Europa verspielt eine historische Chance

Brüssel, Berlin In den ersten Wochen des russischen Überfalls auf die Ukraine löste die Europäische Union ihr wohl wichtigstes Versprechen ein: eine Gemeinschaft zu sein – willens und fähig, einem Aggressor entgegenzutreten. Doch nun, nach fünf Sanktionspaketen und drei Monaten Krieg, schwindet die Geschlossenheit. Konflikte brechen auf und drohen den EU-Gipfel zu überschatten, der am Montag und Dienstag in Brüssel stattfindet.

EU-Ratspräsident Charles Michel hat das außerordentliche Treffen einberufen, um über den Ukrainekrieg und seine Folgen zu beraten: die Finanznöte der Regierung in Kiew, die Energiekrise, die Sorge vor einer globalen Hungersnot und die Notwendigkeit, den europäischen Verteidigungssektor zu stärken. „Unsere Einigkeit ist immer unsere größte Stärke gewesen“, schreibt Michel in seinem Einladungsschreiben. Die Einigkeit bröckelt jedoch.

Beispiel Energie: Das von EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen vor drei Wochen vorgeschlagene Ölembargo gegen Russland ist immer noch nicht beschlossen. Auch um die Finanzierung der Hilfen für die Ukraine und die Beitrittsperspektive des Landes gibt es Streit. Die EU sei fest entschlossen, der Ukraine auf dem Weg in „eine friedliche, demokratische und prosperierende Zukunft“ zu helfen, heißt es in einem Entwurf der Gipfelerklärung zwar. 

Aber das Risiko ist groß, dass die Europäer statt Entschlossenheit Entscheidungsschwäche zeigen. „Die EU läuft Gefahr, eine historische Chance zu verspielen“, warnt die grüne Europapolitikern Viola von Cramon.

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Das Elend der EU brachte Valdis Dombrovskis, der Vizepräsident der Kommission, vor ein paar Tagen auf den Punkt: „Auf der einen Seite diskutieren wir über gewaltige Finanzhilfen für die Ukraine, auf der anderen Seite stützen wir weiterhin finanziell Russlands Krieg.“ Es fließt sogar immer mehr Geld aus der EU nach Moskau. Der Kreml rechnet aufgrund der gestiegenen Gas- und Ölpreise in diesem Jahr mit Mehreinnahmen von umgerechnet 13,7 Milliarden Euro, sagte der russische Finanzminister Anton Siluanow.

Ein Boykott gegen russisches Gas ist politisch nicht durchsetzbar – aufgrund der immer noch starken Abhängigkeit der Industrie, gerade der deutschen. Bleibt das Ölembargo, doch seit Wochen gibt es Streit. Wie auch bei viele anderen Themen, die die kriegsgebeutelte Ukraine betreffen wie den Wiederaufbau des Landes oder den EU-Beitritt, den sich das Land so sehr wünscht. „Der russische Angriffskrieg in der Ukraine bedeutet eine beispiellose Bewährungsprobe für die Europäische Union“, sagt SPD Europapolitiker Achim Post. „Europa muss gerade jetzt Handlungsfähigkeit und Zusammenhalt unter Beweis stellen.“

Der Kampf ums Ölembargo

Zu Beginn des Gipfels wird der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski zugeschaltet sein. Er dürfte die Europäer eindringlich bitten, das vor Wochen angekündigte Ölembargo zu beschließen. Doch eine Einigung gilt als unwahrscheinlich. Ungarn stellt sich quer. Ministerpräsident Viktor Orban fordert eine längere Übergangsfrist für sein Land und mehr EU-Geld, um die Energie-Infrastruktur umzubauen. Die EU-Botschafter konnten am Sonntag erneut keinen Kompromiss erzielen, die Beratungen sollen am Montagmorgen weitergehen.

„Nach dem Kohle-Importstopp ist es jetzt richtig und zu verantworten, ein Ölembargo in Angriff zu nehmen“, sagt SPD-Politiker Post. „Auf dem Europäischen Gipfel stehen die Mitgliedstaaten in der Verantwortung, hierfür einen tragfähigen Kompromiss zu finden.“
Doch auf der Suche nach einem Kompromiss wird das Embargo immer löchriger. Die EU-Kommission hat am Sonntag einen neuen Sanktionsentwurf vorgelegt. Sie schlägt nun vor, russisches Öl, das durch Pipelines kommt, komplett vom Boykott auszunehmen.

Dann könnten Länder wie Ungarn, die Slowakei und Slowenien weiter russisches Öl importieren. Zwei Drittel des russischen Öls kommen über den Seeweg nach Europa, nur ein Drittel durch Pipelines, sagte ein EU-Beamter am Sonntagabend. Selbst dieser Vorschlag war am Sonntag jedoch noch nicht konsensfähig. Ungarns Vorbehalte sind laut dem EU-Beamten noch nicht ausgeräumt, und andere Länder fürchten durch ein Teilembargo Wettbewerbsverzerrungen. 

Ungarns Ministerpräsident Viktor Orban

Orban bremst beim möglichen Boykott russischen Erdöls.

