Mehr Verwaltung, weniger Industrie: Wird Deutschland zum Versorgungsstaat?

Berlin Auf den ersten Blick konnten Coronapandemie, Lieferkettenprobleme und Energiekrise dem deutschen Arbeitsmarkt nicht schaden. Die sozialversicherungspflichtige Beschäftigung wuchs zwischen Dezember 2019 – also vor Beginn der Krisen – und April 2023 saisonbereinigt um gut 100.000 Personen oder drei Prozent, doppelt so stark wie die Einwohnerzahl.

Schaut man allerdings genauer hin, gibt es Entwicklungen, die manche Ökonomen für sehr bedenklich halten. Eine Handelsblatt-Analyse der Beschäftigungsentwicklung nach Sektoren zeigt, dass die Industrie im genannten Zeitraum 180.000 oder 2,6 Prozent sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze abgebaut hat.

Das pandemiegebeutelte Gaststätten- und Hotelgewerbe leidet weiterhin unter akutem Personalmangel und konnte den Beschäftigungsstand von Ende 2019 noch nicht wieder erreichen. Besonders groß ist das Personaldefizit in der Hotellerie, wie detailliertere Zahlen bis Ende 2022 zeigen.

Demgegenüber haben die staatliche Verwaltung und die staatsnahen Bereiche Gesundheit, Erziehung und sonstiges Sozialwesen deutlich aufgestockt. Insgesamt haben die Arbeitgeber in diesen Bereichen 450.000 zusätzliche Arbeitskräfte auf sich gezogen. Die Verwaltung allein beschäftigte rund neun Prozent mehr Menschen als noch 2019.

Eine Auswertung der Bundesanstalt für Arbeit (BA) nach Berufen für das Handelsblatt ergibt, dass die Anzahl der Beschäftigten in der Krankenpflege um zehn Prozent und in der Altenpflege um sechs Prozent zugenommen hat. Hier scheint ein weithin beklagter Mangel allmählich entschärft zu werden.

Mehr IT-Fachleute und Ingenieure

Es ist jedoch nicht nur die Verwaltung, die kräftig Stellen aufgebaut hat. Gewachsen ist auch der Bereich Immobilien und hochqualifizierte freiberufliche Dienstleistungen. Er umfasst neben den verwaltungsnahen Tätigkeiten Makler und Hausverwaltung auch produktionsnahe Freiberufler mit akademischer Ausbildung, zum Beispiel Architekten und Ingenieure.

Einen Lichtblick für die deutsche Wirtschaft könnte vor allem die starke Zunahme der Beschäftigung im Bereich Kommunikation und vor allem Informationstechnologie darstellen. Sie nahm um knapp 170.000 Stellen oder 14,4 Prozent zu.

Der Beschäftigungsabbau in der Industrie stellt derweil einen Trendbruch dar. Bis 2019 hatte die Industriebeschäftigung jahrelang zugenommen, seither sinkt sie. Zwar gab es 2022 eine gewisse Erholung, aber seit September 2022 stagnieren die Zahlen.

Eine genauere Untergliederung mit Daten bis Ende 2022 zeigt, welche die größten Verliererbranchen sind. Die Beschäftigung im Kraftfahrzeugbau nahm bis dahin um 49.000 oder gut fünf Prozent ab. Prozentual am stärksten brach die Beschäftigung in der Metallerzeugung und -verarbeitung  mit minus acht Prozent ein. Auch der Maschinenbau, der neben dem Automobilbau als eine der Säulen des deutschen Wirtschaftserfolges gilt, verlor mit 30.000 oder knapp drei Prozent überdurchschnittlich viele Beschäftigte.

Ökonomen uneins über die Folgen

Einige Ökonomen äußern sich besorgt über den Aufbau rund um den Staat und den Abbau in der Industrie. „Es wäre sehr bedenklich, wenn der Staat durch Personalaufbau die Arbeitskräfteknappheit für die Privatwirtschaft noch verstärken würde“, kommentiert Martin Gornig, Forschungsdirektor für Industriepolitik beim Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung. Nur wenn der Aufwuchs beim Staat dazu führe, dass bisherige Engpässe bei der staatlichen Planung und Ausführung von Projekten und bei Genehmigungen abgebaut werden, wäre das für ihn anders zu sehen.

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Unternehmensvertreter scheinen davon jedoch wenig zu sehen. „Wir machen keine Fortschritte beim Bürokratieabbau. Wir machen keine Fortschritte beim Thema Genehmigungsbeschleunigungen“, klagte Siegfried Russwurm, Präsident des Bundesverbands der Deutschen Industrie, dieser Tage.

Diesem Urteil stimmt Oliver Falck zu. Der Leiter des Ifo-Zentrums für industrielle Organisation und neue Technologien sieht im Personalaufbau der Verwaltung die Folge einer Kombination aus fehlender Digitalisierung, Krisenmanagement und „zunehmender Regeldichte durch die vielen Gesetzesinitiativen der Ampelkoalition“.

Dagegen bricht Enzo Weber, Direktor des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung bei der Arbeitsagentur, eine Lanze für die öffentliche Verwaltung. „Zur Verwaltung zählen beispielsweise auch all die Beschäftigten, die sich darum kümmern, Langzeitarbeitslose wieder in Beschäftigung zu bringen und so die Arbeitskräfteknappheit zu lindern“, betont er.

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Auch sei der Personalaufbau zumindest in Teilen unvermeidlich, weil die großen Fluchtbewegungen ab 2015 viele zusätzliche Verwaltungsaufgaben geschaffen hätten. Dann kam die Coronakrise und 2022 ein weiterer Flüchtlingszustrom, vor allem aus der Ukraine. Weber sieht im Beschäftigungsabbau der Industrie daher nicht die Anzeichen für eine beginnende Deindustrialisierung Deutschlands, sondern lediglich die temporären Folgen einer Krisenserie.

Der Präsident des Münchener Ifo-Instituts, Clemens Fuest, warnte jüngst vor einem wirtschaftlichen Abstieg Deutschlands. Unternehmen wanderten ab, was zu „einer Art Deindustrialisierung“ führen könne. Als Beispiele nannte Fuest die energieintensive Chemie- und Papierindustrie und die Autoindustrie. Ganz ähnlich hatte das Institut der deutschen Wirtschaft Anfang Juli in einer Analyse vor dem „möglichen Beginn einer Deindustrialisierung“ gewarnt.

Ifo-Ökonom Oliver Falck betont dagegen gegenüber dem Handelsblatt auch positive Entwicklungen. Hinter dem Rückgang der Industriebeschäftigung versteckten sich auch starke Strukturverschiebungen zwischen Berufen – weg von der Fertigung und hin zu Entwicklung und IT. Weil nicht mehr alle Arbeitsschritte innerhalb der Industrieunternehmen gemacht würden, nehme die Beschäftigung bei unternehmensnahen Dienstleistern deutlich zu.

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