Gendern oder nicht gendern, das ist die Frage …

Frankfurt Wie viel „innen“ muten wir uns zu? Der Streit übers Gendern in der Sprache ist alt und endlos, hitzig – und manchmal auch lächerlich. Die einen weisen darauf hin, dass unsere Sprache mit ihrer Struktur die immer noch patriarchalische Verfassung unserer Gesellschaft widerspiegelt – und damit auch festigt.

Die anderen finden, dass beständiges „innen“, gesprochen mit dem für Nicht-Deutsche oft schwierigen Glottisschlag, die Sprache nicht eben schöner macht, bisweilen sogar verunstaltet. Und dass die traditionelle Sprech- und Schriftweise in sich klar und verständlich ist.

Im Grunde haben beide Seiten recht. Aber das hilft nicht weiter, irgendwie muss man sich entscheiden. Wobei auch die Frage zu entscheiden ist, wie weit jede und jeder selbst entscheiden darf, ob sie oder er gendert oder nicht.

Vorweg ein Punkt, der schnell übersehen wird: Das Problem gibt es nicht nur im Plural, sondern auch im Singular. Wenn meine Freundin tagelang über Kopfschmerzen klagt, sage ich vielleicht zu ihr: „Geh’ doch mal zum Arzt!“ Das heißt nicht, dass ich sie unbedingt zu einem Mann schicken will.

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Weil „Arzt*in“ noch nicht erfunden wurde und weil das „zum“ auch schon das grammatische Geschlecht festlegt, bliebe also nur: „Geh’ doch mal zu einem Arzt oder einer Ärztin!“ Das Beispiel zeigt: Sollte die Schlacht ums Gendern im Plural einmal geschlagen sein, gibt es noch eine weitere Front im Singular.

Einer Grundsatzdebatte der Sprachphilosophie

Immer wieder werden Studien zitiert, nach denen sich Menschen bei „Arzt“ oder „Ärzte“ Männer vorstellen, sodass die Frauen quasi ausgeblendet werden. Dieses Experiment kann jeder nachvollziehen. Was sehe ich vor mir, wenn ich mir etwas bei „Arzt“ vorstellen soll? Wahrscheinlich einen Mann. Ebenso bei „Ärzte“ eine Menge Männer. Aber wenn ich meiner Freundin sage: „Geh’ doch zum Arzt!“, denkt sie wahrscheinlich an ihre Hausärztin, wenn es eine Ärztin ist und kein Arzt.

Wenn ich lese, dass Krankenhausärzte unterbezahlt werden, stelle ich mir nicht eine Menge Männer vor, sondern denke zum Beispiel an eine andere gute Freundin, die im Krankenhaus arbeitet und tatsächlich schlecht bezahlt wird. Und wer hat zur Merkel-Zeit, wenn auf Politiker geschimpft wurde, nicht auch an Angela Merkel gedacht?

Begriffs des Gendern im Duden

Gendern bedeutet, Sprache so zu gestalten, dass alle Geschlechter eingeschlossen werden.


(Foto: imago images/MiS)

Was genau also sagen diese relativ abstrakten Gedanken aus?

Sprache ist ein kompliziertes Gebilde, entsprechend viele Irrtümer sind im Umlauf. Häufig heißt es, im traditionellen Sprachgebrauch seien Frauen im Plural nur „mit gemeint“ und „nicht gesagt“. Also „die Ärzte“ sind zunächst einmal alle männlichen Ärzte – und quasi nebenbei dann auch noch die Kolleginnen. Aber ist das wirklich so? Hat ein großer Teil der Menschheit tatsächlich seit Jahrtausenden beständig etwas anderes gesagt als gemeint?

Die Frage hängt davon ab, welcher Sprachphilosophie man (frau) – oft eher unbewusst als bewusst – anhängt. Die Versuchung ist groß, einzelnen Worten oder grammatischen Formen eine ganz bestimmte, unverrückbare, sozusagen mit Pattex befestigte Bedeutung anzukleben.

