Immer mehr junge Menschen versauern in Hilfsjobs

Berlin Yasemin Räpple ist eine zweifache Ausnahmeerscheinung. Zum einen beginnt die 17-Jährige im September eine Lehre als Bäckerin. Sie wird Fachkraft in einer Branche, die seit Jahren um Nachwuchs kämpft. „Ich habe schon als Kind gern mitgebacken“, erzählt die Schwäbin mit Realschulabschluss.

Zugleich ist Yasemin auch in der zehnten Klasse der Gemeinschaftsschule Schlossbergschule in Vaihingen an der Enz bei Stuttgart eine Ausnahme: Von insgesamt rund 25 Schulabgängern fallen ihr gerade mal drei andere ein, die in diesem Herbst eine Ausbildung beginnen – „alle anderen gehen weiter zur Schule“.

Das ist nicht nur in der schwäbischen Provinz so. Aktuell läuft der Endspurt für das neue Ausbildungsjahr, das im September beginnt. Doch immer mehr Lehrstellen bleiben unbesetzt; Ende Juni waren es noch 259.000 Plätze.

Die Kluft zwischen Angebot und Nachfrage „macht mittlerweile 120.000 Plätze aus“, warnte der scheidende Chef der Bundesagentur für Arbeit (BA), Dietmar Scheele, bei seiner letzten Pressekonferenz. Etwa jede fünfte Leerstelle bleibt demnach unbesetzt.

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2021 wurden 473.000 neue Azubi-Verträge geschlossen. 2022 dürften es noch weniger werden. Der Substanzverlust ist dramatisch: 2008 waren es noch gut 600.000 Lehrverträge. Die Flaute am Lehrstellenmarkt wird zeitversetzt den Fachkräftemangel massiv verschärfen.

Auszubildener in einem Dampfturbinenwerk

Die Betriebe in Deutschland schließen immer weniger Azubi-Verträge ab.


(Foto: picture alliance / photothek)

Der Niedergang der dualen Ausbildung hat viele Gründe, die meisten davon lange bekannt:

  • die Verunsicherung vieler Jugendlicher durch Corona,
  • niedrige Geburtenzahlen in den relevanten Jahrgängen,
  • wachsende Probleme, die Wünsche der Jugendlichen und Anforderungen der Betriebe zusammenzubringen,
  • eine historisch niedrige Quote an Betrieben, die überhaupt noch ausbilden,
  • zunehmende Konkurrenz durch Pflege- und Erziehungsberufe, die an Fachschulen gelehrt werden, und durch das Studium. 

Doch das ist nur ein Teil der Wahrheit. Denn die Misere am Ausbildungsmarkt liegt nicht nur daran, dass Deutschland zu wenig Nachwuchs ausbildet oder mehr Jugendliche ein Studium beginnen. Den immer mehr offenen Lehrstellen stehen Hunderttausende unversorgte junge Leute in diversen Warteschleifen gegenüber – und immer mehr junge Hilfsarbeiter. Daran konnte bisher auch der neue Azubi-Mindestlohn von 585 Euro im ersten Lehrjahr nichts ändern.

„Unrealistische Vorstellungen“ über die Berufswelt

Wie kann es sein, dass es reichlich freie Lehrstellen gibt, Fachkräften mit dualer Ausbildung zumeist eine glänzende berufliche Zukunft offensteht und dennoch Hunderttausende junge Menschen mit dem „Grundbildungsjahr“ eine schulische Extraschleife drehen? Oder dass sie in Aushilfsjobs verharren, die langfristig kaum Chancen auf mehr Gehalt oder Verantwortung bieten?

Es beginnt mit der mangelhaften Information in den Schulen: Lediglich jeder dritte Schüler fühlt sich von Schule, Arbeitsagenturen und Eltern bei der Suche nach dem richtigen Beruf gut informiert und unterstützt. „Den Jugendlichen fehlt der Durchblick“, sagt Claudia Burkard zu einer Studie ihrer Bertelsmann-Stiftung, die die Folgen der Coronakrise untersuchte, während der nahezu die gesamte Berufsorientierung in den Schulen ausfiel.

