Wolfgang Kubicki & Dagmar Schmidt: Streitgespräch: Impfpflicht

Angesichts steigender Fallzahlen debattiert der Bundestag erstmals über die Impfpflicht – und die Positionen könnten unterschiedlicher nicht sein. „Wir müssen in der Ampel nicht immer einer Meinung sein, das sind wir bei der Impfpflicht ja nicht mal in meiner eigenen Fraktion, sagte Bundestagsvizepräsident Wolfgang Kubicki (FDP) im Handelsblatt-Doppelinterview mit SPD-Fraktionsvizin Dagmar Schmidt.

Sie sammelt mit weiteren Abgeordneten der Ampelfraktionen Unterstützer für einen Antrag für die Impfpflicht ab 18 Jahren. Kubicki hingegen macht gegen die Impfpflicht mobil, ein entsprechender Antrag hat bereits 38 Unterstützer. Außerdem gibt es einen Vorstoß für eine Impfpflicht ab 50. Das Thema spaltet die Regierungsfraktionen.

„Wer eine Impfpflicht ablehnt, nimmt Alternativen in Kauf, die niemand will, sagt Schmidt. Diese seien ein Lockdown – oder die Pandemie laufen zu lassen, mit vielen Toten, Kranken und Langzeitkranken.

„Unser Ziel ist eine endemische Lage im Herbst und Winter, sagt Schmidt. „Die große Mehrheit sieht nicht mehr ein, Einschränkungen zu tragen, weil sich einige nicht impfen lassen. Eine hohe Impfquote sei aber nur mit einer Impfpflicht möglich.

Top-Jobs des Tages

Jetzt die besten Jobs finden und
per E-Mail benachrichtigt werden.

Kubicki hingegen sagt, dass der Eigennutz noch viel stärker in den Vordergrund gestellt werden müsse – und warnt vor den Folgen einer Impfpflicht. Wenn die rund 13 Millionen ungeimpften Erwachsenen nicht mehr zur Arbeit dürften, „dann werden wir sehr schnell den Zusammenbruch unserer Wirtschaft erleben.

Er gehe allerdings davon aus, dass die Regel komme. „Ich glaube aber, dass sich die erhoffte Wirkung nicht einstellen wird, werde dann aber nicht in Triumphgeheul ausbrechen, sagte er. „Dafür ist das Thema zu ernst.

Lesen Sie hier das ganze Streitgespräch:

Die Ampelparteien sind bei der allgemeinen Impfpflicht uneinig. Frau Schmidt, Sie sprechen sich gemeinsam mit weiteren Abgeordneten von SPD, Grünen und FDP dafür aus, Herr Kubicki dagegen. In Kürze: Was ist Ihr wichtigstes Argument für oder gegen eine Impfpflicht?
Schmidt: Unser Ziel ist eine endemische Lage im Herbst und Winter. Die große Mehrheit sieht nicht mehr ein, Einschränkungen zu tragen, weil sich einige nicht impfen lassen. Eine hohe Impfquote ist aber nur mit einer Impfpflicht möglich.

Herr Kubicki, überzeugt Sie das?
Kubicki: Nein. Ich halte diese Argumente nicht für tragfähig. Eine allgemeine Impfpflicht wäre überhaupt nur dann zu rechtfertigen, wenn durch sie eine sterile Immunität zu erreichen ist, wie bei den Pocken oder den Masern. Das ist hier ausgeschlossen. Zudem führt die Impfung nicht zu einem Fremdschutz, sondern nur zu einem Eigenschutz.
Schmidt: Da sagt uns die Wissenschaft anderes. Die Impfung heißt nicht, dass sich niemand jemals wieder anstecken wird, sondern dass es weniger schwere und tödliche Verläufe gibt und das Virus jedenfalls weniger weitergetragen wird. Das ist das Ziel. Unsere Pflicht führt zu einer Grundimmunisierung der Bevölkerung, die mit drei Impfungen gut zu erreichen ist.
Kubicki: Die Wissenschaft sagt auch, dass wir durch eine Infektion eine stabile Grundimmunität erreichen. Durch die hohe Dunkelziffer an Infektionen wissen wir aber nicht einmal, wie viele eine Infektion durchlaufen haben. Auf dieser unzureichenden wissenschaftlichen Erkenntnis eine Impfpflicht durchsetzen zu wollen halte ich für sehr gewagt. Hinzu kommt, dass die Intensivstationen durch Coronapatienten nicht mehr so stark belastet werden.
Schmidt: Wir können uns ja noch einmal in drei Wochen unterhalten und auf die Belegung der Intensivstationen schauen, die dann deutlich höher sein wird. Wir wissen auch, dass eine Infektion etwa mit Omikron zu keinem guten Schutz gegen Varianten führt, sondern nur die Impfung. Die Leute haben es verdient, dass sie nicht noch mal einen solchen Herbst und Winter erleben.
Als eine wichtige Voraussetzung für eine Impfpflicht wird gesehen, dass alle Maßnahmen ausgeschöpft wurden, für die Impfung zu werben. Hat hier die Regierung alles unternommen?

