Berlin, Düsseldorf Ein staatlich subventionierter Industriestrompreis könnte sich bremsend auf den Ausbau der erneuerbaren Energien auswirken. Der gedeckelte Preis für Industrieunternehmen würde Investitionen in Wind- und Solaranlagen unrentabel machen, ergab eine Recherche des Handelsblatts bei Anlagenbetreibern und Investoren.
Ein konkretes Beispiel aus dem Münsterland: Landwirt Bernd Kortmann will auf einer Fläche von vier Hektar einen Photovoltaik-Park mit einer Leistung von 3,3 Megawatt (MW) installieren, aber die Debatte über einen Industriestrompreis verhagelt ihm das Projekt, obwohl die Bedingungen eigentlich ideal sind: Eine Baugenehmigung liege vor, direkt neben dem Grundstück liege eine Leitung für die Netzeinspeisung, sagt Kortmann.
„Der Acker ist gerade abgeerntet und wartet darauf, dass er bebaut werden kann.“ Aber unter den gegebenen Umständen werde „eine Projektrealisierung immer unwahrscheinlicher“, sagt Kortmann. Er kalkuliert mit acht Cent je Kilowattstunde, das heißt 80 Euro je Megawattstunde, die nötig wären, um die Kosten einzuspielen. Es gebe ein interessiertes Industrieunternehmen aus dem Ort, das den Strom abnehmen würde.
Steigende Nachfrage nach langfristigen Stromverträgen
„Aber man wartet ab, was in Berlin entschieden wird, und man wird keine acht Cent bezahlen, wenn man subventionierten Strom für sechs Cent bekommen kann“, sagt Kortmann. „Dafür haben wir natürlich Verständnis. Dann sind wir aber raus aus dem Geschäft“, ergänzt er. Kortmanns Fazit: „Mit dem subventionierten Strompreis konterkariert Bundeswirtschaftsminister Habeck seine eigenen Pläne für den Ausbau der Erneuerbaren.“
Viele Unternehmen sichern sich schon seit einigen Jahren ihre zukünftige Grünstromversorgung über Direktstromverträge, sogenannte Power Purchase Agreements (PPA) ab. Die lassen sich entweder direkt mit den Betreibern von Wind- und Solarparks oder über Energieversorger schließen.
Man wird keine acht Cent bezahlen, wenn man subventionierten Strom für sechs Cent bekommen kann. Bernd Kortmann, Landwirt
Erst am vergangenen Donnerstag hat sich der Öl- und Gasriese Shell 600 Megawatt Solarstrom aus einem Park im ostdeutschen Witznitz gesichert. Die Hälfte davon verkauft Shell an den Tech-Konzern Microsoft weiter, den Rest nutzt Shell selbst. Der Vertrag geht insgesamt über 15 Jahre.
Vor allem für den Bau neuer Wind- und Solarparks sind PPAs mittlerweile für eine Finanzierung fast unabdingbar. Wer keine Förderung über das Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG) in Anspruch nimmt, muss den Banken schließlich eine andere Abnahmegarantie für den erzeugten Strom vorzeigen. Der Hauptvorteil von PPA ist angesichts der stark schwankenden Strompreise aber vor allem eines: Planbarkeit.
„Der Vorteil eines Direktstromvertrags ist die dauerhafte Absicherung gegen Preisschwankungen über fünf bis zehn Jahre“, erklärt Stefan-Jörg Göbel, Deutschlandchef des norwegischen Energieparkbetreibers Statkraft, dem Handelsblatt. Nachdem der Strompreis jahrelang zwischen 30 und 50 Euro die Megawattstunde lag, war er in der Energiepreiskrise seit dem Spätsommer 2021 zwischenzeitlich auf 150, 400 und sogar 700 Euro gesprungen. Aktuell hat er sich wieder etwas beruhigt und liegt bei knapp 100 Euro die Megawattstunde.
Die massiven Preisschwankungen haben die Nachfrage nach PPAs deutlich nach oben getrieben. Aber: „Wir merken jetzt schon, dass unsere Kunden erst einmal abwarten, ob ein Industriestrompreis kommt, bevor sie den nächsten PPA abschließen“, beobachtet Göbel. Ähnliches berichten auch andere Marktteilnehmer. „Wenn man fünf Jahre lang einen Industriestrompreis von fünf oder sechs Cent haben kann, dann wäre man ja doof, was Teureres abzuschließen“, sagt ein hochrangiger Manager dem Handelsblatt.
>> Lesen Sie auch: Strom aus Offshore-Windparks wird teurer
Während der Börsenstrompreis sich bei circa 100 Euro die Megawattstunde eingependelt hat, ist bei Überlegungen für einen Industriestrompreis stets von 50 bis 60 Euro die Megawattstunde die Rede. So hatte Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) Anfang Mai ein Konzept für einen Industriestrompreis vorgestellt.