(Foto: dpa)

Ein solcher Kompromiss wäre kein Beweis europäischer Geschlossenheit. Im Gegenteil: Er würde unterstreichen, wie stark die Risse in der Einheitsfront gegen Russland geworden sind. Auch hat ein unvollständiger Ölboykott mit langen Übergangsfristen offensichtliche Nachteile: Er gäbe Russland Zeit, neue Abnehmer zu finden und von gestiegenen Preisen zu profitieren.

US-Finanzministerin Janet Yellen hatte deshalb vorgeschlagen, statt eines Boykotts lieber Importzölle auf russisches Öl einzuführen. Auch die Brüsseler Denkfabrik Bruegel hält Zölle für den besseren Weg. Die EU könnte mit einem Importzoll von 80 Prozent 14 bis 70 Millionen Dollar pro Tag erzielen, rechnen die Experten vor. Die Einnahmen könnten genutzt werden, um Verbraucher zu entlasten oder die Ukraine zu unterstützen.

„Ein Ölembargo ist kontraproduktiv, wenn es erst in mehreren Monaten kommt. Das führt nur dazu, dass die Preise steigen und bei Putin die Kasse klingelt“, sagt Bruegel-Direktor Guntram Wolff. Importzölle hätten zwei Vorteile: Zum einen würden sich die Weltmarktpreise stabilisieren und möglicherweise sogar fallen, wenn Öl und Gas weiter fließen. Zum anderen würde der Preisaufschlag zu einem erheblichen Teil von Russland getragen und damit Putins Einnahmen schmälern. 

Der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski per Video-Schalte beim Weltwirtschaftsforum

Selenski drängt auf ein schnelles EU-Ölembargo gegen Russland

(Foto: dpa)

Ein Zoll könne auch einen Ausweg aus der festgefahrenen Diskussion über den Ölboykott bieten, meint Wolff. So weitermachen wie bisher sollten die Europäer jedenfalls besser nicht. „Über ein Embargo reden und nichts machen ist die schlimmste aller Welten“, mahnt Wolff.

In Brüssel wächst die Sorge, dass Russland auf die Sanktionsdebatten mit einem einseitigen Stopp der Gasversorgung reagieren könnte. „Die Vorbereitung auf mögliche größere Versorgungsunterbrechungen und die Widerstandsfähigkeit des EU-Gasmarktes sollten verbessert werden, insbesondere durch die rasche Vereinbarung bilateraler Solidaritätsabkommen und eines koordinierten europäischen Notfallplans“, fordert die Gipfelerklärung, die dem Handelsblatt vorliegt. Die Befüllung der Gasspeicher wollen die EU-Staaten beschleunigen.

Ein neuer Marshallplan 

Ungeklärt ist auch, wer für die Kriegsschäden in der Ukraine aufkommen soll. Dass sich Russland auf Reparationszahlungen einlässt, glaubt kaum jemand. Die Möglichkeiten, russische Vermögen einzuziehen, die im Ausland eingefroren wurden, sind ebenfalls begrenzt. 

Die betroffenen Oligarchen werden sich juristisch wehren, und ob es die USA und die EU wirklich wagen, die gesperrten Devisenkonten der russischen Notenbank zu enteignen, ist fraglich: Die Sorge, damit einen gefährlichen Präzedenzfall zu schaffen, ist groß. Am Ende werden neben den USA vor allem die Europäer den Wiederaufbau des Landes schultern müssen.

Wie schwer die Last wird, lässt sich bisher kaum sagen. Einige Schätzungen taxieren die Kriegsschäden auf 1000 Milliarden Euro. Auf dem Weltwirtschaftsforums in Davos wurde daher eine Neuauflage des Marshallplans gefordert, mit dem Europa nach dem Zweiten Weltkrieg wiederaufgebaut wurde.

Frankreichs Präsident Emmanuel Macron

Macron hält einen EU-Beitritt der Ukraine erst in vielen Jahren für möglich.

(Foto: Reuters)

„Der Wiederaufbau der Ukraine wird das größte Wiederaufbauprojekt Europas seit Ende des Zweiten Weltkrieges werden“, sagt SPD-Politiker Post. „Deshalb sollten wir offen über die denkbaren Finanzierungsoptionen weiter sprechen – einschließlich von Makrofinanzhilfen, finanziert auch über gemeinsame europäische Anleihen.“

Die EU-Kommission hat unter anderem die Ausgabe neuer gemeinsamer Anleihen ins Gespräch gebracht – analog zur Finanzierung des Corona-Wiederaufbaufonds Next Generation EU. Das aber will Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) nicht mittragen. Wahrscheinlich ist daher, dass die Finanzhilfen überwiegend in Form von Krediten gewährt werden. „Borrow to lend“ statt „borrow to spend“, so lautet das Schlagwort dafür.

Solange in der Ukraine noch geschossen wird, ist die Debatte über den Wiederaufbau aus Sicht der Bundesregierung ohnehin verfrüht. Das Wichtigste sei es zunächst, mit Liquiditätszuschüssen einen Staatsbankrott abzuwenden, heißt es in Berlin – und damit sicherzustellen, dass die Ukraine weiter Pensionen und Soldatengehälter zahlen kann.

