer noch schiefgehen und ist vor allem nicht auf andere Regionen übertragbar. Es gilt, Augenmaß zu bewahren und jede Chance zur Konsolidierung der Schulden und Normalisierung der Geldpolitik zu nutzen. Beides verlangt enorme politische Energie, aber auch Solidarität, ohne die Verteilungsprobleme unlösbar bleiben.

Geld- und Finanzpolitik gleichen unter den Bedingungen außerordentlicher Ereignisse wie der Coronapandemie einem Blindflug ohne ausreichende Instrumente durch eine enge Schlucht. Es gilt daher, die Augen offenzuhalten, den Piloten nicht zu viele unsinnige Ratschläge zu geben, aber sie zu äußerster Vorsicht zu ermahnen.

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