Wirecard: Protokoll des Untergangs

Fast zwei Milliarden Euro fehlen, aber die Sekretärin von Wirecard-Vorstandschef Markus Braun setzt eigene Prioritäten. Zwei große Blumenbouquets mit grünen, weißen und rosafarbenen Hortensien müssten bestellt werden. Sechs Sträuße für den großen Esstisch, dreizehn für verschiedene Vasen, dazu „sechs Blumenkombinationen für Notfälle“. Kostenpunkt: 3927 Euro.

„Das wäre das Blumenangebot“, schreibt Brauns Sekretärin an dessen Ehefrau. Gebraucht werden die Bouquets für den Geburtstag von Brauns Tochter. Sie wird zwei Jahre alt.

Es ist Donnerstag, der 18. Juni 2020, 11:14 Uhr. Vor 31 Minuten hat Wirecard eine Schockmeldung veröffentlicht. „Unrichtige Saldenbestätigungen zu Täuschungszwecken“ könnten von einem Treuhänder vorgelegt worden sein. Kredite in Milliardenhöhe seien gefährdet. In wenigen Stunden wird der Aufsichtsrat von Wirecard den langjährigen Vorstand Jan Marsalek als mutmaßlich Verantwortlichen feuern.

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„Die Stimmung ist am Tiefpunkt und jeder weiß, was Sache ist“, schreibt die Sekretärin des Vorstandschefs an Brauns Frau. In ihrer Mail aber hat die Sekretärin nur eine Frage: Geht das so mit den Hortensien?

Der Zusammenbruch der Wirecard AG ist ein einmaliger Vorgang in der deutschen Wirtschaftsgeschichte. Nie zuvor erreichte ein Unternehmen so schnell einen Börsenwert von 25 Milliarden Euro und endete dann mit solch brutalem Tempo als Pennystock. Nie zuvor tauchte ein Dax-Vorstand unter wie ein Terrorist und wurde mit Fahndungsplakaten gesucht.

Jan Marsalek und Vertraute

Marsalek trifft sich mit Geschäftspartnern in den arabischen Emiraten.


(Foto: privat)

Was geschieht in einem Unternehmen, das derart implodiert? Handelsblatt-Redakteure waren auf Spurensuche und konstruierten in monatelanger Arbeit die letzten Stunden vor dem Absturz. Sie sprachen mit Dutzenden von Insidern, erhielten Zugang zur internen Kommunikation der Wirecard-Vorstände und ihrer Mitarbeiter. Abertausende von E-Mails und Telegram-Chats, angehängte Dokumente und Bilder fügten sich zu einem Ganzen: dem Protokoll des Untergangs.

Es ist zugleich ein Psychogramm über das Verhalten von Menschen in Extremsituationen. Auf dem Höhepunkt des Wirecard-Debakels sucht eine Vorständin verzweifelt einen Treuhänder auf den Philippinen, der den Dax-Konzern retten soll. Ein Topmanager bestellt sich Socken. Die Assistentin des Konzernchefs plant einerseits die Geburtstagsfeier seiner Tochter, andererseits verschickt sie Bewerbungen. Einer Kollegin schreibt sie über Braun: „Ich höre schon gar nicht mehr hin.“

Das Protokoll des Untergangs beginnt am 17. Juni 2020, kurz nach Mitternacht deutscher Zeit. Die Entscheider von Wirecard schlafen nicht in dieser Geisterstunde. Ihre Gedanken richten sich auf Fernost, ins rund 10.000 Kilometer von Deutschland entfernte Manila. 1,9 Milliarden Euro liegen dort angeblich auf Konten der Banco de Oro Unibank (BDO) und der Bank of the Philippine Islands (BPI).

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Niemand versteht so recht, warum Wirecard diese gigantische Summe ausgerechnet auf den Philippinen gebucht haben soll. Viel schlimmer wäre es aber, wäre sie dort nicht gebucht.

Die Bestätigung, dass ein Viertel der Wirecard-Bilanzsumme wirklich in Manila liegt, soll von einem Anwalt kommen: Mark Tolentino. Er arbeitete einmal im philippinischen Verkehrsministerium, bevor ihn Präsident Rodrigo Duterte im Mai 2018 wegen mutmaßlicher Unregelmäßigkeiten entließ. Im Juni 2020 ist Tolentino derjenige, der als Treuhänder von Wirecard den Nachweis über die Existenz von 1,9 Milliarden Euro erbringen soll.

Die Zeit drängt. In Deutschland wachsen die Zweifel, ob das Geld wirklich existiert. Anfang Juni durchsuchte die Staatsanwaltschaft erstmals die Büros von Wirecard. Die Wirtschaftsprüfer von EY wollen die Konzernbilanz nicht ohne einen Beweis aus Manila testieren. Mehrfach schon musste die Führung die Vorlage des Jahresabschlusses verschieben. Nun soll es am 18. Juni so weit sein, in 36 Stunden. Wenn Tolentino bis dahin nicht liefert, steht Wirecard vor dem Aus.

Mittwoch, 17. Juni, 00:00 bis 06:00 Uhr

Um 0:17 Uhr schickt Wirecard-Aufsichtsratschef Thomas Eichelmann eine Mail an den Vorstand: „Liebe alle“, heißt es darin. Die Wirtschaftsprüfer von EY seien der Auffassung, dass die angeblichen Wirecard-Konten „nicht existieren“. Die philippinischen Banken BPI und BDO hätten mitgeteilt, dass bislang vorgelegte Bestätigungen „spurious“ seien.

