Michael Roth fordert härtere Sanktionen gegen Russland

Die aktuell laufenden Gespräche des Westens mit Russland bewertet Roth als „Chance“. Klar sei aber, dass über die Zugehörigkeit zur Nato von Ländern wie der Ukraine „nicht in Moskau entschieden wird“. Der Westen könne nicht zuschauen, wie die Staaten Osteuropas „zu machtlosen Teilen einer russischen Einflusssphäre werden“. Das aggressive russische Auftreten in den vergangenen Jahren habe „zu einer massiven Entfremdung dieser Länder von Moskau geführt“, ist Roth überzeugt.

Er hoffe jetzt auf Verhandlungen mit dem Kreml über Abrüstung und auf neue Rüstungskontrollabkommen wie „vor allem das Verbot der Herstellung und Stationierung von Kurz- und Mittelstreckenraketen“. Am Ende stehe die Vision einer atomwaffenfreien Welt.

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Gleichzeitig verlangt Roth angesichts der russischen Politik „Wehrhaftigkeit“: Die von der SPD geführte Bundesregierung werde „alles Notwendige tun, um die Bundeswehr bestmöglich auszustatten und unseren Bündnisverpflichtungen nachzukommen“.

Lesen Sie hier das gesamte Interview:

Herr Roth, wie schätzen Sie die Chance ein, dass die Krisentreffen zwischen Russland und dem Westen diese Woche die Kriegsgefahr in der Ukraine wirklich bannen?

Angesichts der Stationierung von mehr als hunderttausend russischen Soldaten an der Grenze zur Ukraine ist die Gefahr mitnichten gebannt. Aber die Rückkehr Russlands an den Verhandlungstisch bedeutet eine Chance für eine Deeskalation der angespannten Lage. Zu lange wurde übereinander und nicht miteinander gesprochen. Jetzt müssen aber auch verbindliche Ergebnisse folgen.

Ihren Optimismus in Ehren, aber bislang hat man nicht den Eindruck, als würden Russland und der Westen von ihren Maximalpositionen abrücken. Wo sehen Sie mögliche Kompromisse?

Die russische Seite hat ihre Forderungen auf den Tisch gelegt. Dialogbereitschaft heißt aus europäischer Sicht natürlich auch, selbstbewusst eigene Angebote zu unterbreiten. Unverhandelbar bleibt, dass Russland die Souveränität der Ukraine und damit ihr Recht auf freie Bündniswahl akzeptiert. Über die Zukunft von Bündnissen wird nicht in Moskau entschieden, sondern in der Nato und von Beitrittskandidaten selbst. Große Chancen sehe ich beim Thema Abrüstung und Rüstungskontrolle. Um Konflikte und Missverständnisse künftig schon frühzeitig auszuräumen, müssen wir die etablierten Dialogformate wie den Nato-Russland-Rat, die OSZE und das Normandie-Format aus Deutschland, Frankreich, Russland und der Ukraine wiederbeleben und stärken.

Russland hat die Souveränität der Ukraine in den 90er-Jahren anerkannt, Putin sieht sich aber an die Zusagen seiner Vorgänger nicht gebunden. Er erkennt weder die Ukraine noch Kasachstan in seinen jetzigen Grenzen an. Wie soll der Westen damit umgehen?

Da hilft nur Entschlossenheit und Geschlossenheit. Die EU darf sich nicht spalten lassen. Putin versucht, sich und die Welt in das 20. Jahrhundert zurückzukatapultieren, indem er wieder eine bipolare Weltordnung aufzubauen versucht. Wir dürfen uns aber nicht auf das russische Spiel und die Rhetorik der Vergangenheit einlassen.

Aber was heißt das? Von Entschlossenheit kann vonseiten des Westens keine Rede sein, nicht einmal vonseiten Europas. Gerade Deutschland war oft der Bremser europäischer Initiativen. Und es war die SPD, die Rüstungsinitiativen ehemaliger Ostblockstaaten, die sich bedroht fühlen, verhinderte…

Das ist ja der Grund, warum ich sehr für eine gemeinsame europäische Ostpolitik werbe. Wir Deutschen müssen uns noch viel stärker in die Lage unserer östlichen Nachbarstaaten hineinversetzen. Polen und die baltischen Staaten fühlen sich von Russland konkret bedroht – das müssen wir immer mitdenken. In einem sind die Europäer sich jedoch einig: Die Tür zur Nato bleibt für die Ukraine und andere ehemalige Ostblockstaaten offen. Das aggressive Auftreten Russlands in den vergangenen Jahren hat ja gerade zu einer massiven Entfremdung dieser Länder von Moskau geführt. Und das gilt nicht nur für die Eliten. Viele Menschen in der Ukraine streben nach Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und unseren westlichen Werten. Für sie ist Europa ein Sehnsuchtsort. Ich freue mich darüber.

