Wirtschaftsweise Veronika Grimm im Interview

Berlin Die Ökonomin Veronika Grimm mahnt vor fehlgeleiteten Zielen beim Klimaschutz. Insbesondere die Verankerung von sektor- und jahresspezifischen Zielen, wie sie im Klimaschutzgesetz stehen, seien ein Irrweg. „Wenn wir Jahr für Jahr bestimmte Ziele erreichen müssen und bei einer Zielverfehlung Notfallprogramme beschließen, dann verzetteln wir uns und setzen mit großer Wahrscheinlichkeit unsere Ressourcen sehr ineffektiv ein“, sagte Grimm im Interview mit dem Handelsblatt. Sektor- und Jahresziele lösten teuren Aktionismus aus, keinen wirksamen Klimaschutz.

Das Thema ist auch Teil des Jahresgutachtens, was der „Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung“ am Mittwoch vorstellt und dem Grimm angehört. Darin formulieren die Wirtschaftsweisen, dass die Klimapolitik besser unter den Ländern vernetzt werden müsse. „Wir legen einen Schwerpunkt auf die internationale Klimapolitik, weil globale Klimaschutz-Kooperationen in der deutschen Debatte, etwa im Wahlkampf, zu sehr in den Hintergrund gerückt sind. „Das halten wir für falsch“, sagte Grimm.

Im Jahresgutachten war es zu einem Novum gekommen: Erstmals ergab sich ein Unentschieden bei einer Positionierung, konkret bei den nationalen und europäischen Schuldenregeln. Grimm spricht sich mit Volker Wieland für den Erhalt der Schuldenbremse und gegen umfangreiche Schattenhaushalte oder Rücklagenbildungen aus. Die beiden anderen Weisen Monika Schnitzer und Achim Truger sind dagegen.

Auch so seien die notwendigen Investitionen in den Klimaschutz leistbar, findet Grimm. „Wird das realwirtschaftliche Umfeld auf die Klimaneutralität ausgerichtet – etwa durch eine Stärkung der CO2-Bepreisung und die weitreichende Reduktion der Abgaben und Umlagen beim Strom –, so tätigen die Unternehmen viele Investitionen von selbst“, erklärte Grimm.

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Das europäische Regelwerk müsse auch nicht in seinen Grundzügen reformiert werden: „Die europäische Kommission hat innerhalb der gültigen Fiskalregeln ein hohes Maß an Flexibilität, um die fortgesetzte wirtschaftliche Erholung zu sichern.“

Lesen Sie hier das komplette Interview:

Frau Grimm, die Weltklimakonferenz in Glasgow geht in die Schlussphase. Ist die Konstruktion der Weltklimakonferenzen grundsätzlich ein Erfolgsmodell?
Die Konferenzen sind das zentrale Element im Kampf gegen den globalen Klimawandel. In unserem aktuellen Jahresgutachten beleuchten wir die sehr heterogenen Ausgangslagen von Staaten beim Klimaschutz und richten unser Augenmerk einerseits auf die globale Klimaschutz-Kooperation, andererseits auf die Zusammenarbeit unter ausgewählten Ländern und Regionen.

Fokussiert sich der Sachverständigenrat darauf, weil er das Modell der Klimakonferenzen unter dem Dach der UN für gescheitert hält?
Nein, eindeutig nicht. Wir legen einen Schwerpunkt auf die internationale Klimapolitik, weil globale Klimaschutz-Kooperationen in der deutschen Debatte, etwa im Wahlkampf, zu sehr in den Hintergrund gerückt sind. Das halten wir für falsch. Darum setzen wir hier einen Akzent.