Corona-Impfung

In der Ampelkoalition herrscht Uneinigkeit über eine allgemeine Impfpflicht.

(Foto: dpa)

Schmidt: Die Regierung hat hier schon sehr viel unternommen. Das reicht aber nicht aus. Wir müssen trotz der aktuellen Diskussion um eine Impfpflicht in jedem Fall noch mal einen Anlauf nehmen, alle zu überzeugen und aufzuklären. Die Impfung ist der Weg aus der Pandemie. Im Nachgang der Ministerpräsidentenkonferenz hat der Kanzler eine solche Initiative in Angriff genommen. Das finde ich gut.
Kubicki: Ich glaube nicht, dass alle Maßnahmen ausgeschöpft sind. Auch der Ethikrat ist der Meinung, dass dies der Fall sein muss, bevor eine Impfpflicht kommt. Und die jetzt aufgelegte Kampagne ist suboptimal und erinnert – bösartig formuliert – an die Sanifair-Kampagne auf den Toilettenhäuschen. Hier gibt es ein gewaltiges Aufklärungsdefizit. Ich halte es auch für klug, den Eigennutzen der Impfung viel stärker in den Vordergrund zu stellen, statt ständig Ungeimpfte auszugrenzen. Wir sehen ja, dass etwa die 2G-Regel zu keiner viel besseren Impfquote geführt hat.

Reicht Überzeugung, Frau Schmidt?
Schmidt: Ich glaube nicht, dass sich dieser Wunsch erfüllt. Und dann bleibt als Alternative der Lockdown oder es laufen zu lassen, bis alle die Grundimmunität haben – mit ganz hohen Kosten, etwa Toten, Kranken, Langzeitkranken und einer Überlastung des Gesundheitswesens. Wir haben uns bisher aus guten Gründen dagegen entschieden. Wer eine Impfpflicht ablehnt, nimmt Alternativen in Kauf, die niemand will.
Kubicki: Das liegt daran, dass Sie Alternativen aufbauen, deren Eintreffen so gar nicht feststeht. Andere Länder in Europa entscheiden sich auch für Öffnungen – ohne eine Impfpflicht und die von Ihnen beschriebenen Szenarien.

Eine andere Frage ist die praktische Umsetzung. Was droht ungeimpften Arbeitnehmern, wenn die Impfpflicht kommt – und wie sollen Unternehmen damit umgehen? Wir sehen ja jetzt schon bei der berufsbezogenen Impfpflicht, zu welchen Problemen das führt.
Schmidt: Bei der einrichtungsbezogenen Impfpflicht ist das Problem, dass sie nur bestimmten Einrichtungen gilt. Das wird dort als große Ungerechtigkeit wahrgenommen. Wir wollen schon, dass der Impfnachweis am Arbeitsplatz bei einer Impfpflicht kontrolliert wird.

Coronavirus – Impfung bei Bosch

Wirtschaftsverbände fürchten, dass am Ende die Unternehmen eine Impfpflicht kontrollieren müssten.

(Foto: dpa)

Wer also nicht geimpft ist, darf nicht ins Büro?
Schmidt: Das wäre jedenfalls meine Vorstellung. Wie jemand, der heute sich nicht testen lässt. Aber den genauen Ablauf werden wir noch sorgfältig diskutieren.

Wirtschaftsverbände mahnen eine „praktikable“ Regelung an, sie fürchten, dass am Ende die Unternehmen eine Impfpflicht kontrollieren müssten. Zu Recht?
Schmidt: Die Unternehmen haben auch sehr stark unter der Pandemie gelitten. Deswegen ist die Frage der Pandemie eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, zu der auch Unternehmen ihren Beitrag leisten müssen. Und es ist auch im Interesse der Unternehmen, dass wir aus der Pandemie rauskommen.