Die „Sonne“ ist eben immer die Sonne und der „Mond“ immer der Mond. So simpel das klingt, so falsch ist es fast immer. In der Philosophie ist diese simple Auffassung spätestens seit Ludwig Wittgenstein tot, und der ist selber schon 1951 gestorben.

>> Lesen Sie hier: Einkommen: So unterschiedlich stehen Männer und Frauen am Ende des Berufslebens da

Wittgenstein vertrat eine zugleich banale und revolutionäre Auffassung, die auch in der ansonsten vor allem angelsächsisch geprägten Analytischen Philosophie eine Rolle spielt: Die Bedeutung von Worten und Begriffen ist immer vom sprachlichen Zusammenhang oder, noch einfacher, vom Sprachgebrauch abhängig.

Das Wort „Spiel“ zum Beispiel meint im Zusammenhang mit einer Kupplung im Auto, einem Klavier oder einem Schachbrett jeweils etwas völlig anderes. Was stelle ich mir vor, wenn jemand einfach nur „Spiel“ sagt? Das spielt eigentlich keine Rolle.

Unsere Sprache hat eine patriarchalische Struktur

Im Alltag begegnet uns das Phänomen ständig, ohne dass wir es registrieren. „Mr. X soll seine Rechnungen bezahlen“ ist ein korrekter Satz. Ebenso korrekt ist: „Mr. X soll seine Rechnungen nicht bezahlt haben, behaupten seine Handwerker.“ In beiden Sätzen heißt das „soll“ etwas völlig anderes. Dasselbe gilt für grammatische Formen.

„Heute sind Bundestagswahlen“ ist formal ein Präsens und inhaltlich auch. „Im kommenden Jahr sind Bundestagswahlen“ ist formal immer noch ein Präsens, aber in Wahrheit ein Futur: Im Deutschen ist es korrekt, in klar bezeichneten Zusammenhängen die Präsensform als Futur zu benutzen.

Merken wir was? Nach dieser Auffassung, die außer von Wittgenstein durch unsere eigene Sprachpraxis gestützt wird, sind mit „Ärzten“ ganz einfach Ärzte und Ärztinnen nicht nur gemeint, sondern auch ausgesprochen: Das ist der Sprachgebrauch, und der gibt den Ausschlag. Es sei denn, der Zusammenhang legt etwas anderes nahe, zum Beispiel in dem Satz „Ärzte verdienen im Schnitt immer noch mehr als Ärztinnen.“ Wie gesagt, Sprache ist kompliziert.

Das tiefere Problem ist, dass unsere Sprache in der Tat eine patriarchalische Struktur hat, die allerdings durchs Gendern nicht verändert, sondern allenfalls überdeckt wird. Eine wirklich neutrale Sprache ist das Englische, wo „teacher“, „student“ oder „politician“ ganz zwanglos Lehrer*innen, Student*innen und Politiker*innen anspricht.

Ärztin

Immer wieder werden Studien zitiert, nach denen sich Menschen bei „Arzt“ oder „Ärzte“ Männer vorstellen, sodass Frauen ausgeblendet werden.


(Foto: imago images/emil umdorf)

Es gibt auch Ausnahmen: Eine „actress“ ist kein Schauspieler. Im Deutschen gibt es diese Neutralität nicht, sondern die Stammform ist im Singular in der Regel zugleich die männliche Form (außer bei „geh’ zum Arzt“). Im Plural, wenn Männlein und Weiblein unterschieden werden, ist der Stamm auch die männliche Form.

Das „innen“ verändert das nicht. Sondern hier wird lediglich das Weibliche aus dem Männlichen abgeleitet, so wie Eva aus einer Rippe von Adam geschaffen wurde. Die Frage ist im Grunde, wie sehr wir diese Rippe betonen wollen.