Ist die Zusammenarbeit zwischen wenigen Staaten erfolgversprechender als Weltklimakonferenzen?
Beide Ansätze ergänzen sich. Das Abkommen von Paris aus dem Jahr 2015 zielt darauf ab, die Erderwärmung im Vergleich zum vorindustriellen Zeitalter auf deutlich unter zwei – und möglichst 1,5 – Grad zu begrenzen. Die Länder gehen dafür freiwillige Selbstverpflichtungen ein. Allerdings reichen diese Selbstverpflichtungen bisher nicht aus, um auch nur das zwei-Grad-Ziel zu erreichen, geschweige denn 1,5. Die Selbstverpflichtungen sind also mit dem Klimaziel von Paris bisher nicht kompatibel.

Was ist zu tun?
Einerseits müssen die Selbstverpflichtungen nachgeschärft werden. Die Weltklimakonferenz ist eine gute Gelegenheit, Staaten dazu zu bewegen, höhere Emissionsreduktionen anzustreben. Mit Blick auf die Umsetzung von Reduktionen kann die Einführung von CO2-Preisen, der Abbau von Subventionen für fossile Energieträger, der Technologietransfer und vor allem der Lastenausgleich im Mittelpunkt stehen. Auf der aktuellen COP ist beispielsweise das Bekenntnis zum Kohleausstieg einer ganzen Reihe an Staaten bemerkenswert.

Hat es sich rückblickend gelohnt, dass sich die Europäer und speziell Deutschland zu ambitionierten Klimaschutzzielen bekannt haben und diese auch mit konkreten Maßnahmen unterlegt haben?
Ich halte die Ziele für richtig, aber nicht alle Maßnahmen für geeignet. Viele Maßnahmen haben eher Einkommen von unten nach oben umverteilt, etwa die Förderung von Solaranlagen, Gebäudesanierung oder Elektrofahrzeugen. Soziale Ausgewogenheit muss ernster genommen werden. Das kann etwa gelingen, wenn man die CO2-Bepreisung schärft und die Einnahmen über eine Senkung der Strompreise zurückgibt. So werden auch die Investitions- und Innovationsanreize gestärkt.

In den Koalitionsverhandlungen von SPD, Grünen und FDP wird darüber gestritten, wie konkret das Klimaschutzgesetz ausgestaltet sein soll. Brauchen wir die sektor- und jahresscharfen Reduktionsziele?
Die sektor- und jahresspezifischen Ziele, wie sie im Klimaschutzgesetz stehen, sind ein Irrweg. Wenn wir Jahr für Jahr bestimmte Ziele erreichen müssen und bei einer Zielverfehlung Notfallprogramme beschließen, dann verzetteln wir uns und setzen mit großer Wahrscheinlichkeit unsere Ressourcen sehr ineffektiv ein. Sektor- und Jahresziele lösen teuren Aktionismus aus, keinen wirksamen Klimaschutz.

In den Koalitionsverhandlungen geht es auch um die vor allen Dingen von den Grünen erhobene Forderung, den Kohleausstieg auf 2030 vorzuziehen. Was empfehlen Sie?
Es ist richtig, schon 2030 auszusteigen, aber es wäre falsch, das ordnungsrechtlich umzusetzen. Aufgrund steigender Preise im Emissionshandel wird der Kohleausstieg ganz automatisch erfolgen.

Müssen wir uns Gedanken über die Versorgungssicherheit machen, wenn der Kohleausstieg schneller erfolgt?
Wenn die Kohle schon gegen 2030 vom Netz geht, werden wir einen Zubau von Gaskraftwerken benötigen. Aber wir beobachten in der Diskussion gerade den zweiten Schritt vor dem ersten: statt über verlässliche Rahmenbedingungen am Strommarkt wird nun über Kapazitätsmärkte diskutiert. Der Zeitpunkt ist denkbar ungünstig.

Würde man das Vertrauen in die Rahmenbedingungen an den Märkten stärken, so hätten potenzielle Investoren durchaus Anreize zu investieren. Die Debatte um Kapazitätsmärkte kann aber dazu führen, dass sie ihre Investitionen zurückhalten, weil sie spekulieren, demnächst bessere Konditionen, beziehungsweise Subventionen, zu bekommen. Die Diskussion kommt daher zum falschen Zeitpunkt und schadet nur.

