Neue Explosionen in Kiew und Angriffe auf Lwiw,

Andrij Melnyk

Der ukrainische Botschafter kritisiert, dass es noch immer keine Zusage für schwere Waffen aus Deutschland gibt.


(Foto: IMAGO/Christian Spicker)

Berlin Gut sieben Wochen nach dem Einmarsch in die Ukraine verstärkt Russland Luftangriffe auf Großstädte. In Kiew und Charkiw schlugen am Samstag Raketen ein, während Ziele in Lwiw an der Grenze zu Polen von Kampfjets bombardiert wurden. In der eingekesselten und weitgehend in Trümmern liegenden Hafenstadt Mariupol hielten ukrainische Soldaten die Stellung, wie die ukrainischen Behörden mitteilten.

Reuters-Journalisten vor Ort bot sich in dem strategisch wichtigen Stahlwerk Iljitsch, das russische Truppen nach eigenen Angaben erobert haben, ein Bild der Verwüstung. In Berlin warf unterdessen der ukrainische Botschafter Andrij Melnyk der Bundesregierung mangelnde Informationen bei der Aufstockung der Militärhilfen für sein Land vor.

Bei den Raketenangriffen auf Kiew wurde laut Bürgermeister Vitali Klitschko mindestens ein Mensch getötet. Ärzte kämpften zudem um das Leben mehrerer Verletzter, sagte Klitschko im ukrainischen Fernsehen. Russland sprach von einem Schlag gegen einen Rüstungsbetrieb. In Charkiw im Nordosten der Ukraine wurde nach Angaben der Behörden ebenfalls ein Mensch bei einem Raketenangriff getötet.

Wie der Gouverneur der Region auf Telegram mitteilte, gab es zudem 18 Verletzte. Die Region Lwiw wurde nach ukrainischen Angaben mit Marschflugkörpern angegriffen, die von in Belarus gestarteten Flugzeugen abgefeuert wurden. Im Osten der Ukraine wurden den Behörden zufolge bei russischen Angriffen mindestens zwei Zivilisten getötet und vier weitere verletzt.

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Nach dem Rückzug russischer Truppen aus dem Großraum Kiew konzentriert sich das Militär auf die Eroberung von Gebieten im Süden und im Osten. Als Hauptziel gilt die Einnahme Mariupols. Dort fanden Reuters-Reporter auf dem Gelände des Stahlwerks Iljitsch keine ukrainischen Soldaten mehr vor, sondern nur noch Trümmer aus Beton und Stahl. In den Straßen um die Fabrik herum sahen sie mindestens ein halbes Dutzend getötete Zivilisten.

Ukraine und Opposition üben Kritik an Scholz’ Aufstockung der Militärhilfe

Die Ukraine hat über langsame und unzureichende Waffenlieferungen aus der Europäischen Union geklagt. „Die EU kommt der Ukraine entgegen, doch sie gibt nicht die Waffen, um die wir gebeten haben“, schrieb Präsidentenberater Mychajlo Podoljak am Samstag bei Twitter. Zudem dauere die Lieferung der Waffen zu lange. „Die Ukraine braucht Waffen. Nicht in einem Monat. Jetzt“, forderte Podoljak.

Auch die von Bundeskanzler Olaf Scholz durchgesetzte Aufstockung der militärischen Hilfen um zwei Milliarden Euro stößt auf Kritik aus der Ukraine. Botschafter Melnyk erklärte dazu in der „Welt am Sonntag“: „Die Ankündigung über die Erhöhung der militärischen Ertüchtigungshilfe für die Ukraine klingt gut auf den ersten Blick. Allerdings wurde die ukrainische Regierung über die Einzelheiten gar nicht informiert“. Es habe keine Konsultationen gegeben. „Wir wissen weder vom Umfang weiterer Waffenlieferungen, noch vom Verfahren oder Zeithorizont. Das alles bleibt nach wie vor im Dunklen.“ Die Regierung in Kiew habe zudem keine Zusage für schwere Waffen erhalten, die die Ukraine am meisten benötigen

In der Ampel-Koalition hatte es zuletzt Streit über die Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine gegeben. Politiker von Grünen und FDP hatten Bundeskanzler Scholz Zaudern vorgeworfen. Geeinigt hat man sich nun darauf, die Mittel für die sogenannte Ertüchtigungsinitiative in diesem Jahr von 225 Millionen auf 2 Milliarden Euro deutlich zu erhöhen. Dabei handelt es sich um ein Programm, mit dem Partnerländer in Krisenregionen unterstützt werden, damit sie in mehr Sicherheit investieren können. Die Ukraine soll davon mehr als eine Milliarde Euro bekommen.

