Ortlieb und Hanwag klagen über Personalmangel in Europa

München Der Radtaschenhersteller Ortlieb und der Bergstiefelproduzent Hanwag gehören zu den absoluten Ausnahmen in der Sportbranche: Beide Unternehmen produzieren ausschließlich in Europa, Ortlieb sogar allein im fränkischen Heilsbronn. Über ihre Erfahrungen damit berichten die Mittelständler im gemeinsamen Interview mit dem Handelsblatt.

In der Pandemie habe sich ihr Sonderweg ausgezahlt: „Die kurzen Wege sind ein klarer Vorteil für uns“, sagt Ortlieb-Geschäftsführer Martin Esslinger. So könne Ortlieb verlässlicher liefern als die Konkurrenz aus Fernost und schnell auf Markttrends reagieren. Zudem sei die lokale Produktion nachhaltiger.

Der Fokus auf Europa hat indes auch seine Schattenseiten. „Es stehen zu wenig Arbeitskräfte zur Verfügung“, sagt Hanwag-Chef Thomas Gröger. Man habe große Probleme, Fachkräfte zu gewinnen. „Wir haben dieses Jahr schon über 50 Personen eingestellt, gleichzeitig sind aber 25 gegangen“, sagt Esslinger.

Und die Lage verschlimmert sich noch: „In Ungarn wird neben unserer Fabrik ein ganz großes Werk eines Autozulieferers gebaut mit mehr als 10.000 Arbeitsplätzen“, erklärt Gröger. „Da haben wir es schwer mit unseren 200 Stellen.“ Beide Unternehmen schlagen nun neue Wege ein, um das dringend benötigte Personal anzulocken – und langfristig an sich zu binden. So setzt Ortlieb von Jobkandidaten keine ausführlichen Bewerbungen auf Deutsch mehr voraus.

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Lesen Sie hier das gesamte Interview mit den Chefs von Ortlieb und Hanwag:

Herr Esslinger, Ortlieb fertigt an einem einzigen Standort in Franken. Nun ist die globale Logistikkette massiv gestört. Sehen Sie sich in der Entscheidung für Deutschland bestätigt?
Esslinger: Absolut, die kurzen Wege sind ein klarer Vorteil für uns. Denn wir produzieren ja nicht nur hier. Es sitzen auch die meisten Lieferanten in unmittelbarer Nähe. Zudem haben wir unsere eigene Wertschöpfung in der Coronazeit noch einmal deutlich erhöht.

Es geht Ihnen also vor allem darum, verlässlich liefern zu können?
Esslinger: Nicht nur, wir können auch schnell reagieren. Wenn eine Kategorie einmal besser läuft als die andere, stellen wir zügig um und sind nicht angewiesen auf Lieferanten in Asien – wo wir uns erst mal hinten anstellen müssten mit unseren Bestellungen. Hierzulande zu fertigen ist natürlich auch nachhaltig, was die Verbraucher immer mehr schätzen. Einer unserer Zulieferer sitzt auf der anderen Straßenseite, da brauchen wir nicht einmal einen Lkw.

Gleichwohl, eine einzige Fabrik ist auch ein Risiko, oder?
Esslinger: Natürlich, insbesondere bei einem Corona-Ausbruch sinkt der Output. Dieses Risiko zieht sich durch unsere ganze Lieferkette, weil wir immer eng mit einzelnen Partnern zusammenarbeiten. Wir hatten eine Phase, in der unser Produzent für Kunststoffteile hier um die Ecke wegen Corona ausfiel. Zum Glück hatten wir einen Puffer von sieben Tagen. Sonst hätten unsere Maschinen stillgestanden.

