Die Zukunft des deutschen Mittelstands

Düsseldorf Friederike Welter setzt große Hoffnungen in die neue Bundesregierung. Die Mittelstandsforscherin begrüßt, dass nun Wirtschaft und Klimaschutz von einem Ministerium aus gemanagt werden. „Dass nun Klima mit Wirtschaft verquickt ist, ist richtig. Denn: Der Mittelstand ist Betroffener und Treiber des Klimawandels zugleich“, sagt die Präsidentin des Instituts für Mittelstandsforschung in Bonn im Interview mit dem Handelsblatt.

Zugleich müsse der Mittelstand in allen Ministerien mitgedacht werden, auch beim Infektionsschutz, mahnt die Ökonomin.

Die Zukunft des deutschen Mittelstands sieht Welter mit gemischten Gefühlen: Einerseits sei die Anpassungsfähigkeit nach wie vor groß. Andererseits fürchtet sie, dass „einige Unternehmen doch das Licht am Ende des Tunnels nicht mehr sehen“. Die Corona-Durststrecke werde länger.

Vor allem Kleinstbetriebe in stark betroffenen Branchen ohne große Kapitalausstattung seien betroffen. Sie sorgt sich zudem um die kleineren Autozulieferer ohne wichtigen Platz in der Lieferkette.

Der Digitalisierung im deutschen Mittelstand gibt sie die Schulnote Drei plus. Zwar sei vielen Mittelständlern in der Pandemie die Bedeutung der Digitalisierung klarer geworden. Doch große, mittlere und kleine Mittelständler hätten nach wie vor Aufholbedarf: „Künstliche Intelligenz nutzen aber bislang nur 40, zwölf und acht Prozent in den jeweiligen Gruppen. Das ist zu wenig.“

Lesen Sie hier das komplette Interview:

Frau Welter, Ihr Institut rechnet seit einigen Monaten nicht mehr mit einem deutlichen Anstieg der Firmenpleiten. Nun geht die Pandemie offenbar von der vierten gleich in die fünfte Welle über. Ändert sich Ihre Prognose dadurch?
Aktuell nicht, da die Bundesregierung ja bereits im Dezember die flankierenden staatlichen Unterstützungsmaßnahmen für Unternehmen, die unter coronabedingten Einschränkungen leiden, bis März verlängert hat.

Welche Schäden könnte denn ein neuer Lockdown verursachen?
Laut österreichischer Wirtschaftskammer kostete der dreiwöchige Lockdown die gesamte Wirtschaft dort 800 Millionen bis eine Milliarde Euro pro Woche. Da kann man sich ausmalen, was es für Deutschland bedeuten würde. Aber letztlich hängt es auch am Verhalten jedes Einzelnen, einen weiteren Lockdown zu verhindern.

Gastronomen dürfen vorerst weiterhin öffnen, aber die Gäste fehlen, Weihnachtsfeiern wurden abgesagt. Wäre da ein Lockdown mit umfassender staatlicher Unterstützung nicht sinnvoller?
Nein. Es gibt für Unternehmen, die unter coronabedingten Einschränkungen leiden, seit Anfang Dezember die Überbrückungshilfe 4 mit Fixkostenerstattung plus Eigenkapitalzuschuss – je nach Schwere der Betroffenheit. Für Soloselbstständige gibt es die Neustarthilfe Plus mit bis zu 1500 Euro monatlichen Zuschüssen. Das ist erst mal ausreichend.

Glauben Sie also, dass der deutsche Mittelstand die aktuelle Krise gut verkraften wird?
Ich habe gemischte Gefühle. Grundsätzlich ist die Anpassungsfähigkeit des Mittelstands großartig, er ist ein Stehaufmännchen. Das Problem, das wir jetzt haben: Man muss zwei Betroffenheiten unterscheiden, einerseits die durch die Pandemie und andererseits die durch die antipandemischen Maßnahmen, wenn zum Beispiel Wirtschaftsbereiche schließen müssen.