Der CDU-Außenpolitiker Norbert Röttgen kritisierte den Plan deutlich. „Ich muss es leider sagen. Das, was Scholz und Lindner sich da ausgedacht haben, ist zynisch“, schrieb Röttgen am Samstag bei Twitter mit Blick auf Kanzler Olaf Scholz (SPD) und Finanzminister Christian Lindner (FDP). „Während ganz Europa Deutschland um Führung und Verantwortung bittet, sind sie mit der Gesichtswahrung der Streitparteien in der Bundesregierung beschäftigt.“

Die russische Großoffensive stehe unmittelbar bevor. Mit Geld könne sich die Ukraine nicht verteidigen, sie brauche Waffen „und zwar so schnell wie möglich“, schrieb Röttgen. „Mit deutschem Geld in Deutschland Waffen zu kaufen, dauert: Der Bundestag muss einen Nachtragshaushalt beraten und beschließen, dann müssen Genehmigungen für Waffenexporte beantragt und genehmigt und schließlich die Waffen geliefert werden. Dann ist Sommer.“

Der Vorsitzende des Bundestagseuropaausschusses, Anton Hofreiter (Grüne), sagte der „Welt am Sonntag“: „Die Aufstockung ist ein erster guter Schritt, aber (sie) kann die direkte Lieferung von Waffen nicht ersetzen.“ Auch ein Erdölembargo müsse schnell umgesetzt werden, um Russland von wichtigen Einnahmen abzuschneiden, fügte er hinzu.

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Wiederaufbau der befreiten Gebiete beginnt langsam

Der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski sieht sein Land in ehemals von russischen Truppen besetzten Orten und Städten mit massiven Herausforderungen konfrontiert. Der Umfang der Arbeit für eine Wiederherstellung des normalen Lebens sei „wirklich enorm“.

Die ukrainischen Behörden setzten die Wiederherstellung des normalen Lebens in den Gebieten fort, die wieder unter ukrainischer Kontrolle seien, sagte Selenski in seiner abendlichen Videobotschaft in der Nacht zu Samstag. Der Umfang der Arbeit in den 918 Orten und Städten unterschiedlicher Größe sei massiv.

Man führe Entminungsarbeiten durch, stelle die Versorgung der Orte mit Strom, Wasser und Gas wieder her. Auch die Polizei, Post und lokale Behörden nähmen ihre Arbeit wieder auf. Zugverbindungen seien etwa in der Region Sumy im Nordosten des Landes wieder eingerichtet oder stünden etwa mit der Stadt Tschernihiw im Norden kurz vor der Wiederaufnahme.

Humanitäre Stäbe habe man bisher in 338 derartigen Orten etabliert. Diese stellten unter anderem notfallmedizinische Versorgung bereit, sagte Selenski. Auch Schulen und andere Bildungseinrichtungen sollen dort, wo dies möglich sei, wieder aufgenommen werden.

Russische Truppen hätten mit Stand Freitag 1018 Bildungseinrichtungen in dem Land zerstört oder beschädigt, sagte Selenski. Die Angaben konnten nicht unabhängig geprüft werden.

Zerstörung in Großstadt Sjewjerodonezk

Durch den russischen Angriffskrieg nahm nach ukrainischen Angaben auch die Großstadt Sjewjerodonezk im Gebiet Luhansk großen Schaden. Laut dem Chef der Militärverwaltung der Stadt, Olexandr Strjuk, ist die Stadt zu rund 70 Prozent zerstört.

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Die wichtigsten Straßen seien erheblich beschädigt und auch die Wasserversorgung sei bis zur Durchführung von Reparaturarbeiten eingestellt, sagte Strjuk im ukrainischen Einheitsfernsehen. Von den rund 130 000 Bewohnerinnen und Bewohnern vor dem Krieg seien nur mehr etwa 20.000 Menschen vor Ort, sagte er. Die Angaben konnten zunächst nicht unabhängig geprüft werden.

Bei einem Beschuss des Industriebezirks der ostukrainischen Metropole Charkiw sollen ukrainischen Angaben zufolge mindestens zehn Menschen getötet worden sein. Unter den Opfern sei ein sieben Monate altes Baby, teilte die Staatsanwaltschaft des Gebietes Charkiw am Freitagabend auf Facebook mit.

Die Ukraine berichtete zudem über einen russischen Luftangriff auf einen Flugplatz in der Stadt Olexandrija im Gebiet Kirowohrad in der zentralen Ukraine. Die Rettungsarbeiten liefen, schrieb der Bürgermeister Serhij Kusmenko auf Facebook. Über Schäden oder Opfer gab es zunächst keine Angaben.