Eine neutrale Sprache müsste „Arzt“ und „Ärzte“ neutral gebrauchen und „Ärztin“ und „Ärztinnen“ abschaffen. Viel Spaß bei dem Versuch.

Nebenbei gesagt: Am Anfang der Bibel gibt es neben „Adams Rippe“ noch eine gendermäßig korrektere Version (Genesis 1,27): „Gott schuf also den Menschen als sein Abbild; als Abbild Gottes schuf er ihn. Als Mann und Frau schuf er sie.“

Mensch oder Menschinnen?

Damit kommen wir gleich zur nächsten Verwirrung: Ist es eigentlich korrekt, dass es „der Mensch“ heißt? Schließlich ist das eine maskuline Form. Sind Frauen also keine Menschen?

Müsste es „Menschinnen“ heißen? Wenn es so wäre, könnten Männer auch keine Personen oder gar wissenschaftliche Koryphäen sein, sondern müssten etwa parallel zu „Ente“ und „Enterich“ dann vielleicht „Personerich“ genannt werden.

In dem Punkt kann beim Gendern viel schiefgehen: wenn Gender und Wortgeschlecht verwechselt wird. Ja, auch eine Frau kann ein Flüchtling sein. Und Kinder sind keine Sachen.

Ein Bauzaun an einer Baustelle

Der Gender-Doppelpunkt ist die neueste Form der gendersensiblen Schreibweisen.


(Foto: imago images/Martin Müller)

Dieser Verwechselung von Wortgeschlecht und menschlichem Geschlecht verdanken wir das Neo-Wort „Vorständin“, das sich inzwischen sogar in ansonsten ungegendertem Text findet. Bis vor wenigen Jahren konnte eine Frau selbstverständlich Vorstand einer Firma sein, auch wenn „Vorstand“ ein maskulines Wortgeschlecht hat.

Es ist verständlich, dass gerade in diesem Bereich, wo bisher nur wenige Frauen zu finden sind, das Bedürfnis nach einer weiblichen Wort-Variante entsteht; weniger nachvollziehbar ist das bei „Gästin“. Aber würde man dieser Logik folgen, wären Frauen eben auch keine Menschen und Männer könnten keine Personalausweise bekommen, weil sie keine Personen wären

Sprache ist durch den Sprachgebrauch definiert

Auf der anderen Seite: Sprache ist letztlich durch den Sprachgebrauch definiert und nicht unbedingt logisch – als warum nicht die „Vorständin“ behalten? Zu hoffen ist aber, dass uns die „Menschin“ erspart bleibt.

Ein weiterer, sehr offensichtlicher Punkt: Gendern macht die Sprache sperrig. Dreimal „innen“ in einem Satz wird schon holprig. Und was ist mit zusammengesetzten Begriffen? Ist es korrekt, von „Bürgermeisterkandidat*innen“ zu sprechen? No way! Traditionell gesprochen heißt es im Plural „Bürgermeisterkandidaten“, korrekt gegendert wäre „Bürger*innenmeister*innenkandidat*innen“. Oder sind Frauen etwa keine Bürger?

Jetzt gibt es Leute, die sagen, lasst uns gendern, aber lasst es uns nicht übertreiben. Okay, aber dann springt man beständig, bei „Bürgermeister*innen“ sogar im Wort, zwischen zwei Sprechweisen hin und her. Wer gegenderte Texte genau liest, wird ohnehin feststellen, dass es selten gelingt, die Sache durchzuhalten. Spätestens auf dem Bauernhof wird’s kompliziert: „Bauer*innenhof“?