Was ist denn schlimmer für die Wirtschaft – diese antipandemischen Maßnahmen oder die Einschränkungen durch die Pandemie selbst?
Die Pandemie selbst und ihre direkten wie indirekten Folgen. Die steigenden Inzidenzwerte und Hospitalisierungsraten haben in den vergangenen Wochen zu einer Verunsicherung der Konsumenten geführt. Sie haben es schon gesagt: Eine Folge war, dass Weihnachtsfeiern abgesagt wurden. Zu den direkten Folgen der Pandemie kommen die ebenfalls pandemiebedingten Verzögerungen in den weltweiten Lieferketten. Die Verzögerungen und Ausfälle treffen aktuell nicht nur, aber besonders die Unternehmen des verarbeitenden Gewerbes.

„Der stationäre Einzelhandel klagt über das schlechteste Weihnachtsgeschäft seit Jahren“

Sie sprechen es an: Zwei Drittel der Unternehmen haben Lieferengpässe, ein Drittel muss sogar Aufträge ablehnen, Einkaufspreise steigen stetig. Ist der globalisierte industrielle Mittelstand hierzulande in Gefahr?
Das ist schwer einzuschätzen. Einerseits sind viele Mittelständler flexibler als andere Unternehmen, die auf eine Massenproduktion ausgerichtet sind. Sie können ihre Beschaffung partiell anpassen. Wer als Zulieferer in einer Wertschöpfungskette steckt, muss jedoch gegebenenfalls auch einen Produktionsstopp ertragen. Das kann gefährlich werden, wenn es keine anderen Kunden gibt.

Und wie sieht es mit den Problemen durch die Coronamaßnahmen aus?
Natürlich hat sich beispielsweise die 2G-Regelung ausgewirkt: Der stationäre Einzelhandel klagt über das schlechteste Weihnachtsgeschäft seit Jahren. Auf der anderen Seite sind die Nachfrageeinbrüche im Gastgewerbe oder bei den Dienstleistungen auch eine Folge der Pandemie selbst, weil es eine Verunsicherung der Konsumenten gibt.

Die Auswirkungen sind also weiter deutlich spürbar. Sie sagten vor einem Jahr, der Mittelstand liege auf einer Resilienzskala von eins bis zehn bei sechs bis acht. Sehen Sie das noch immer so?
Ja, der Mittelstand ist sehr anpassungsfähig. Dabei haben sich während der Pandemie ein hoher Digitalisierungsgrad sowie die Diversifikation- und Innovationsmöglichkeiten des jeweiligen Geschäftsmodells als sehr hilfreich erwiesen. Aber leider ist die Durststrecke noch nicht vorbei. Das gilt vor allem für Kleinstbetriebe ohne große Kapitalausstattung.

Diese Durststrecke hält nun schon eine Weile an. Welche Note geben Sie angesichts dessen der abgewählten Bundesregierung beim Thema Mittelstandspolitik?
Eine Zwei. Zum ersten Mal gab es in der vergangenen Legislaturperiode eine Mittelstandsstrategie, bei der die Wertschätzung für den Mittelstand an erster Stelle stand.

„Der Mittelstand ist systemrelevant – auch bei der Klimawende“

Aber in der Industriestrategie des damaligen Bundeswirtschaftsministers Peter Altmaier kam der Mittelstand doch gar nicht vor.
Sagen wir so: In der Industriestrategie wurde der Mittelstand als klein und hilfsbedürftig angesehen. Danach ist die Mittelstandsstrategie entwickelt worden. Und der Mittelstand wurde als systemrelevant erkannt – auch bei der Klimawende. Das ist wichtig. Er braucht nicht unbedingt Unterstützung, aber Aufmerksamkeit.

Wie kann die neue Bundesregierung dem Mittelstand diese Aufmerksamkeit nun perspektivisch schnell und effektiv geben?
Bürokratie abbauen, Bürokratie abbauen, Bürokratie abbauen. Das steht ja auch im Koalitionsvertrag. Gerade im Zuge der Klimawende wäre es dabei sinnvoll, auch Vertreterinnen und Vertreter der mittelständischen Unternehmen in die Bewertung des jeweiligen bürokratischen Aufwands miteinzubeziehen.