Energieintensive Unternehmen, die im internationalen Wettbewerb stehen, sollen demnach für 80 Prozent ihres Stromverbrauchs einen Strompreis von 60 Euro je Megawattstunde garantiert bekommen. Die SPD-Fraktion ist mit einem eigenen Vorschlag ins Rennen gegangen. Sie schlägt einen Industriestrompreis von 50 Euro je Megawattstunde vor, der für stromintensive Unternehmen und für „industrielle Schlüsselbereiche der Transformation“ gelten soll. In beiden Fällen soll der vergünstigte Strompreis für mehrere Jahre gelten.
Für kleine und mittlere Unternehmen spielt der Preis eine wichtige Rolle
Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) lehnt einen Industriestrompreis dagegen ab. Er kritisiert, so etwas gehe letztlich zulasten des Mittelstands, der nicht von dem Privileg profitiere. Außerdem seien die Pläne nicht finanzierbar. Bundeskanzler Olaf Scholz liegt auf Lindners Linie und wird dafür innerhalb seiner eigenen Partei kritisiert. Eine Lösung ist im Moment nicht in Sicht.
Allein die vage Aussicht, möglicherweise von einem Industriestrompreis in Höhe von 50 oder 60 Euro je Megawattstunde profitieren zu können, bremst den Ehrgeiz, neue PPAs abzuschließen. Laut Branchenvertretern liegen die Preise für langfristige PPAs, also mit einer Laufzeit ab zehn Jahren, zwischen 70 bis 80 Euro die Megawattstunde, für einen PPA mit zwei bis drei Jahren Laufzeit sogar bei um die 100 Euro.
„Ein Industriestrompreis in der Höhe von 50 bis 60 Euro je Megawattstunde kann den PPA-Boom definitiv unterlaufen“, ist ein Brancheninsider überzeugt. Einen neuen Windpark könne man für 60 Euro die Megawattstunde eben nicht bauen. Sprich: Der Industriestrompreis könnte in der falschen Ausgestaltung den Bau neuer Wind- und Solarparks bremsen.
Während Großkonzerne wie Volkswagen und andere Investitionen in Grünstromparks mittlerweile als Wirtschaftsfaktor betrachten und sich von einem Industriestrompreis nicht von geplanten Investitionen abbringen lassen würden, sieht das bei Mittelständlern und kleineren Unternehmen anders aus. Hier spielen meist der Preis und eine Absicherung gegen Preisschwankungen die wichtigste Rolle. Das wäre dann günstiger über den Industriestrompreis zu bekommen.
Ein Ausweg könnte sein, dass ein Industriestrompreis nur für die Strommenge beansprucht werden kann, die Unternehmen im tagesaktuellen Handel einkaufen, schlägt ein Energiemanager vor. Bei der Strombeschaffung gilt meistens die Strategie, einen Teil der nötigen Energie im aktuellen Handel zu kaufen und den anderen Teil über langfristige Verträge abzusichern.
Grundsätzlich dürfte grüner Strom begehrt bleiben. Das spiegelt sich in den steigenden Preisen für PPAs wider. „Die Preise für langfristige PPAs sind, anders als die Börsenstrompreise, in den letzten Monaten nicht gefallen, sondern auf hohem Niveau geblieben“, sagte Daniel Parsons, Europachef für das PPA-Geschäft des Energiekonzerns Baywa Re, im Gespräch mit dem Handelsblatt.
In den USA und Europa werden die meisten PPAs abgeschlossen
Weltweit steigen die Strommengen, die über Direktstromverträge verkauft werden, seit zehn Jahren immer mehr an. 2022 war ein neues Rekordjahr: 37 Gigawattstunden an grüner Energie wurden über PPAs verkauft. Europa ist hinter den USA auf Platz zwei der Regionen mit den meisten PPAs. Das zeigen aktuelle Zahlen des Beratungsunternehmens Arthur D. Little, die dem Handelsblatt vorliegen.
Noch ist das Gesamtvolumen recht übersichtlich. Aber schon 2030 könnten PPAs bis zu acht Prozent des gesamten deutschen Stromverbrauchs ausmachen, so die Experten. Das liegt vor allem an der extrem hohen Nachfrage aus der Industrie.
So will der Ludwigshafener Chemiekonzern BASF seinen CO2-Ausstoß bis zum Jahr 2030 um 25 Prozent im Vergleich zu 2018 reduzieren. Bis 2050 will das Unternehmen komplett klimaneutral sein. Dafür braucht es vor allem eins: eine Menge Grünstrom. Denn es geht einerseits darum, Strom, der bislang mittels Kohle-, Öl- oder Gaskraftwerken hergestellt wird, durch Strom aus erneuerbaren Quellen zu ersetzen.
Andererseits müssen Prozesse, die heute noch mit fossilen Energieträgern betrieben werden, auf strombasierte Verfahren umgestellt werden. Das wird für einen insgesamt steigenden Stromverbrauch sorgen.
Mehr: „Eigene Solarindustrie stärkt energiepolitische Souveränität“