Disney sorgt mit Atatürk-Serie für Unmut und Abo-Kündigungen

Istanbul Türkische Nutzer verlassen reihenweise die Streamingplattform Disney+. Grund ist eine Dokumentationsserie über den türkischen Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk, der in der Türkei verehrt wird. Gleichzeitig wird er von Armenien aber für einen Völkermord verantwortlich gemacht.

Das Armenian National Committee of America (Anca) aus den USA forderte Disney+ auf, die Serie nicht zu zeigen, mit der Begründung, dass sie „einen türkischen Diktator und Völkermordverantwortlichen verherrlicht“. In mehreren türkischen und armenischen Nachrichtenberichten hieß es dann kürzlich, Disney habe beschlossen, die Serie nicht ins Angebot aufzunehmen.

Die Rundfunkaufsicht in der Türkei hat sogar eine Untersuchung eingeleitet. Grundlage für die Ermittlungen seien öffentliche Informationen, wonach der Streaminganbieter beschlossen habe, die geplante Serie nicht zu zeigen. Der türkische Botschafter in Washington traf sich mit Disney-Managern und schrieb einen Protestbrief. Ein Sprecher der Regierungspartei AKP, Omer Celik, kritisierte es als Schande, dass der Streaminganbieter dem „Druck der armenischen Lobby nachgegeben“ habe. „Diese Haltung der fraglichen Plattform ist respektlos gegenüber den Werten der Republik Türkei und unserer Nation“, teilte er mit.

Social-Media-Kampagne gegen Disney

Unter dem Hashtag #DisneyIptalEt („Kündige Disney“) ist eine Kampagne entstanden, die Türkinnen und Türken dazu auffordert, ihr Abo bei dem Streamingdienstleister zu kündigen.

Prominente Figuren wie der Sänger Mustafa Sandal stellen sich demonstrativ gegen Disney. Er fordert seine Fans auf, es ihm gleichzutun. „Ich habe das Richtige getan und gekündigt. Jetzt bist du dran! Wenn Atatürk nicht existiert, existieren wir nicht! Geh in ein anderes Land, Disney+!“

Der bekannte türkische Synchronsprecher Ahmet Cihat Sancar, der zuvor auch für Disney-Verfilmungen gearbeitet hatte, kündigte an, bis auf Weiteres keine Aufträge des Konzerns anzunehmen.

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Disney teilte nun mit, dass die Strategie zur Verbreitung von Inhalten überarbeitet werde, um ein breiteres Publikum zu erreichen. Die Atatürk-Serie solle demnach als Sonderversion einer Dokumentation auf dem Fernsehsender Fox in der Türkei ausgestrahlt werden, gefolgt von zwei separaten Filmen, die in Kinos gezeigt werden sollen.

So bekommen die Türkinnen und Türken doch noch Atatürk so zu sehen, wie sie ihn sehen wollen. Abonnenten wird Disney so mit der Produktion allerdings nicht gewinnen.

Vom Nationalgefühl zum Reputationsrisiko

Hintergrund des Streits ist die Massendeportation von Armeniern aus der heutigen Osttürkei durch osmanische Kommandeure, die 1915 begann. Laut armenischer Regierung starben dabei etwa 1,5 Millionen ethnische Armenier bei Massakern oder an Hunger und Erschöpfung in der Wüste. In dem Land sowie mehreren anderen Ländern der Welt werden die Tötungen als Völkermord bezeichnet. Die Türkei hält die Zahl der Gestorbenen für übertrieben und weigert sich, die Todesfälle als Völkermord anzuerkennen.

Atatürk führte nach dem Ersten Weltkrieg den türkischen Unabhängigkeitskampf an. Im Jahr der Massentötungen in der heutigen Osttürkei war er als Kommandeur an der 2000 Kilometer entfernten Westküste eingesetzt. Nach Gründung der Türkischen Republik 1923 wurde er erster Staatspräsident. Im Land ist eine Beleidigung des Gedenkens an ihn eine Straftat.

Türkin mit Porträt von Mustafa Kemal Atatürk

Der Staatsgründer wird bis heute verehrt.

(Foto: AP)

Atatürk ist in der Türkei mehr als ein nationales Symbol, er ist unantastbar. Viele Menschen, ob Nationalisten oder nicht, tragen ein Tattoo mit seinem Konterfei oder seiner Unterschrift. Im Stadtbild sowie in Werbespots und auch in Unternehmenszentralen sind sein Name und sein Gesicht allgegenwärtig.

Der aktuelle Staatschef Recep Tayyip Erdogan hat ein überlebensgroßes Porträt des Staatsgründers in seinem Büro, obwohl ihm manchmal eine Atatürk-Antipathie nachgesagt wird. Spitzenpolitiker aus dem Ausland müssen vor Staatsbesuchen das Atatürk-Mausoleum in der Hauptstadt Ankara besuchen – erst dann werden sie von Erdogan oder seinen Ministern empfangen.

Disney wollte den Kult nutzen

Disney+ wollte genau dieses Nationalgefühl in unternehmerischen Erfolg ummünzen. Der Konzern hatte im Frühjahr angekündigt, dass die Serie mit einem türkischen Schauspieler in der Hauptrolle am 100. Jahrestag der Gründung der Türkischen Republik veröffentlicht werde. Das wäre der 29. Oktober dieses Jahres.

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Die Türkei ist einer der Wachstumsmärkte für Disney+. Der Konzern hatte im vergangenen Jahr einen TV-Sender in dem Land eingestampft und ganz auf die Streamingplattform gesetzt. Dazu produzierte er auch Serien eigens für den türkischen Markt.

Die Türkei ist unter den Streaminganbietern umkämpft. Neben Netflix gibt es schon jetzt viele Alternativen, etwa das türkische BluTv. „Disney investiert in der Türkei, als gäbe es kein Morgen“, hatte Ahmet Ziyalar, Chef der türkischen Produktionsfirma Inter Medya, nach der Markteinführung von Disney+ erklärt. Auch wenn es keine offiziellen Angaben zu den Abozahlen in der Türkei gibt, gehen Beobachter davon aus, dass Disney binnen kurzer Zeit Netflix in der Türkei eingeholt haben könnte. Zumal der Abopreis monatelang nur halb so hoch war wie der von Netflix.

Doch Anfang Juli hatte der Konzern überraschend alle lokal produzierten Serien nicht mehr angezeigt und die Abopreise teils verdoppelt. Die Gründe sind nicht bekannt. In sozialen Medien wird darüber spekuliert, ob es einen Zusammenhang mit der Beschwerde der armenischen Lobbygruppe gibt.

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