Das Internet konnte dieses Defizit nicht ersetzen, denn laut der Umfrage wünschen sich selbst Digital Natives persönliche Gespräche mit Lehrerinnen, Ausbildern und Berufsberatern statt Informationsportale im Netz. 

Weil sie falsch oder gar nicht informiert seien, hätten viele Schulabgänger „unrealistische Vorstellungen“ über die Berufswelt, erzählt Ronald Rahmig, Vorsitzender der Vereinigung der Leitungen berufsbildender Schulen in Berlin. Das liege auch an „der Schieflage bei den Fächern: Früher gab es ein Fach Werken – heute heißt das Wirtschaft/Arbeit/Technik, und die zwei Wochenstunden fallen auch noch häufig aus. Angewandte Informatik gibt es auch selten“, kritisiert Rahmig, der selbst eine Berufsschule für Kfz-Technik führt.

Schulklasse in Berlin

An Schulen fehlt Kritikern zufolge der praxisnahe Unterricht.

(Foto: dpa)

Stattdessen lernten die Schülerinnen und Schüler vieles, „das ihnen nichts für ihre direkte Zukunft nutzt, bis hin zu Gedichtinterpretationen – und sie haben dann natürlich wenig belastbare Vorstellungen vom Berufsleben“.

Der Rektor an der Schule der künftigen Bäckerin Yasemin, Jürgen Joos, sieht ein gesellschaftliches Problem: „Die Jugendlichen meiden vermehrt Handwerksberufe. Teilweise wollen sie sich nicht mehr schmutzig machen, scheuen sich davor anzupacken, und Einzelne sagen sogar explizit, sie wollen einen Beruf, bei dem sie sitzen können.“

Und sie „glauben fälschlicherweise, man könne in gewerblichen, handwerklichen Berufen kein Geld verdienen“. Da könne nur weit mehr Aufklärung durch die Wirtschaft selbst und eine höhere Anerkennung des Handwerks in der Gesellschaft helfen, meint der Rektor.  

„Ein Problem sind oft auch Eltern, die unbedingt wollen, dass die Kinder ‚mehr‘ erreichen, als sie selbst, möglichst studieren – und verkennen die Riesenchancen, die eine duale Ausbildung bietet“, sagt Andreas Moser, Leiter der Oscar-Walcker-Berufsschule in Ludwigsburg. Daher redeten sie ihren Kindern oft aus, eine Lehre zu machen – „auch wenn die gern Zimmermann oder Elektrikerin werden würden“. Die Berufsorientierung müsste also nicht nur bei den Jugendlichen, sondern auch bei den Eltern intensiv um mehr Offenheit werben. 

Nicht mal mehr jeder fünfte Betrieb bildet aus

Die Wirtschaft klagt schon lange über die mangelhafte Berufsorientierung in den Schulen. So fordert etwa das Handwerk eine „bundesweit flächendeckende Berufsorientierung“ als Teil einer „Bildungswende“. Doch zumindest der Deutsche Industrie- und Handelskammertag (DIHK) räumt auch eigene Versäumnisse ein: „Wir wollen und müssen aber noch besser werden“, sagte DIHK-Vize Achim Dercks dem Handelsblatt, „und jungen Menschen noch früher und intensiver praktische Einblicke ins Berufsleben ermöglichen.“ 

Doch heute bildet im Schnitt nicht mal mehr jeder fünfte Betrieb aus – der Anteil derer, die Schülerpraktika anbieten, ist noch deutlich kleiner. Und die Bäckerei-Personalerin Hartmann sagt: „Praktika allein reichen nicht, man muss sich schon ein Netzwerk mit Schulen und Jugendlichen aufbauen, sonst kriegt man keine Lehrlinge.“ 

Bäckerei

Jungen Menschen fehlen oftmals Einblicke in die Berufswelt.


(Foto: imago images/Georg Ulrich Dostmann)

Wünsche und Unsicherheit der Jugendlichen sind das eine – die Anforderungen der Betriebe das andere: Die Kluft zwischen Angebot und Nachfrage, die sogenannten „Passungsprobleme“, werden immer größer, heißt es bei der Bundesagentur. Ausbilder und Azubis regional zusammenzubringen sei noch das kleinste Problem. Gewichtiger seien die Berufswünsche und die unterschiedlichen Erwartungen, berichtete BA-Chef Scheele immer wieder. 

