Abwärtstrend bei der Lehre ist gestoppt

Auszubildende in einem Elektro-Unternehmen

Aktuell sind mehr als 200.000 Lehrstellen unbesetzt.

(Foto: imago images/Rupert Oberhäuser)

Berlin Zu Beginn des Lehrjahres 2022/23 ist die Lage am Ausbildungsmarkt stabil: „Erfreulicherweise ist der Niedergang der Bewerberzahl nach einigen Jahren zum Stillstand gekommen“, sagte die Chefin der Bundesagentur für Arbeit (BA), Andrea Nahles. Bis Ende Juli hatten sich bei der Bundesagentur für Arbeit 392.000 Bewerber gemeldet. Die Zahl der Ausbildungsplätze stieg leicht auf 514.000. 

Bis jetzt sind allerdings noch 228.000 Lehrstellen unbesetzt. Zugleich gibt es 117.000 unversorgte Bewerber.

Die Erfahrung zeigt, dass bis Jahresende noch viele Bewerber und Ausbilder zusammenfinden. Allerdings treten bei den Überschneidungen zwischen potenziellen Auszubildenden und den Betrieben große Probleme auf: So gibt es in Berlin, im nördlichen Ruhrgebiet und im Süden Hessens zu wenig Plätze, sagte Nahles. 

Außerdem ist bundesweit die Nachfrage nach Ausbildungsplätzen in der Softwareentwicklung, Tischlerei, Kfz-Technik und -Verkauf, im Gartenbau, in Maler- und Lackiererberufen sowie Verwaltungsberufen größer als das Angebot. 

Die BA-Vorsitzende rief die Bewerber auf, sich nicht nur für „die drei Top-Wunschberufe“ zu interessieren. Zudem appellierte sie an die Arbeitgeber, „sich noch mehr für Bewerber zu öffnen, die auf den ersten Blick keine Topkandidaten sind“, und die Hilfen der Bundesagentur, etwa die assistierte Ausbildung, zu nutzen. 

Auszubildende in einem Metall-Betrieb

Inzwischen interessieren sich mehr Schulabgänger mit Abitur für einen Ausbildungsberuf.

(Foto: imago images/Rupert Oberhäuser)

Die Wirtschaft sieht die Lage trotz der neuen Zahlen wenig gelassen: Aus Sicht der Betriebe „spitzt sich die Ausbildungssituation immer stärker zu“, sagte der Hauptgeschäftsführer der Deutschen Industrie- und Handelskammer (DIHK), Martin Wansleben, dem Handelsblatt. 

>>Lesen Sie hier: Ausgerechnet in der IT gibt es viel zu wenig Ausbildungsplätze

Viele Jugendliche glaubten noch immer, „dass der Weg zum beruflichen Glück nur durch ein Studium zu erreichen ist – und scheitern dann leider oft als Studienabbrecher“, kritisierte er.

Mehr als jeder vierte deutsche Studienanfänger verlasse die Hochschule ohne Abschluss, „das sind mehr als 100.000 pro Jahr – viele wären mit einer dualen Ausbildung sicherlich besser beraten“. Daher sei es „ein guter Trend, dass sich mehr junge Menschen für eine Ausbildung entscheiden, obwohl sie auch an die Hochschule gehen könnten“.

Unter den aktuellen Bewerbern sind nach den BA-Zahlen knapp 15.000 Studienabbrecher. Nach einer Studie der Bertelsmann-Stiftung machen zwar immer mehr Schüler Abitur. Davon studiert aber heute fast die Hälfte nicht, sondern macht eine Ausbildung. 

Hauptschüler haben immer schlechtere Chancen auf eine Lehrstelle 

Problematisch ist aus Sicht der Studienautoren dagegen, dass Menschen mit niedriger Schulbildung immer weniger Chancen auf eine Ausbildung hätten. So bliebe trotz vieler unbesetzter Plätze mehr als ein Drittel der Personen mit Hauptschulabschluss ohne Ausbildung. 

Bei Jugendlichen ohne Schulabschluss seien es sogar fast zwei Drittel. „Diese Zahlen sind beunruhigend und Grund genug, um die
Frage zu stellen, wie die Chancen in unserem Ausbildungssystem eigentlich verteilt sind“, warnen die Autoren.

Eine Folge ist, dass die Zahl der jungen Ungelernten mittlerweile den Rekordwert von mehr als 2,6 Millionen erreicht hat. Auch deshalb hat die Bundesregierung jüngst eine „Ausbildungsgarantie“ verabschiedet. Sie gewährt ab 2024 in Regionen mit erheblicher Unterversorgung an Plätzen einen Rechtsanspruch auf Ausbildung.

Ein Mobilitätszuschuss soll jungen Azubis helfen, die bereit sind, weit von zu Hause zu lernen. Die Wirtschaft lehnt das Konzept ab. Sie fürchtet, dass ein staatliches Angebot betriebliche Lehrstellen verdrängt und dort auch nicht für den Bedarf der Betriebe ausbildet, heißt es etwa bei der DIHK. 

>> Lesen Sie hier: Aus diesen Gründen zweifeln Azubis oft an ihrer Ausbildung

Um mehr junge Leute für die Lehre zu gewinnen, drängt DIHK-Chef Wansleben erneut auf eine bessere Berufsorientierung in den Schulen. „Besonders die Gymnasien dürfen nicht einseitig in Richtung Studium orientieren“, forderte er. 

Langfristig kann nur eine bessere Bildungspolitik den Fachkräftenachwuchs sichern, meint der Chef des Instituts der deutschen Wirtschaft, Michael Hüther. Nötig seien vor allem „mehr qualitativ hochwertige Ganztagsangebote, Leseförderung, MINT-Unterricht und die gezielte Förderung von Kindern aus bildungsfernen Haushalten“, sagte er dem Handelsblatt. 

Handwerk meldet steigende Zahl an Lehrverträgen

Positive Nachrichten kommen derweil aus dem Handwerk, das bis Ende Juni fast vier Prozent mehr neue Lehrverträge als im Vorjahr abschließen konnte. Das sei eine „gute Entwicklung“, sagte Handwerkspräsident Jörg Dittrich.

„Empörend“ sei aber, dass das Bundeswirtschaftsministerium 2024 die Mittel für die überbetrieblichen Ausbildungsstätten im Handwerk kürzen wolle. In den rund 600 Einrichtungen erwerben Handwerks-Azubis Fähigkeiten, die sie in ihren oft sehr spezialisierten Betrieben nicht lernen können.

Mehr: Wegen der Personalnot schulen immer mehr Betriebe ihre Hilfsarbeiter 

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