Was denken Sie, Herr Kubicki?
Kubicki: Ich höre mit großem Erstaunen zu. Wir haben schätzungsweise 13 Millionen Erwachsene, die sich bislang nicht impfen lassen wollen. Wenn diese Menschen wegen einer Impfpflicht nicht in ihr Büro dürfen, dann werden wir sehr schnell den Zusammenbruch unserer Wirtschaft erleben. Der bürokratische Aufwand bei Unternehmen wird gigantisch sein. Außerdem: Was wird beispielsweise passieren, wenn zehn Prozent der Lkw-Fahrer nicht mehr ihrer Tätigkeit nachgehen? Die Überlegung, dass bei einer Impfpflicht alle zu einer Impfung rennen, ist ziemlich naiv.
Schmidt: Das glaube ich nicht. Es wird – ähnlich wie bei der einrichtungsbezogenen Impfpflicht – einen langen Vorlauf geben, sodass sich alle auf die Impfung einstellen können. Das wird nicht von heute auf morgen durchgesetzt.

Angenommen, es findet sich im Bundestag eine Mehrheit für eine allgemeine Impfpflicht. Wird es dann Verfassungsklagen geben?
Schmidt: Davon gehe ich aus.

Herr Kubicki, würden Sie dann selbst klagen?
Kubicki: Nein, außerdem ginge das bei einer Verfassungsbeschwerde nicht einmal theoretisch. Ich bin ja selbst geimpft, könnte also schwer meine Betroffenheit nachweisen. Aber ich bin sicher, dass es eine Menge Menschen geben wird, die gegen diesen Eingriff in ihre körperliche Unversehrtheit klagen werden. Es gibt bestimmt gute Argumente für eine Impfpflicht, auch wenn ich sie nicht mittrage. Aber wir dürfen die Menschen nicht noch mehr verunsichern. Ich bin gestern fast vom Hocker gefallen, als ich gehört habe, dass wir in Deutschland den Genesenenstatus auf drei Monate verkürzt haben, in der Europäischen Union aber mit Zustimmung der Bundesregierung die Sechs-Monats-Frist gelten soll.
Schmidt: Hinzu kommen Probleme des Föderalismus, die die Menschen mürbe machen. Aber gerade deshalb wollen wir jetzt aus der Pandemie in eine endemische Lage kommen, und ich glaube, dass das mit der Impfpflicht am ehesten erreichbar ist.

Wolfgang Kubicki und Dagmar Schmidt

Müsste denn die berufsbezogene Impfpflicht fallen, wenn die allgemeine Impfpflicht nicht kommt, so wie es Verbände wie die Krankenhausgesellschaft fordern?
Schmidt: Die einrichtungsbezogene Impfpflicht ist ja unabhängig von der allgemeinen Impfpflicht begründet worden, und dazu stehe ich.
Kubicki: Wir werden ja eine allgemeine Impfpflicht auf keinen Fall bis zum 15. März haben, wenn die berufsbezogene Impfpflicht in Kraft tritt. Insofern stellt sich diese Frage nicht. Ich habe großes Verständnis dafür, dass aus einzelnen Alten- und Pflegeheimen oder Arztpraxen und Einrichtungen der Wunsch kommt, auf die Impfpflicht für das Personal zu verzichten, weil die Impfquoten in einigen Regionen Deutschlands niedrig sind. Ich habe der berufsbezogenen Impfpflicht zugestimmt, auch wenn ich damit an meine persönliche Grenze gegangen bin. Aber wir sind als Gesetzgeber verpflichtet, regelmäßig anhand der Datenlage zu überprüfen, ob unsere Entscheidungen noch richtig sind, und sie notfalls zu korrigieren.