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Die Praktiker aus den Berufsschulen werden konkreter: „Viele Betriebe haben unrealistisch hohe Erwartungen“, berichtet der Berliner Rahmig, „sie hätten gern Abiturienten oder Studienabbrecher und sind oft nicht bereit, sich auf normale Mittelschüler einzulassen.“ Selbst das Handwerk wolle oft nur Azubis mit mindestens mittlerem Schulabschluss. 

Ein Betrieb wie die Bäckerei Katz, wo Yasemine Räpple nach einem Schulbesuch der Personalchefin einen Azubivertrag unterschrieb, kann sich das gar nicht leisten – und ist zudem sozial engagiert. Die Ausbildungsbeauftragte Hartmann erzählt von ihrem jüngsten Fall, dem 19-jährigen Tobias (Name geändert): „Er hat nur ein sehr schlechtes Hauptschulzeugnis, seither nur gejobbt und saß nun etwas verloren vor mir und möchte dennoch eine Lehre machen.“

Hartmann stellte Bedingungen: Nachdem Tobias innerhalb von drei Tagen einen mit der Hand geschriebenen Aufsatz über den Aufbau eine Bäckerlehre abgeliefert hatte, durfte er zum zweiwöchigen Praktikum antreten. „Er kam immer pünktlich und hat seine Aufgaben eifrig erledigt – jetzt bekommt er auch die Chance zur Ausbildung“, erzählt Hartmann. „Ob das gut geht, wissen wir nicht, aber wenn, dann haben wir wieder einen wertvollen Mitarbeiter gewonnen.“

„Nicht auf den idealen Kandidaten warten“

Insgesamt hätten 2021 lediglich zwei Drittel aller Interessenten auch tatsächlich eine Ausbildung begonnen, rechnet der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) vor. „Das Potenzial wird nach wie vor nur unzureichend genutzt“, sagt DGB-Vizin Elke Hannack.

Wer über unbesetzte Lehrstellen klage, dürfe eben nicht auf den idealen Kandidaten warten, sondern müsse „sich mehr Mühe geben herauszufinden, was Bewerber sonst noch können, auch wenn sie keine Topzeugnisse haben“, rät Rahmig. „Wer nicht richtig schreiben kann, kann trotzdem ein guter Maurer werden – zumal sie an der Berufsschule während der Lehre viel nachholen können.“

Auch sein württembergischer Kollege Moser appelliert an die Betriebe: „Wenn es Interessenten gibt, schaut sie euch wenigstens an, lasst sie Probe arbeiten, nehmt euch Zeit für sie – auch wenn sie Rechtschreibfehler in der Bewerbung haben oder Angaben fehlen.“

Doch weil zu wenig Betriebe diese Geduld aufbringen und viele Jugendliche den Sprung in die Praxis scheuen, gibt es trotz massivem Fachkräftemangel einen noch immer riesigen „Übergangsbereich“ an den Berufsschulen: Hier wurden 2021 insgesamt rund 230.000 junge Menschen aufgenommen, um ein „Grundbildungsjahr“ zu absolvieren oder einen Schulabschluss nachzuholen. Wie viel das System bringt, ist umstritten: Messbar bessere Chancen nach dem Besuch fanden Forscher nur für vorherige Schulabbrecher.

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Besonders bedenklich: Die Zahl der Teilnehmer dieses gigantischen, von manchen „Warteschleife“ genannten Systems ist in den letzten Jahren nur wenig gesunken – obwohl gleichzeitig immer mehr Ausbildungsplätze leer blieben. 

Arbeitgebern gelten diese Schülerinnen und Schüler als mehrheitlich „nicht ausbildungsreif“ – der Begriff ist allerdings seit Jahren umstritten. Schulleiter Rahmig hält dagegen: „Von den Schülern und Schülerinnen im Übergangsbereich sind weit mehr als die Hälfte in der Lage, eine Ausbildung zu beginnen.“ Das zeigten auch die Vermittlungserfolge aus der Warteschleife: „Wir hier in Berlin können etwa ein Drittel der Schüler im Übergangssystem während des Jahres vermitteln – und zwar in kaufmännische, gewerbliche und soziale Berufe“.