Knappheiten im Energiesektor, aber auch in anderen Bereichen, treiben aktuell die Preise. In Deutschland ist die Inflationsrate auf dem höchsten Stand seit fast 30 Jahren. Wie wird das weiter gehen?
Wir vermuten, dass die Spitze der Inflation fast erreicht ist. Bei den Treibern der Inflation handelt es sich zunächst im Wesentlichen um Basis- und Sondereffekte. Im vergangenen Jahr war die Inflation sehr niedrig. Jetzt treiben zudem Lieferengpässe, die Einführung der CO2-Bepreisung für die Sektoren Verkehr und Wärme sowie die Rücknahme der Mehrwertsteuersenkung die Inflation.

Also gibt es keinerlei Grund zur Sorge?
Es besteht durchaus ein Risiko, dass temporäre Preistreiber zu persistent höheren Inflationsraten führen können. Das hängt vor allem von Inflationserwartungen und deren Auswirkungen auf die Lohnabschlüsse ab. Um die Inflationserwartungen zu stabilisieren sollte die EZB daher zeitnah eine Normalisierungsstrategie kommunizieren, die Referenzpunkte für eine Normalisierung der Geldpolitik festlegt.

Kann die Europäische Zentralbank (EZB) das angesichts der hohen Staatsschulden mancher Euroländer überhaupt?
Die Abhängigkeit der öffentlichen Haushalte vom niedrigen Zinsniveau in einigen Staaten kann zu einem Dilemma für die Geldpolitik werden. Eine zu späte oder inkonsequente geldpolitische Reaktion birgt aber Gefahren, die nicht unterschätzt werden dürfen.

Im Gutachten ist es zu einem Novum gekommen. Sie sprechen sich mit Volker Wieland – im Gegensatz zu den anderen beiden Ratsmitgliedern Monika Schnitzer und Achim Truger – für den Erhalt der Schuldenbremse und gegen umfangreiche Schattenhaushalte oder Rücklagenbildungen aus. Wie sollen so die notwendigen Investitionen in die grüne Transformation der Wirtschaft finanziert werden?
Verschiedene Studien zeigen: es braucht umfangreiche Investitionen auf dem Weg in die Klimaneutralität. Sie spezifizieren meist nicht, welcher Teil davon öffentliche Investitionen sind. Mit gutem Grund, denn dies hängt von den Rahmenbedingungen ab, die der Staat gestaltet: Wird das realwirtschaftliche Umfeld auf die Klimaneutralität ausgerichtet – etwa durch eine Stärkung der CO2-Bepreisung und die weitreichende Reduktion der Abgaben und Umlagen beim Strom – so tätigen die Unternehmen viele Investitionen von selbst.

Es braucht dann keine oder viel weniger Subventionen. Heute machen private Investitionen 89 Prozent der gesamtwirtschaftlichen Bruttoanlageinvestitionen in Deutschland aus. Klar ist also, dass die Transformation vor allem von privaten Investitionen getragen werden muss. Anders kann die Klimawende nicht gelingen. Es wird natürlich auch öffentliche Investitionen brauchen, zum Beispiel für den Ausbau von Infrastruktur.

Allein das wird Milliarden kosten. Wie soll das im Rahmen der Schuldenbremse, ohne größere Spielräume darüber hinaus, funktionieren?
Der Finanzplan der Bundesregierung für die Jahre 2022 bis 2025 sieht Mittel in Höhe von 50 Milliarden Euro jährlich für Investitionen des Bundes vor, eine Steigerung von rund 30 Prozent im Vergleich zum Jahr 2019.

Die notwendigen Ausgaben dürften trotzdem mehr Kosten, als der Spielraum im Haushalt bislang hergibt.
Es kann und sollte außerdem durch eine Ausgabenkritik der Spielraum erhöht werden, etwa durch Streichung von umweltschädlichen Subventionen, die heute auf bis zu 65 Milliarden Euro beziffert werden. Zudem würde mehr Spielraum für Investitionen entstehen, wenn in einer wachsenden Volkswirtschaft die konsumtiven Staatsausgaben weniger stark ansteigen als die Einnahmen des Staates.