>> Lesen Sie hier: Start-up-Chefinnen: „Ein CEO muss Schwächen zeigen“

Ein beliebter Ausweg, der bei Bauern und Bäuerinnen allerdings nicht hilft, ist das Gerundium. „Studierende“ statt „Studenten“ hat sich schon fast eingebürgert. „Radfahrende“ klingt vielen Ohren noch etwas seltsam, und „Zu-Fuß-Gehende“ kommt zumindest geschrieben etwas opulent daher, jedenfalls gemessen daran, dass nie jemand daran gezweifelt hat, dass Frauen auch zu Fuß gehen. Gegner des Genderns wenden ein, das Gerundium habe eine feste Bedeutung, Studenten und Studentinnen würden ja nicht Tag und Nacht nur studieren, wie es die Form „Studierende“ nahelege.

Nun, hier steht Wittgenstein auf der anderen Seite: Wenn das Gerundium sich einbürgert und eben heute auch anders gebraucht wird, dann ist das aus dem Zusammenhang klar und daher okay. Eines ist aber auch nicht zu übersehen: Das Gerundium wird ja vor allem benutzt, weil zu viel „innen“ selbst den Anhängenden … oder doch eher Anhänger*innen … des Genderns auf die Nerven geht.

Es hat einen großen Vorteil: Es funktioniert auch innerhalb des traditionellen Sprachschemas. Man kann problemlos „Studierende“, „Lehrende“ neben „Bauern“ oder „Ingenieuren“ verwenden, weil das Gerundium in sich zwar neutral ist, aber nicht grundsätzlich die Übereinstimmung von Wortstamm und männlicher Form infrage stellt.

Das Einzige, was uns retten kann, ist Toleranz

Die Welt ist also kompliziert. Was tun? Nun, im Zweifel hilft etwas Toleranz, was übrigens für viele „woke“-Themen gilt. Jede*r kann sich zunächst aussuchen, wie er oder sie es gern hätte. Manche gendern auch schon im Alltag, wobei sich das in der Regel vor allem auf das Gerundium bezieht. Das System „Chamäleon“ wird sich wahrscheinlich über weite Strecken durchsetzen: Je nach Umgebung tut man es oder lässt es bleiben.

In weiten Bereichen findet sich schon jetzt eine Art Halb-Gendern: Man benutzt mal ein Gerundium oder zählt ab und zu weibliche und männliche Formen auf, um anzuzeigen: „Ich hab’s kapiert, ich bin kein altmodischer Genderfeind.“

Die Frage ist nur, ob so ein Mischmasch nicht eigentlich der größte Unsinn ist; aber vielleicht spricht gerade das dafür, dass er sich durchsetzt. Auf der anderen Seite: Sprache ist ohnehin nicht immer logisch, vielleicht einigen wir uns daher irgendwann auf eine praktikable Mischung; letztlich entscheidet, frei nach Wittgenstein, der Sprachgebrauch.

Sprache ist wichtig, sie sollte aber auch nicht von handfesten Problemen ablenken

Bleibt die Frage: Warum ist das Gendern überhaupt so wichtig? Wieso regen sich beide Seiten auf – vor einigen Jahren noch über das phallusmäßige „I“ mitten im Wort, heute am meisten über kleine Sternchen? Findet hier die letzte Abwehrschlacht des Patriarchats gegen den Feminismus statt? Oder geht es bei der Auseinandersetzung darum, ob sich unter dem Deckmäntelchen des Fortschritts in Wahrheit nur eine billige moralische Überlegenheitsattitüde verbirgt?

Es gibt sehr emanzipierte Frauen, die Gendern für Blödsinn halten, und wahrscheinlich auch gendernde Männer, die trotzdem allenfalls mal den Müll rausbringen. Eine Überlegung daher: Sprache ist wichtig, sollte aber auch nicht von den handfesteren Problemen ablenken.

Bei der Sprache geht es immer auch um die Frage, wer wir sind. Wir sprechen uns selbst etwas zu, anderen auch, aber wir sprechen anderen auch gerne etwas ab, zum Beispiel noch klar bei Verstand oder umgekehrt noch auf der Höhe der Zeit zu sein. Vielleicht hilft manchmal ein bisschen Humor, wenn es nicht stört, dass der rein vom Wortgeschlecht her maskulin ist.

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