Nur was bedeutet das konkret aus europäischer Sicht? Welche Sanktionen können Sie sich vorstellen, sollte Russland in der Ukraine Ernst machen?

Sanktionen bleiben ein wirksames Element im Instrumentenkasten einer dem Frieden verpflichteten Diplomatie. Das verteidige ich übrigens auch gegen die Interessen der Wirtschaft, die bisweilen behauptet, Sanktionen brächten ohnehin nichts. Solche Maßnahmen senden ein klares Signal, dass wir die russischen Provokationen und Völkerrechtsbrüche nicht achselzuckend hinnehmen. Über weitere mögliche Sanktionen gibt es eine Einigkeit des Westens – und sie werden konsequent angewendet, sollte Putin tatsächlich Ernst machen mit seinen Drohungen.

Diese Einigkeit kennt offenbar Grenzen. Kanzler Scholz hat neulich wieder das Mantra seiner Vorgängerin wiederholt, dass Nord Stream 2 ein rein „privatwirtschaftliches Projekt“ sei. Wie sehen Sie das: Gehört die Pipeline in den Sanktionsinstrumentenkasten?

Natürlich müssen wir zur Kenntnis nehmen, dass Nord Stream 2 auch bei unseren Partnern nach wie vor umstritten ist. Dem müssen wir Rechnung tragen und dafür sorgen, dass die Pipeline immer auch in eine gesamteuropäische energiepolitische Strategie eingebunden wird. Und sollte Russland die militärische Aggression gegen die Ukraine weiter eskalieren, dann können wir natürlich nicht einfach zum Tagesgeschäft übergehen.

Das heißt, Sie würden die Pipeline zur Disposition stellen? Das sehen Teile Ihrer Partei anders.

Bei einer weiteren Eskalation durch Russland gehört neben anderen Optionen auch Nord Stream 2 auf den Verhandlungstisch. Wir müssen in der EU eine einheitliche Linie gegenüber Moskau vertreten, dazu hat natürlich auch die Bundesregierung ihren Beitrag zu leisten. Die Pipeline ist in Deutschland nicht ausreichend als Projekt einer gemeinsamen europäischen Energiesicherung betrachtet worden. Aber alle Partner in der EU haben Anspruch auf eine sichere, bezahlbare und saubere Energieversorgung. Der Gastransit durch die Ukraine muss über 2024 hinaus von Russland garantiert werden. Nord Stream war immer auch ein politisches Projekt. Nun ist manche Kritik an der Pipeline sehr interessengeleitet. Schließlich wollen die USA ihr teures Flüssiggas in Europa verkaufen.

Für Putin ist Russland spätestens seit der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim überall dort, wo Russisch gesprochen wird. War nicht die Reaktion des Westens darauf viel zu schwach, sodass Putin sich ermutigt sah, seinen expansiven und revisionistischen Kurs fortzusetzen?

Die EU hat ja durchaus Möglichkeiten, um Druck auszuüben, wenn sie geschlossen auftritt und mit einer Stimme spricht. Europa ist der wichtigste Handelspartner für Russland. Wenn wir unsere Instrumente klug nutzen, können wir wirklich etwas bewegen.

Was sind denn die Angebote, die Europa und die USA Russland machen können, um Vertrauen zu schaffen?

Wir sollten vor allem das Verbot der Herstellung und Stationierung von Kurz- und Mittelstreckenraketen – also den alten INF-Vertrag – wieder für beide Seiten verpflichtend machen.

Zählt zu den Möglichkeiten auch die Abschaffung der letzten verbliebenen amerikanischen Atomraketen aus Deutschland? Das fordert Putin, hat aber auch der SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich schon einmal verlangt …

Die nukleare Teilhabe bleibt ein Kernprinzip der Nato. Ich habe nicht den Eindruck, dass daran ernsthaft gerüttelt wird. Aber selbstverständlich sollte der große Wurf unser Anspruch sein.

Die große Vision wäre also ein atomwaffenfreies Europa?

Unser Ziel ist eine Welt ohne Atomwaffen. Davon sind wir leider noch meilenweit entfernt, es bleibt aber völlig zu Recht die Vision der SPD. Diesem Ziel müssten sich aber alle Staaten mit Nuklearwaffen verpflichtet fühlen. Das ist auch für Frankreich ein hochsensibles Thema. Da müssen wir realistisch bleiben.

Realpolitik heißt die Rückkehr zu Helmut Schmidt – der hat mit der Nato nachgerüstet, damit am Ende die Sowjetunion und die USA groß abrüsteten. Brauchen wir wieder deutlich mehr Aufrüstung?

