EU will IT-Wildwuchs beenden – Mitgliedstaaten warnen vor neuer Bürokratie

Brüssel Die EU-Kommission appelliert an die Mitgliedstaaten, die vorgeschlagene Zollreform zu unterstützen. „Wir hoffen, dass wir sie sehr schnell umsetzen können“, sagte der zuständige Generaldirektor Matthias Peschke dem Handelsblatt. Der private Sektor mache Druck, und die Kommission brauche genug Vorlaufzeit, um die neue EU-Zollbehörde mitsamt der komplexen IT-Infrastruktur aufzusetzen.

Geplant ist die größte Reform seit der Gründung der europäischen Zollunion im Jahr 1968. Derzeit müssen sich Importeure in vielen EU-Staaten noch mit schriftlichen Zollerklärungen herumschlagen. Aufgrund der unterschiedlich schnellen Digitalisierung ist ein Wildwuchs entstanden: Die 27 Mitgliedsländer haben 111 verschiedene IT-Systeme für den Zoll. „Wir haben einen Binnenmarkt, aber ein zersplittertes Zollsystem“, klagt Peschke.

Künftig soll der Einfuhrprozess einfacher und vor allem digital ablaufen. Eine einheitliche Eingabemaske soll sicherstellen, dass Importeure ihre Güter nur einmal für die gesamte EU deklarieren müssen. Eine neue EU-Zollbehörde soll die Daten analysieren und gemeinsame Kriterien für das Risikomanagement entwickeln, damit die Zöllner in Lissabon die gleichen Maßstäbe anlegen wie die in Rotterdam.

Lindner warnt vor neuer Zollbürokratie

So weit der Plan. Doch zeichnet sich schon ab, dass die Mitgliedstaaten die Reform bremsen werden. Der Zoll ist eine nationale Kompetenz, und mehrere Regierungen wollen ihre Daten nicht mit der EU teilen. Bei einer ersten Diskussion der 27 Finanzminister vor der Sommerpause wurden Zweifel an den Kommissionsplänen laut.

Der deutsche Finanzminister Christian Lindner (FDP) sagte, eine neue Zollbehörde dürfe keinesfalls zu mehr Bürokratie führen. Es gebe noch viel zu besprechen. Sein österreichischer Kollege Magnus Brunner erklärte, er sei „sehr zurückhaltend bis dagegen“, dass eine neue EU-Agentur eingerichtet werde.

Christian Lindner

Der Bundesfinanzminister äußerte angesichts der Zollreform der EU Bedenken.

(Foto: Reuters)

Ein Diplomat eines dritten EU-Landes erklärte, es sei wichtig, dass die Mitgliedstaaten die Kontrolle über die Daten und die Risikoanalyse behielten. Das sei eine Frage der nationalen Sicherheit. So sähen es die meisten Regierungen.

Gemischtes Echo in der Wirtschaft

In der Wirtschaft fallen die Reaktionen gemischt aus. Während etliche Unternehmen eine einfache Digitallösung herbeisehnen, gibt es auch Kritik. Leider zeige der Kommissionsvorschlag nur „wenig Fortschritt“ in den Bereichen Bürokratieabbau und Digitalisierung, sagte Volker Treier, Außenwirtschaftschef der Deutschen Industrie- und Handelskammer (DIHK).

Die geplante EU-Datenbank sei wichtig. Allerdings solle Brüssel vorher die bestehenden Zollanwendungen, wie das EU-Trader-Portal, nutzerfreundlich gestalten. Auch führt der Versuch einer großen Reform aus Treiers Sicht dazu, dass weitere Erleichterungen für die 18.000 als zuverlässig eingestuften Unternehmen (Authorized Economic Operators, AEO) nun länger auf sich warten lassen. Diese Unternehmen profitieren bereits jetzt von schnelleren Verfahren und weniger Auflagen.