Herr Gröger, als Sie vor fünf Jahren Chef des Bergschuhspezialisten Hanwag wurden, haben Sie schnell die Produktion in China eingestellt. Im Lichte der jüngsten Entwicklung ein richtiger Entschluss, oder?
Gröger: Ja, wir haben alles zurück nach Europa verlagert. Wir hatten damals eine Schaftnäherei in China. Die Qualität war in Ordnung, aber die Vorlaufzeiten waren zu lang. Wir mussten europäisches Leder mit Schnürsenkeln und allem Drum und Dran dorthin schicken, haben in China den Schaft gefertigt und das dann zurücktransportiert. Das dauerte mehr als acht Monate. Da kann ich einfach nicht auf den Markt reagieren. Außerdem stimmt die CO2-Bilanz nicht.

Inzwischen produzieren Sie komplett in Europa, neben Deutschland in Ungarn und auf dem Balkan. Was bringt das?
Gröger: Wir sind viel wendiger als früher. So kaufen wir auch sämtliches Material in Deutschland und Europa ein. Es kommt nur noch eine Sohle aus Asien, und selbst das werden wir nächsten Winter ändern, dann beziehen wir die aus Spanien. Nur das Yak-Leder, das stammt aus der Mongolei. Es stehen einfach zu wenige Yaks auf deutschen Weiden.

Produktion beim Stiefelhersteller Hanwag

Das Unternehmen hat große Schwierigkeiten, neue Mitarbeiter zu finden.


(Foto: Hanwag)

Ist es nicht viel teurer, in Europa zu fertigen? Die großen Sportkonzerne beziehen ihre Schuhe fast komplett aus Asien.
Gröger: Ja, das ist ein Punkt, weil einfach der Stundenlohn höher ist. Der allergrößte Nachteil von Europa aber ist: Es stehen zu wenig Arbeitskräfte zur Verfügung. Es ist wirklich schwierig, qualifizierte Leute zu bekommen oder auch jemanden, den wir anlernen. Wir müssen mit den Autoherstellern oder der IT-Branche konkurrieren.

Sie kämpfen also mit Audi, Bosch und Mercedes um die Leute?
Gröger: So ist es. Wir haben natürlich auch hohe Anforderungen. Es dauert einfach, bis jemand Leder nähen kann. Das ist zudem eine eher dreckige Arbeit, da braucht man sich nichts vorzumachen. Da benötigen Sie Kraft, Sie müssen das Leder kräftig mit dem Daumen ziehen. Diese Leute erkennen Sie übrigens daran, dass sie Muskeln oben am Daumen haben – mehr als ein Kletterer.
Esslinger: Bei uns ist es genauso, der Fachkräftemangel ist ein großes Problem. Wir haben dieses Jahr schon über 50 Personen eingestellt, gleichzeitig sind aber 25 gegangen. Leider gibt es da aktuell aufgrund der schwierigen Arbeitsmarktsituation eine sehr große Fluktuation, was die Produktivität drückt.

Wie kommen Sie dem bei?
Gröger: Wir hatten bis vor Kurzem bei Hanwag nur drei Fertigungsstandorte. Der Stammsitz in Vierkirchen bei München, darüber hinaus Ungarn und Kroatien. Das haben wir geändert: Zuletzt kam Bosnien dazu und nun auch noch Serbien und Rumänien. Damit splitten wir das Risiko. Zudem müssen Sie auf die lokalen Gegebenheiten eingehen.

Ortlieb-Geschäftsführer Martin Esslinger

„Wir haben dieses Jahr schon über 50 Personen eingestellt, gleichzeitig sind aber 25 gegangen.“


(Foto: Ortlieb)

Was heißt das?
Gröger: In Ungarn etwa wünschen sich die Frauen, die bei uns arbeiten, Supermarktgutscheine, um beim Einkaufen von Lebensmitteln etwas unabhängiger zu sein. Natürlich spielt auch Schichtbetrieb eine Rolle. Die einen wollen es, die anderen nicht. Da müssen Sie von Land zu Land und sogar von Abteilung zu Abteilung entscheiden.
Esslinger: Wir versuchen, die Produktion stärker zu automatisieren. Nicht, um unsere Mitarbeiter überflüssig zu machen, sondern, um sie zu unterstützen. Für unsere Topseller haben wir Fertigungslinien mit Arbeitsschritten aufgebaut, die relativ einfach zu lernen sind. Das ist für uns enorm wichtig. Denn in der Vergangenheit hat ein Beschäftigter ein halbes Jahr gebraucht, bis er richtig produktiv war. Bei der derzeitigen Fluktuation ist das natürlich schwierig.