Selenski: 2500 bis 3000 getötete ukrainische Soldaten.Wie viele Zivilisten seit der Invasion am 24. Februar insgesamt getötet wurden, lässt sich laut der Ukraine nicht beziffern. Die Zahl der Todesopfer wird jedoch allein in der besonders heftig umkämpften Stadt Mariupol auf Zehntausende geschätzt. Zu der Zahl der getöteten ukrainischen und russischen Soldaten machte Präsident Wolodymyr Selenskyj am Freitag im US-Sender CNN Angaben, die sich unabhängig aber nicht überprüfen lassen: Laut Selenskyj starben bisher 2500 bis 3000 ukrainische Soldaten, rund 10.000 wurden verletzt. Zugleich seien 19.000 bis 20.000 russische Soldaten getötet worden. Die Zahl weicht stark von den letzten offiziellen russischen Angabe ab. Bis zum 25. März waren laut Moskauer Regierung 1351 Soldaten getötet worden.

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Moskau verhängt Einreiseverbot gegen Johnson

Russland hat als Antwort auf westliche Sanktionen infolge des Ukraine-Kriegs ein Einreiseverbot gegen den britischen Premierminister Boris Johnson verhängt. Auch Verteidigungsminister Ben Wallace und Außenministerin Liz Truss dürfen nicht mehr nach Russland. Auf einer Liste, die das Außenministerium in Moskau veröffentlichte, steht die Namen von insgesamt 13 britischen Verantwortlichen. Zuvor hatte Russland schon Einreiseverbote gegen US-Präsident Joe Biden sowie führende Vertreter der Europäischen Union, Australiens und Neuseelands erlassen.

Das Außenministerium in Moskau warf der britischen Regierung „nie da gewesene feindliche Handlungen“ vor. London stehe hinter einer „Informationskampagne“, die zum Ziel habe, Russland international zu isolieren und wirtschaftlich zu schädigen. Die neuen westlichen Sanktionen ergingen noch vor Beginn des russischen Angriffskriegs in der Ukraine vor mehr als sieben Wochen. Die USA haben Russlands Präsidenten Wladimir Putin und seinen Außenminister Sergej Lawrow sowie weitere Regierungsmitglieder auch persönlich sanktioniert.

Russland hatte zuvor wegen Waffenlieferungen an die Ukraine Protestnoten an mehrere westliche Länder. Darunter seien auch die USA, sagte die Sprecherin des Außenministeriums, Maria Sacharowa, der Agentur Interfax zufolge. Nach Angaben der US-Tageszeitung „Washington Post“ warnt Moskau in dem Schreiben, dass solche Lieferungen „unvorhersehbare Folgen“ haben könnten.

Deutsche uneins über Ukraine-Krieg

Die Menschen in Ost- und Westdeutschland reagieren nach einer aktuellen Umfrage unterschiedlich auf den Ukraine-Krieg und seine Auswirkungen. In Westdeutschland seien fast zwei Drittel der Menschen (64 Prozent) bereit, auch bei einer Energieknappheit auf Energie aus Russland zu verzichten, fasste die Eon-Stiftung das Ergebnis einer repräsentativen Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Civey unter 10.000 Bundesbürgern zusammen. In Ostdeutschland befürworteten weniger als die Hälfte der Befragten (42 Prozent) einen solchen Schritt.

Auch die Bereitschaft, im Falle von Energieengpässen die Heizung herunterzudrehen oder weniger Auto zu fahren, ist der Umfrage zufolge im Westen deutlich ausgeprägter. Während in den alten Bundesländern zwischen 55 und 70 Prozent der Befragten angaben, sie wollten bei einer Energieknappheit die Heizung herunterdrehen, signalisierten in Ostdeutschland (ohne Berlin) weniger als die Hälfte der Befragten die Absicht zu einem solchen Schritt.

Als Alternative zu russischem Gas favorisierten die Befragten in Ostdeutschland heimische Kohle, die Befragten im Westen Solar- und Windenergie.

„Durch den Ukraine-Krieg treten die unterschiedlichen Haltungen der West- und Ostdeutschen in Bezug auf Energiewende und Klimaschutz ein weiteres Mal offen zutage“, schreiben die Autoren die Eon-Stiftung in der Auswertung der Umfrage. Insgesamt scheine die Skepsis gegenüber effektivem Klimaschutz und dem Ausbau erneuerbarer Energien unter den Bürgerinnen und Bürgern in den oft ländlich geprägten Regionen Ostdeutschlands auch in dieser angespannten Situation stärker ausgeprägt zu sein als in Westdeutschland.

Bundesweit beschäftigten steigende Energiepreise Menschen in ländlichen Regionen (52 Prozent) deutlich mehr als Menschen in Ballungsgebieten (38 Prozent). Eine Ausweitung des Krieges in Osteuropa machte Menschen in sehr dicht besiedelten Gebieten (61 Prozent) hingegen mehr Sorgen als in sehr schwach besiedelten, ländlichen Regionen (49 Prozent).

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