Und wie sollte der langfristige politische Plan für den Mittelstand dann aussehen?
Wichtig ist, dass der Mittelstand nicht nur im Wirtschafts- und Klimaressort mitgedacht wird. Mittelstandspolitik ist Querschnittspolitik, da ist die Pandemie ein gutes Beispiel: Infektionsschutzmaßnahmen, die im Gesundheitsministerium initiiert wurden, betrafen auch die Wirtschaft. Das Bundeswirtschaftsministerium ergänzte diese mit mittelstandsbezogenen Unterstützungsmaßnahmen. Dass nun Klima mit Wirtschaft verquickt ist, ist richtig. Denn: Der Mittelstand ist Betroffener und Treiber des Klimawandels zugleich.

Sie richten Forderungen an die Politik, die gerade einige Fehler der Vergangenheit korrigieren will. Wo haben Sie im vergangenen Jahr denn auch selbst mit Ihren Prognosen falsch gelegen – und warum?
Wir hatten darüber spekuliert, dass die Pandemie mit der Zulassung und Verfügbarkeit von Impfstoffen bewältigbar wird. Das ist anders gekommen. Was mich aber freut, wenn ich das anmerken darf: Wir lagen bei unserer Einschätzung richtig, dass die Zahl der Gründungen nicht so gravierend einbricht wie befürchtet.

„Wir rechnen damit, dass ab Frühjahr, Sommer die Belastung des deutschen Mittelstands abnimmt“

Anders als erhofft ist die Pandemie trotz massenhaft verfügbarer Impfstoffe noch nicht beendet. Wie lange werden die Auswirkungen der Pandemie den deutschen Mittelstand noch belasten?
Wir rechnen damit, dass ab Frühjahr, Sommer die Belastung abnimmt. Voraussetzung dafür ist jedoch, dass sich die Materialversorgung verbessert, die Lieferketten halten und keine neuen bedrohlichen Virusvarianten auftreten.

Wenn es tatsächlich im Sommer wieder besser aussieht: Welche Branchen sehen Sie beim Weg aus der Pandemie vor den größten Schwierigkeiten?
Diejenigen, die vor einem umfassenden Strukturwandel im Zuge der Nachhaltigkeitswende und der Digitalisierung stehen. Nehmen Sie das Beispiel Einzelhandel: Hier müssen Unternehmen ihr Geschäftsmodell anpassen und notwendige Anpassungen sowie Investitionen durchführen, damit sich die Fortführung des Unternehmens auch langfristig lohnt. In diesem Zusammenhang hat es der Buchhandel meines Erachtens richtig gemacht, indem sich viele in der Krise auf digitalen Plattformen zusammengeschlossen haben. Im Transportwesen haben es die kleinen Autozulieferer besonders schwer, wenn sie keine wichtige Position in der Lieferkette haben. Und alle Unternehmen treibt natürlich die Nachhaltigkeitswende um.

Von außen betrachtet wirkt es allerdings noch oft, als hätten viele Mittelständler die Auswirkungen des Klimawandels bisher kaum mitbekommen.
Eine unserer laufenden Studien zeigt: Die Unternehmer sind stark für die Risiken des Klimawandels sensibilisiert. Dabei spielen auch die eigenen Wertvorstellungen wie Verwurzelung in der und Verantwortung für die Region eine Rolle. Unsere Zahlen im verarbeitenden Gewerbe zeigen, dass mehr als die Hälfte aller befragten Unternehmen in den vergangenen drei Jahren bereits umweltrelevante Innovationen entwickelt hat – Familienunternehmen sogar deutlich mehr als managergeführte Unternehmen.

Wie sieht es mit den Transportwegen aus – würden Sie Unternehmen empfehlen, die Produktionen eher wieder nach Europa zu holen? Die Kunden könnten das nicht nur aus Nachhaltigkeitsgründen durchaus honorieren.
Achtung: Näher heißt nicht automatisch nachhaltiger. Wenn man aber auf den CO2-Abdruck abstellt, bald Transportwege CO2-bepreist werden und es einen CO2-Zoll der EU auf Importe gibt, verändern sich die Kosten in Wertschöpfungsketten. Die Lieferketten aus Nicht-EU-Staaten werden dann teurer werden. Dann wird sich auch wieder die Produktion in der EU rechnen. Was mir aber wichtig ist: Ich glaube nicht, dass sich die Globalisierung zurückdrehen lässt, geschweige denn, dass das wünschenswert wäre.