Es geht bei Ortlieb auch ohne Deutsch

Dadurch bekommen Sie aber nicht mehr Leute, oder?
Esslinger: Wir bemühen uns, die Leute niedrigschwellig in den sozialen Medien anzusprechen. Die brauchen zudem keine große Bewerbung auf Deutsch zu formulieren. Damit sind viele überfordert. Bislang haben wir immer gesagt, dass ein Grundniveau an Deutsch Voraussetzung ist. Davon müssen wir abrücken. Wir denken über Schichten nach, in denen nur ein, zwei Personen unserer Sprache mächtig sind. Die können dann ihre Kollegen in ihrer Landessprache einlernen.

Rechnen Sie damit, dass eine mögliche Rezession den Arbeitsmarkt entspannt?
Esslinger: Wir sind in einer Wachstumsbranche. Wenn andere Unternehmen demnächst Mitarbeiter freistellen sollten, dann ist das für uns eine Chance, neue Kolleginnen und Kollegen zu gewinnen.
Gröger: Das ist bei uns etwas anders. Ich bräuchte einen guten Schuhmacher, im Idealfall ist der auch noch Schuhtechniker. Aber es werden im Jahr in ganz Deutschland nur noch fünf ausgebildet – wenn überhaupt. Daran ändert die Rezession nichts.

Hanwag-Chef Thomas Gröger

„Der allergrößte Nachteil von Europa ist: Es stehen zu wenig Arbeitskräfte zur Verfügung.“


(Foto: Hanwag)

Ist es im Ausland einfacher, Leute zu bekommen?
Gröger: Nein, gar nicht. In Ungarn wird neben unserer Fabrik ein ganz großes Werk eines Autozulieferers gebaut mit mehr als 10.000 Arbeitsplätzen. Da haben wir es schwer mit unseren 200 Stellen. Und Kroatien bekommt im kommenden Jahr den Euro. Das heißt: Da werden die Löhne vermutlich explodieren. Momentan zahlt dort die Tourismusbranche an der Küste ohnehin fast jeden Preis. Da wechseln also auch Leute.

>>Lesen Sie hier: Neuer Underberg-Vorstand: „Unser Ziel ist, von den hohen Schulden runterzukommen“

Ist Schichtbetrieb eine Lösung?
Gröger: Den hätte ich gerne, aber dafür reichen die Mitarbeiter nicht. So bleiben die Maschinen den halben Tag ungenutzt. Stattdessen automatisieren auch wir, wo es geht. Denn es ist jetzt schon klar, dass der Kampf um die Köpfe noch schlimmer wird.

Wieso das denn?
Gröger: Viele europäische Firmen aus der Textilindustrie kommen von Asien nach Europa zurück. Die saugen Kapazitäten auf. Das ist eine Bewegung, die aber noch aus ganz anderem Grund problematisch ist.

Ortlieb will beim Strom autark werden

Und der wäre?
Gröger: Wenn wir von Schuhproduzenten reden, kommen die Schäfte weiter aus Bangladesch oder Indonesien, und hier wird anschließend oft nur die Sohle draufgeklebt. Wenn Sie 45 Prozent des letzten Arbeitsschritts in Europa erledigen, dann können Sie – ohne rot zu werden – trotzdem „made in…“ mit dem entsprechenden europäischen Land draufschreiben.

Das ist ein Schlag ins Gesicht für uns, denn da hat die EU als Gesetzgeber geschlafen. Wir unternehmen hier große Anstrengungen, um wirklich komplett in Europa zu fertigen, und übernehmen damit auch soziale Verantwortung. Und dann so was.