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Das sei möglich „weil wir die Betriebe kennen und direkt auf sie zugehen können“. Für diejenigen, die erst in den Monaten nach Beginn des Ausbildungsjahres eine Lehrstelle finden, haben die Berufsschulen eigens sogenannte „‚Februarklassen“ organisiert: Dort beginnt das Lehrjahr statt im Herbst erst im Februar, damit die Jugendlichen nicht ein ganzes Jahr verlieren.  

Der „falsche“ Nachname sorgt für schlechte Chancen

Über einen weiteren Grund, warum das vorhandene Potenzial nicht genutzt wird, spricht kaum jemand offen: Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund haben messbar schlechtere Chancen, eine Lehrstelle zu finden, heißt es auch im jüngsten Berufsbildungsbericht wieder. Natürlich hapere es oft an der Sprache, schlechtere Chancen hätten sie aber selbst bei gleichen Schulnoten.

Erst für Zuwandererkinder der dritten Generation sind die Chancen dann fast die gleichen wie für ihre Altersgenossen ohne Migrationshintergrund, ergab eine Studie des Bundesinstituts für Berufsbildung in Bonn. Der Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration hatte schon 2014 in einer Studie nachgewiesen, dass Jugendliche mit türkischem Namen bei der Bewerbung um einen Ausbildungsplatz gegenüber denjenigen mit deutschem Namen diskriminiert werden.

Fortbildungswerkstatt

Noch immer erfahren Menschen mit Migrationshintergrund bei der Ausbildungssuche Diskriminierung.

(Foto: dpa)

Hinter vorgehaltener Hand räumen Wirtschaftsvertreter ein, dass es auch in ihren Reihen Ausbildungsbetriebe mit Vorbehalten oder gar Fremdenfeindlichkeit gibt. Betroffen ist eine große Gruppe: Von den heute 15-Jährigen haben rund 40 Prozent einen Migrationshintergrund.  

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Noch schwerer haben es Flüchtlinge, einen Ausbildungsplatz zu finden. Die OECD lobte zwar unlängst explizit die Integration der jungen Geflüchteten in den deutschen Arbeitsmarkt, drängte aber zugleich auf mehr Sprachkurse für diese Gruppe. Denn eine erste Langzeitstudie für die Bundesregierung hatte ergeben: Von den Kindern, die zwischen 2014 und 2016 nach Deutschland kamen, haben die meisten weiterhin große Sprachprobleme – auch weil nur knapp ein Drittel von ihnen bisher spezielle Sprachförderung bekam.

Auch die Bäckerei-Personalerin Hartmann trifft dieser Tage noch einen jungen Mann aus Gambia, der schon ein Jahr bei einem anderen Bäcker arbeitet – dort aber die versprochene Lehrstelle nicht bekam. Hartmann: „Seine Flüchtlingshelferin hat ihn mir ans Herz gelegt. Wenn er einen guten Eindruck macht, nehmen wir ihn.“ 

Es könnten also viel mehr Azubis an den Start gehen. Stattdessen wächst das Heer der jungen Hilfsarbeiter. Die Zahl der 20- bis 34-Jährigen ohne Berufsabschluss kletterte 2021 auf einen neuen Höchststand von 2,33 Millionen. Dazu gehört bis jetzt auch Tobias, der im September seine Lehre bei Katz beginnt.  

Um nicht weiter Jahr für Jahr Talente zu verlieren, hat die Ampelregierung in ihrem Koalitionsvertrag auch eine „Ausbildungsgarantie“ versprochen. Noch ist allerdings völlig unklar, wie das Versprechen eingelöst werden soll: Der DGB träumt von einer Ausbildungsumlage, die Arbeitgeber halten das Ansinnen für überflüssig. „Die genaue Ausgestaltung der angekündigten Ausbildungsgarantie, inklusive Zeitplänen, bleibt zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch abzuwarten“, teilt das Bundesarbeitsministerium dazu lapidar mit. 

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