Bei allem Optimismus: Nachhaltigkeit ist für viele Mittelständler noch kein Teil ihres Geschäftsmodells. Haben Sie untersucht, wie sehr der Mittelstand sich bereits an ESG-Nachhaltigkeitskriterien orientiert?
Nein, unsere Forschungen laufen erst an. Aber: Der Mittelstand arbeitet verantwortlich – auch ohne Reglementierung. Von gesetzlichen Berichtspflichten in Bezug auf ESG-Kriterien ist der Großteil des Mittelstands zwar noch ausgenommen. Aber viele Mittelständler machen sich dennoch bereits auf den Weg.

„Die Nachhaltigkeitswende wird auf jeden Fall zu einem hohen Investitionsbedarf führen“

Auch bei der Kreditvergabe werden die ESG-Kriterien künftig eine Rolle spielen. Legen die Banken hier aus Ihrer Sicht den richtigen Hebel an?
Es hängt davon ab, wie Banken die ESG-Kriterien konkret in die Kreditvergabe einbeziehen. Die Nachhaltigkeitswende wird auf jeden Fall zu einem hohen Investitionsbedarf führen. Wenn die ESG-Kriterien dafür sorgen, dass die Kreditvergabe für nachweislich nachhaltige Investitionen erleichtert wird, dann wäre das gut. Es besteht aber auch die Gefahr, dass der Nachweis für kleinere Unternehmen schwieriger wird, wenn die Kriterien unzureichend auf sie zugeschnitten sind. Dann könnten die ESG-Kriterien zu einer zusätzlichen Investitionshürde werden.

Glauben Sie denn, dass auch Unternehmen aufgrund von mangelnder Nachhaltigkeit aus dem Markt ausscheiden werden?
Ja, ich gehe davon aus. Ich bin zwar Optimistin, aber ich glaube, das können nicht alle Unternehmen meistern. Die Nachhaltigkeitswende ist mindestens so epochal wie die Digitalisierung.

Der Kampf gegen den Klimawandel und die Digitalisierung verändern unsere Wirtschaftslandschaft nachhaltig. Sehen Sie schon neue Branchen, die sich dabei entwickeln könnten?
Neue Branchen sehen wir weniger, aber immer mehr neue Geschäftsmodelle, die auf der Digitalisierung beruhen oder bei denen es um einen Beitrag zur Klimawende und zum Umweltschutz geht – auch branchenübergreifend.

Wie weit ist der deutsche Mittelstand denn bei der Digitalisierung bereits? Welche Schulnote würden Sie den Unternehmen geben?
Drei plus. Es hängt aber weiterhin von der Unternehmensgröße und dem Wirtschaftsbereich ab. Durch die Pandemie hat die Digitalisierung einen Bedeutungszuwachs erfahren. Das sagen zwei Drittel der großen Mittelständler, mehr als die Hälfte der mittleren und 36 Prozent der kleinen Mittelständler. Künstliche Intelligenz nutzen aber bislang nur 40, zwölf und acht Prozent in den jeweiligen Gruppen. Das ist zu wenig.

Das liegt aber auch an den Möglichkeiten. Der Digitalausbau hinkt der internationalen Entwicklung weiter hinterher, Deutschland fehlt es sowohl an der Infrastruktur als auch an der digitalen Verwaltung, das schadet der Wirtschaft gerade außerhalb der Großstädte. Wie schnell müssen die neue Bundesregierung, die Bundesländer und Kommunen nachbessern?
So schnell wie möglich. Ich sitze hier im Institut in Bonn, um virtuell an der Universität in Siegen zu unterrichten, weil an meinem Wohnort immer wieder technische Störungen auftreten. Das sagt doch alles.

Frau Welter, vielen Dank für das Interview.

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