Sie schreiben in jeden Schuh das Land rein, wo er gemacht wurde?
Gröger: Ja, uns reicht „made in EU“ nicht. Das wäre kaugummimäßig. Die Konsumenten sollen genau wissen, woher in Europa das Produkt kommt, und zwar zu 100 Prozent. Die Käufer honorieren das und zahlen auch ein wenig mehr dafür.

Zum Personalmangel in Europa kommen jetzt noch drastisch steigende Energiekosten. Wie kommen Sie damit klar?
Esslinger: Wir sind in der glücklichen Lage, schon seit 2012 30 Prozent unseres Stroms selbst zu erzeugen mit Solarpanelen. Bis 2025 sollen es 100 Prozent sein. Wenn wir dann auch noch die nötigen Speicherkapazitäten haben, sind wir in Heilsbronn autark. Wir wollen aber auch über den Eigenbedarf hinaus mehr regenerative Energie produzieren, um einen zusätzlichen Beitrag zur Bekämpfung des Klimawandels zu leisten. Und zwar nicht über Kompensationen.

Hanwag verspricht, jede Bestellung auszuliefern

Bei allen Herausforderungen preisen Sie dennoch die Vorteile der Produktion in Europa. Hand aufs Herz: Können Sie in diesen Tagen tatsächlich liefern?
Gröger: Absolut. Wir verkaufen jetzt gerade die Kollektion für das kommende Jahr. Viele Wettbewerber haben die Bestellungen für Sommer 2023 limitiert. Wir nicht. Wir haben das Rohmaterial, wir haben die Kapazitäten in Europa, und wir werden liefern.

Sagen Sie den Kunden auch, zu welchem Preis? Oder wollen Sie sich da angesichts der hohen Inflation nicht festlegen?
Gröger: Ein wichtiger Punkt. Vom Garn über den Klebstoff bis zum Schaumstoff und den Textilien der Einlegesohlen wird alles teurer – und zwar schneller, als wir kalkulieren können. Trotzdem haben wir jetzt Preise für den kommenden Sommer genannt, zu denen wir auch liefern werden.

Das heißt: Jede Kostensteigerung, die jetzt über Ihre Kalkulation hinausgeht, drückt Ihre Marge?
Gröger: Genau, der Preis für den einzelnen Händler bleibt für die gesamte Saison gleich – auch wenn er in den kommenden Monaten noch etwas nachbestellt. Gleichzeitig wollen wir auch unsere Zulieferer nicht knebeln, denn das soll ein partnerschaftliches Verhältnis sein. Da muss man dann halt auch mal zurückstecken bei der Marge.
Esslinger: Wir haben die Preise moderat erhöht, stehen jetzt dazu und gehen damit auch stärker ins Risiko. Das tun wir ganz bewusst, denn wir wollen keine Preisspirale auslösen. Aber klar, wenn das Gas aus Russland vollkommen ausbleibt, dann muss man sich alles noch mal anschauen.

Ortlieb-Rucksack

Der Hersteller von Fahrradtaschen will die Preise für das kommende Jahr nicht erhöhen.


(Foto: Ortlieb)

Angesichts der galoppierenden Inflation halten die Menschen ihr Geld zusammen. Fürchten Sie, dass Ihr Geschäft jetzt einbricht?
Esslinger: Frühere Krisen haben uns jedenfalls nicht geschadet, im Gegenteil. Denn die Leute wenden sich in schlechten Zeiten langlebigen Produkten zu. Aktuell sehen wir bei uns jedenfalls kein schwächeres Geschäft. Aber im Radhandel insgesamt bleiben die Einstiegspreispunkte liegen. Das ist kein Wunder, die unteren Einkommensgruppen spüren die teuren Lebensmittel und den saftigen Benzinpreis überproportional.
Gröger: Es wird schwieriger werden, ganz klar. Die riesigen Wachstumsraten der vergangenen zwei Jahre sind vorbei. Unsere Händler sagen uns jedoch, dass sie unsere Schuhe sehr, sehr gut verkaufen. Aber natürlich ist die Produktionsplanung momentan ein Schuss ins Blaue.

Herr Esslinger, Herr Gröger, vielen Dank für das Interview.

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