Die Kandidatenfrage

Ein weiteres Thema, bei dem die Meinungsverschiedenheiten unter den Staats- und Regierungschefs deutlich zutage treten, ist der Beitrittswunsch der Ukraine. Er zwingt die Mitgliedstaaten, sich mit dem ungeliebten Thema der EU-Erweiterung zu beschäftigen. Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und das Europaparlament drängen darauf, die Ukraine beim nächsten EU-Gipfel Mitte Juni offiziell zum Beitrittskandidaten zu ernennen.

„Das Europäische Parlament hat mehrfach bekräftigt, die Ukraine auf dem Weg der europäischen Integration zu unterstützen“, betont David McAllister (CDU), Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses des EU-Parlaments. „Sollte der Beitrittskandidatenstatus gewährt werden, wäre das ein wichtiges politisches Signal in Richtung Kiew.“

Die baltischen und nordischen Länder sind dafür, der Ukraine den Kandidatenstatus rasch zu gewähren. Dennoch bremsen Frankreich und Deutschland. Auch in Teilen der Kommission gibt es Vorbehalte, ob man sich einen heißen Konflikt in die EU holen sollte. 

Der französische Präsident Emmanuel Macron sandte kürzlich eine ganz andere Botschaft: Es werde Jahrzehnte dauern, bis die Ukraine der EU beitreten könne, sagte er. Und auch dann solle die Ukraine kein volles Mitglied werden, sondern als Teil einer „politischen Gemeinschaft“ nur einen assoziierten Status erhalten. Dies stieß auf Empörung in den osteuropäischen Ländern und der Ukraine selbst. „In Osteuropa wird dies als französische Taktik gesehen, um die Erweiterung zu verhindern“, sagt Charles Grant vom Centre for European Reform.

Das Europäische Parlament in Straßburg

Das EU-Parlament fordert, dass die Ukraine offiziell zum Beitrittskandidaten ernannt wird.

(Foto: dpa)

Ein Europa der mehreren Geschwindigkeiten ist keine neue Idee. Bruegel-Direktor Wolff hält sie grundsätzlich für attraktiv. In der derzeitigen Lage der Ukraine, mitten im Krieg, sei Macrons Signal jedoch politisch falsch. „Jetzt muss die Botschaft sein: Wir holen euch rein, wir bieten euch eine Zukunft“, sagt Wolff. „Wenn selbst die Türkei den Kandidatenstatus hat, sollte die Ukraine ihn auch haben.“ Es sei ohnehin klar, dass ein Beitritt Jahre dauern würde. Das betont auch der Außenausschussvorsitzende McAllister: „Der Status eines Beitrittskandidaten ist der Beginn eines anspruchsvollen Verfahrens.“ Am Ende müssten alle politischen, rechtlichen und wirtschaftlichen Bedingungen erfüllt werden.

Doch wegen des Widerstands aus Paris und Berlin ist es durchaus denkbar, dass der Ukraine im Juni der volle Kandidatenstatus vorenthalten wird. Stattdessen könnte es nur eine weitere Absichtserklärung geben. Ein Versprechen werde der Ukraine nicht ausreichen, warnt Wolff. „Da muss es schon etwas Konkretes geben.“ Da Deutschland international als Bremser wahrgenommen werde, wäre es gerade für Berlin geboten, mehr Unterstützung zu zeigen.

Ost gegen West

Während Deutschland zögert, gehen andere voran. Ausgerechnet Polen, das in den vergangenen Jahren heftige Auseinandersetzungen mit der EU hatte, übernimmt nun, in der schwersten Krise seit dem Zweiten Weltkrieg, eine Führungsrolle in Europa. Das Land heißt ukrainische Flüchtlinge willkommen, überlässt seinem angegriffenen Nachbarn schweres Kriegsgerät, darunter Kampfpanzer, und zeigt sich sogar beim Streit um den Abbau des Rechtsstaats kompromissbereit.

Im Gegenzug kann Warschau nun hoffen, Geld aus dem Corona-Wiederaufbaufonds zu erhalten. Am Donnerstag will Kommissionschefin von der Leyen nach Warschau reisen – ein Zeichen dafür, dass eine Einigung bevorsteht. 

Die EU müsse die Anstrengungen der polnischen Regierung anerkennen, mahnt Grünen-Politikerin von Cramon: „Auch wenn es immer noch Zweifel daran gibt, ob Warschau alle Forderungen zur Rechtsstaatlichkeit erfüllt, ist jetzt nicht der richtige Zeitpunkt für Belehrungen.“ Der Krieg erfordere ein neues Denken, doch gerade die Bundesregierung tue sich damit schwer: „Deutschland verliert in Europa an Einfluss, Polen zeigt Führungsbereitschaft“, sagt von Cramon. „Ich fürchte, dass in Berlin nicht verstanden wird, was da gerade auf dem Spiel steht.“ 

Mehr: Die Ukraine sollte den Beitrittskandidatenstatus erhalten

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