Es ist schade, dass immer übersehen wird, dass wir in den vergangenen Jahren den deutschen Wehretat deutlich aufgestockt haben. Auch der Bundeskanzler hat sich klar dazu bekannt, dass wir alles Notwendige tun werden, um die Bundeswehr bestmöglich auszustatten und unseren Bündnisverpflichtungen nachzukommen. Jetzt haben wir die Chance, durch Gespräche aus einer weiteren Aufrüstungsspirale herauszukommen. Und hoffentlich gelingt es uns, Russland von einer militärischen Eskalation in der Ukraine abzuhalten. Das bedeutet Dialogbereitschaft und Wehrhaftigkeit. Und zu beidem sind wir bereit.

Putin weiß doch aber, dass sich der Westen auf seine Forderung eines Stopps der Nato-Erweiterung nicht einlassen kann. Sind die Verhandlungen also nur ein Vorwand, um im Falle des Scheiterns seine Truppen loszuschicken?

Wegen des schweren Vertrauensbruchs, den Russland durch die völkerrechtswidrige Annexion der Krim zu verantworten hat, müssen wir nach wie vor auf alles gefasst sein. Aber nach der russischen Erklärung, keine militärischen Aktionen gegen die Ukraine zu planen, sollten wir einfordern, dass die an der ukrainischen Grenze stationierten Soldaten unverzüglich zurückgezogen werden. Das wäre eine erste vertrauensbildende Maßnahme.

Aber was will Putin denn erreichen mit seinem harschen Auftreten?

Moskau will von den USA wieder ernst genommen werden. Es gibt ein Putin’sches Trauma, das spätestens mit Barack Obamas Aussage begann, Russland sei nur noch eine Mittelmacht. Putin möchte wieder in der ersten Liga mitspielen. Deshalb versucht er, die EU zu spalten und über Europa hinweg allein mit den USA zu verhandeln.

Die EU hat aber auch nicht viel dafür getan, zu einer wirklich gemeinsamen Sicherheitspolitik zu kommen.

Bevor wir Europäer wehklagen, dass wir nicht ernst genommen werden, sollten wir etwas dafür tun, dass wir ernst genommen werden. Wir haben es selbst in der Hand. Da ist es gut, dass Washington klargemacht hat, dass über Abrüstung der Nato-Russland-Rat beraten soll. Aber wir müssen dafür Sorge tragen, dass eine auch von mir geforderte größere Souveränität der EU nicht einhergeht mit einer Schwächung der Nato. Sonst drohen wir unsere mittelosteuropäischen Partner in der EU zu verlieren.

Verlieren wir die nicht gerade wegen des Streits mit Polen und Ungarn um Rechtsstaatsprinzipien?

Das ist die Achillesferse der EU und schwächt unser Auftreten auf der internationalen Bühne. Wir können nach außen nur dann glaubhaft für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit eintreten, wenn wir unsere Werte auch im Inneren der EU uneingeschränkt vorleben. Und diese Klärung steht weiterhin aus. Das stellt die Ampelkoalition zu Recht ins Zentrum ihrer Europapolitik.

Ist das glaubwürdig?

In der Praxis ist es deutlich schwieriger, Demokratiesünden zu ahnden, als beispielsweise Haushaltssünden. Und einige haben sich in den vergangenen Jahren schlicht weggeduckt. Ungarns Premier Viktor Orban ist auch deshalb so stark geworden, weil er immer wieder Ehrengast auf CSU-Tagungen und seine Partei bis vor Kurzem noch Mitglied der konservativen Europäischen Volkspartei war. Aber wir haben in der deutschen Ratspräsidentschaft zwei neue Instrumente eingeführt: den Rechtsstaatscheck, dem sich alle Mitgliedstaaten unterziehen müssen, und den Rechtsstaatsmechanismus. Der kann in letzter Konsequenz dazu führen, dass Staaten, die systematisch rechtsstaatliche Mechanismen verletzen, EU-Mittel gekürzt bekommen. Das muss die EU-Kommission entschlossen nutzen. Damit stärken wir übrigens auch die polnische und ungarische Zivilgesellschaft, die sich für Demokratie und Bürgerrechte einsetzt.

Russland ist ja militärisch auch in Kasachstan aktiv geworden, einem Land, das Putin in seinen jetzigen Grenzen nicht anerkennt. Sehen Sie die Gefahr, dass Russland mit den dorthin gebrachten Truppen Teile besetzt?

Kasachstan hat ja bisher enge Beziehungen zu Russland, China und dem Westen gleichermaßen gepflegt. Nun droht die Gefahr, dass sich die autoritäre Führung dort komplett abhängig macht von Russland. Moskau und Peking haben wahnsinnige Angst, dass sich die Kasachen vom Joch des Autoritarismus befreien wollen, und denunzieren das als neuerliche „Farbrevolution“. Durch die Entsendung russischer Truppen sind jetzt Fakten geschaffen worden, sodass Kasachstan stärker unter Moskaus Kuratel gestellt zu werden droht.

Herr Roth, vielen Dank für das Interview.

Mehr: Schweden und Finnland halten an militärischer Bündnisfreiheit fest

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