Der Kommissionsbeamte Peschke berichtet nach seinen Gesprächen mit Unternehmensvertretern allerdings von viel Zuspruch – insbesondere von Firmen, die in mehreren EU-Staaten tätig sind. „Unternehmen sehen den Vorteil einer einheitlichen Eingabemaske, bei der sie ihre Güter nur einmal für die gesamte EU erklären müssen“, sagt er. „Deshalb unterstützen sie die Reform.“

70 Prozent der E-Commerce-Importe verstoßen gegen EU-Standards  

Die entscheidende Neuerung ist aus Kommissionssicht die gemeinsame Risikoanalyse. Bisher verlasse man sich auf das nationale Risikomanagement. Die Mitgliedstaaten hätten aber sehr unterschiedliche Prioritäten, sagt Peschke. Ein Land konzentriere sich auf die Suche nach Drogen, prüfe aber keine Verstöße gegen geistige Eigentumsrechte.

Kokainfund

Jedes EU-Mitgliedsland hat bei Zollkontrollen unterschiedliche Prioritäten.

(Foto: dpa)

Das Nachbarland mache es genau andersherum. „Wenn also ein Importeur gefälschte Gucci-Handtaschen oder Drogen in den Binnenmarkt einführen will, weiß er, wo er hingehen muss“, erklärt Peschke. „Die Zollunion ist nur so stark wie ihr schwächstes Glied.“

Der Onlinehandel hat das Problem vervielfacht. 70 Prozent der Güter, die über den E-Commerce in den Binnenmarkt gelangen, entsprächen nicht den EU-Standards, sagt Peschke. „Diese Situation ist für europäische Hersteller inakzeptabel.“ Die Kommission will deshalb auch die Freigrenze von 150 Euro Warenwert pro Sendung abschaffen. Für jedes noch so kleine Päckchen müsste dann Zoll entrichtet werden.

Die Abschaffung der Freigrenze ist umstritten, weil dies Mehrkosten für Unternehmen und möglicherweise höhere Preise für Verbraucher bedeutet. Der österreichische Finanzminister Brunner hält das Vorhaben daher für „keine gute Idee“.

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Die Kommission kontert, dass die Behörden so die Einfuhr illegaler Produkte besser bekämpfen könnten und sich obendrein der Preisvorteil der Onlinehändler verringere. „Wir zwingen die E-Commerce-Anbieter, das zu zahlen, was fällig ist“, sagt Peschke. Das helfe dem europäischen Einzelhandel.

Nationale Zollbehörden bleiben einziger Ansprechpartner

Unterstützung erhält die Kommission aus dem Europaparlament. Die Vorsitzende des Binnenmarktausschusses, Anna Cavazzini (Grüne), sagt, die ehrgeizigen EU-Standards müssten auch bei Produkten aus Drittstaaten durchgesetzt werden. Das europäische Zollsystem sei ein „Flickenteppich“. Es fehle ein Überblick, welche Waren in die EU gelangen und welche sie verlassen. Deshalb sei es zu begrüßen, dass die Kommission nun die „systematischen Probleme“ angehen wolle.

Ohne die Mitarbeit der Mitgliedstaaten geht es jedoch nicht, denn die EU-Kommission hat keine eigenen Zöllner. Peschke betont, dass die nationalen Zollbehörden die einzigen Ansprechpartner der Unternehmen bleiben, sämtliche Daten sammeln und die Kontrollen durchführen. Die geplante EU-Agentur soll sich darauf beschränken, hinter den Kulissen die Daten auf Risiken zu analysieren und die Erkenntnisse zu teilen.

Die EU-Beamten sollen künftig auch Empfehlungen aussprechen, was kontrolliert werden sollte. Verbindliche Regeln vorschreiben können sie nicht, weil der Zoll ein nationales Hoheitsrecht ist. Ein Mitgliedstaat müsse den Empfehlungen nicht folgen, aber müsse sein Handeln erklären, sagt Peschke. „So hätten wir zumindest in der EU-Datenbank einen Nachweis, was geprüft wurde und was nicht. Das macht einen Unterschied.“

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Manche Mitgliedstaaten zögerten, alle ihre Daten zu teilen, räumt Peschke ein. Die EU brauche jedoch sämtliche Daten, inklusive die von den unauffälligen Unternehmen, damit das System mögliche Unstimmigkeiten bei Zollerklärungen erkennen könne.

Den Vorwurf, dass die EU-Agentur zusätzliche Bürokratie bringe, weist Peschke zurück. „Das Gegenteil ist der Fall“, sagte er. Es werde nicht mehr Kontrollen geben, sondern aufgrund des besseren Risikomanagements „gezieltere Kontrollen“.

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