Die Idee, ausgelagerte Investitionsgesellschaften zu schaffen, klingt für viele erstmal attraktiv. Aber keinem ist doch so recht klar, was genau damit finanziert werden kann und soll, darüber scheiden sich die Geister. Im Detail würden diese Entscheidungen dann zudem der parlamentarischen Kontrolle entzogen.

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Es wird auch darüber diskutiert, im Jahr 2022 solange die Schuldenbremse noch ausgesetzt ist, eine Rücklage zu bilden. Was halten Sie davon?
Dies soll der Regierung zunächst mehr finanziellen Spielraum schaffen. Allerdings hielte ich das nur in einem viel geringerem Ausmaß für sinnvoll als manch anderer.

Warum?
Die Aussetzung der Schuldenbremse ist mit der Corona-Notlage begründet. Es werden daher rechtliche Bedenken hinsichtlich der Verwendung dieser Mittel für Aufgaben ohne einen unmittelbaren Bezug zur Krisensituation geäußert. Derartige Bedenken sollte man ernst nehmen, da die Gefahr besteht, dass der Haushalt von den Gerichten kassiert wird. In Hessen ist das gerade in einer ähnlichen Situation geschehen.

Wie passt das zu Ihrem Vorschlag, mithilfe einer Rücklage die EEG-Umlage abzuschaffen?
Eine Senkung der Strompreise durch die Abschaffung der EEG-Umlage ist eine der zielführendsten Reaktionen auf die Energiepreis-Krise, die ja ein Resultat der Corona-Pandemie ist. Insofern wäre der Bezug zur Corona-Notlage argumentierbar. Es ist übrigens eine Maßnahme, die wohl ohnehin kommt.

Wenn man die sofortige Abschaffung der Umlage übergangsweise über zusätzliche Verschuldung finanziert, würde sich zunächst entsprechend mehr Spielraum für Investitionen ergeben. Mittelfristig müsste die Refinanzierung der Maßnahme natürlich über den Haushalt erfolgen, aber der Finanzierungsbedarf wird über die Jahre sinken, weil die Verpflichtungen aus dem EEG gegenüber den Anlagenbetreibern abnehmen.

Bei den europäischen Fiskalregeln stellen sie sich auch gegen den Reformeifer. Dabei reißen schon jetzt viele EU-Staaten die 60-Prozent-Grenze der Staatsverschuldung. Bleiben die Regeln wie bisher erhalten, wie sollen diese Länder aus der Coronakrise herauskommen?
Die europäische Kommission hat innerhalb der gültigen Fiskalregeln ein hohes Maß an Flexibilität, um die fortgesetzte wirtschaftliche Erholung zu sichern. Diese Flexibilität hat sie in der Vergangenheit immer wieder genutzt, etwa bei Verletzung der 1/20-Regel bezüglich der Annäherung an die 60-Prozent-Grenze.

Es ist daher nicht zu erwarten, dass die Fiskalregeln die Erholung abwürgen. Die Reformvorschläge, die diskutiert werden, unterscheiden sich insbesondere dahingehend, ob sie die Fiskalregeln generell lockern wollen oder ob sie besser dafür sorgen wollen, dass in konjunkturell guten Zeiten konsolidiert wird, um die Resilienz für zukünftige Krisen zu stärken.

Was halten Sie für angemessen?
Volker Wieland und ich haben uns im Gutachten nicht gegen Reformen ausgesprochen, sondern für letzteres: Man sollte die Komplexität des Regelsystems zu reduzieren, die Transparenz hinsichtlich der Einhaltung und Durchsetzung zu verbessern. Das könnte entlang eines Vorschlags gelingen, den der Sachverständigenrat bereits im Jahr 2017 gemacht hat.

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