Wäre eine Impfpflicht ab 50 Jahren für Sie tragbar und ein möglicher Kompromiss?
Kubicki: Sie wäre zumindest erklärbarer, plausibler und eher verfassungsgemäß, auch wenn sie meiner politischen Vorstellung nicht entspricht. Sie macht deshalb etwas mehr Sinn, weil der überwiegende Teil der Covidfälle, die im Krankenhaus behandelt werden müssen, und die meisten Todesfälle die Altersgruppe ab 50 betreffen. Aber warum soll ich einen 21-Jährigen, der bei einer Infektion sehr wahrscheinlich einen milden Krankheitsverlauf hat, zu einer Impfung zwingen?
Schmidt: Natürlich zielt eine Impfpflicht ab 50 auf die besonders vulnerablen Gruppen. Aber es geht ja nicht um Eigenschutz, sondern um viel mehr. Unter 50-Jährige sind viel mobiler als Ältere und tragen somit auch viel mehr zum Infektionsgeschehen bei. Und warum sollte die 55-Jährige, die Sport treibt und sich gesund ernährt, geimpft werden müssen, ein 45-Jähriger mit Übergewicht und Vorerkrankung, der zur Risikogruppe zählt, aber nicht? Eine altersbezogene Impfpflicht würde nicht zur Befriedung beitragen, sondern noch mehr Unfrieden in der Gesellschaft stiften. Insofern sehe ich das eher skeptisch. Wir dürfen die Frage auch nicht immer nur aus Sicht der Ungeimpften behandeln.

Temporäres Corona-Impfzentrum im ICC Berlin

Müsste die berufsbezogene Impfpflicht fallen, wenn die allgemeine Impfpflicht nicht kommt?


(Foto: imago images/Stefan Zeitz)

Was meinen Sie?
Schmidt: Als Mutter eines Kindes, das zur Risikogruppe gehört, wünsche ich mir, dass in Kitas oder Schulen alle geimpft sind. Ich weiß, dass das keinen hundertprozentigen Schutz vor Ansteckung oder Weitergabe des Virus bietet, aber ich möchte höchstmögliche Sicherheit durch ein Infektionsgeschehen, das so weit gebremst wurde, wie uns das möglich ist.
Kubicki: Den gleichen Respekt verdient aber die Meinung der anderen, die Angst vor Impfungen und möglichen Nebenwirkungen haben.
Schmidt: Wir führen diese Debatte, die keine einfache ist, im großen Respekt auch vor den Positionen des anderen. Wir haben lange eine Impfpflicht ausgeschlossen und sind dann zu dem Punkt gekommen, sie doch in Erwägung zu ziehen. Aber das ist nichts, was man mal so eben hopplahopp macht. Und deswegen ist es gut, dass wir das intensiv diskutieren, dass wir uns austauschen und dass wir auch immer wieder versuchen, die Position des anderen nachzuvollziehen.

Aber bei vielen Bürgern kommt an, dass die Regierung sich vor einer kritischen Entscheidung drückt und die Ampel bei einem Kernthema streitet.
Schmidt: Es geht hier um eine große ethische Frage, wie wir sie auch bei der Pränataldiagnostik oder bei der Sterbehilfe hatten. Das ist keine Frage von Regierung oder Opposition, sondern eine gesamtgesellschaftliche Frage. Und deshalb ist es gut, dass wir das auch breit und ohne Fraktionszwang diskutieren.

Herr Kubicki, werden Sie eine Impfpflicht, sollte sie kommen, mittragen und gegen Kritik verteidigen?
Kubicki: Zunächst will ich darauf hinweisen, dass wir in der Ampel nicht immer einer Meinung sein müssen, das sind wir bei der Impfpflicht ja nicht mal in meiner eigenen Fraktion. Wir haben alle vergessen, dass Kanzlerin Merkel gegen die Ehe für alle war, sie aber am Ende doch vom Parlament beschlossen wurde. Die Durchsetzungskraft der Kanzlerin wurde damals auch nicht infrage gestellt. Wenn die Impfpflicht kommt, wovon ich ausgehe, werden die FDP und ich diese Koalition sicher nicht verlassen. Es ist schließlich eine Gewissensfrage. Ich glaube aber, dass sich die erhoffte Wirkung nicht einstellen wird, werde dann aber nicht in Triumphgeheul ausbrechen. Dafür ist das Thema zu ernst.

Frau Schmidt, wäre eine gescheiterte Impfpflicht eine Niederlage für Kanzler Scholz, der sich ja dafür ausgesprochen hat?
Schmidt: Nein. Es gehört zur Aufgabe eines Kanzlers, Position zu beziehen, und das hat er getan. Und er hat völlig recht, wenn er eine solche Frage nicht zu einer parteipolitischen Angelegenheit macht, sondern zu einer gesellschaftspolitischen. Viele Menschen, die erst ablehnend waren, haben ihre Meinung geändert, weil sie kein Verständnis mehr dafür haben, sich für Ungeimpfte einschränken zu müssen.

Mehr: „Eingriff in die körperliche Unversehrtheit” – Was für und was gegen die Impfpflicht spricht

.
source site-12