Der Begriff stammt aus dem Lateinischen und klingt vornehmer als „gefälscht“. Er bedeutet aber dasselbe. EY hält 1,9 Milliarden Euro in der Wirecard-Bilanz für erschwindelt.

„In welcher Form das Prüfungsurteil erteilt werde, hat EY offengelassen“, schreibt Eichelmann. Dies hänge davon ab, wie sich der Sachverhalt entwickle. „Würde EY per heute um ein Testat ersucht, würde EY das Testat versagen.“ Der Vorstand müsse nun die erforderliche Kapitalmarktinformation „unmittelbar in die Wege“ leiten.

Gefälschte Bankstatements

Diese Dokumente sollen die angeblichen Treuhandvermögen nachweisen, die philippinischen Banken bestreiten ihre Echtheit.

Es ist eine Horrornachricht. Die Bilanzpressekonferenz am nächsten Tag ist längst vorbereitet. Der Vorstand hat in den vergangenen vier Wochen viel Zuversicht verbreitet, die Wirecard-Aktie legte seit Mitte Mai um 36 Prozent zu. Davor war sie binnen drei Wochen um 45 Prozent gefallen. In dieser nervösen Börsenlage die Bilanz abzusagen muss ein Chaos auslösen.

Während der Vorstand an seiner Antwort feilt, gibt es Neuigkeiten von der anderen Seite der Welt. „Dear Mr Jan“, schreibt Treuhänder Tolentino um 02:28 Uhr an Jan Marsalek, den Asienchef von Wirecard. „Die Antwort der Bank an die Wirtschaftsprüfer überrascht mich.“ Tolentino glaubt, es liege ein Missverständnis vor, und verspricht: „Ich werde es so schnell wie möglich klären.“

Tolentino wird dieses Versprechen niemals einlösen. Dem Handelsblatt liegen Dutzende seiner Mails vor. Der Anwalt hat inzwischen öffentlich bekundet, sie nie geschrieben zu haben. Aber wenn das stimmt – wie kann es dann sein, dass die Mailadresse, die Tolentino auf seiner Website nennt, auch über den Mails steht, um die es hier geht? Nachfragen dazu beantwortet Tolentino nicht. Er reagiert ebenso wenig auf die Vorlage von Originaldokumenten und Detailfragen.

Dem Handelsblatt liegt auch die Reaktion auf die Tolentino-Mails vor. Um 02:44 Uhr antwortet ihm Wirecard-Vorstand Marsalek: „Bitte tun Sie ihr Möglichstes, um den Vorgang sofort bei den Banken zu bestätigen.“ Er stehe dem philippinischen Treuhänder jederzeit zur Verfügung. Marsalek bittet Tolentino, ihm Bescheid zu geben, wenn er „ein paar Minuten Zeit für ein Telefonat“ findet.

In Manila ist es jetzt 09:25 Uhr, in der Wirecard-Zentrale in Aschheim bei München sechs Stunden früher. Mitten in der Nacht also, doch die Führungsriege findet keine Ruhe. Finanzchef Alexander von Knoop schreibt um 03:25 Uhr an den Aufsichtsratsvorsitzenden Eichelmann: Der Vorstand versuche „zur Stunde durch Jan Marsalek die Hintergründe des von EY geäußerten Verdachts“ aufzuklären.

Mark Tolentino

Der philippinische Treuhänder, angeblich Herr über 1,9 Milliarden Euro, chattet stundenlang mit Jan Marsalek.


(Foto: Facebook)

Alle wissen: Die Uhr tickt. Börsennotierte Unternehmen müssen ihre Aktionäre mittels sogenannter Ad-hoc-Meldungen unverzüglich über Ereignisse informieren, die eine erhebliche Auswirkung auf den Aktienkurs haben könnten. Es gibt keinen Zweifel, dass fehlende 1,9 Milliarden Euro eine massive Auswirkung auf den Wirecard-Kurs hätten. Doch das Wirecard-Management zögert. Die Entscheidung über eine „ggf. erforderliche“ Ad-hoc-Mitteilung wird auf den nächsten Morgen vertagt.

Nicht nur die Vorstände sind nachtaktiv. Die jüngste Mail von Finanzvorstand von Knoop hat Ferdinand Fromholzer vorformuliert. Er ist „Partner-in-Charge“ des Münchener Büros von Gibson Dunn. Auf ihrer Website nennt die US-Kanzlei eine von Fromholzers Spezialitäten: White Collar Defenses. So bezeichnen Amerikaner die Verteidigung von Wirtschaftsverbrechern.

Noch vor Sonnenaufgang verfasst Fromholzer vorsorglich auch den Entwurf einer „hypothetischen Ad-hoc-Meldung“. Dies für den Fall, erklärt der Anwalt, dass „sich der Verdacht bestätigen sollte“.

Jan Marsalek versucht zu verhindern, dass die Meldung verschickt werden muss. Um 04:14 Uhr leitet er eine Mail von Tolentino weiter an seine Vorstandskollegen und den Anwalt Fromholzer. Der philippinische Treuhänder habe Kontakt zu den Banken mit dem vielen Wirecard-Geld aufgenommen. In Kürze werde sich das Missverständnis aufklären, schreibt Tolentino.

Marsalek schlägt vor, der Treuhänder solle eine Videokonferenz mit Vertretern der philippinischen Banken und den Wirtschaftsprüfern von EY organisieren: „Bitte lassen Sie mich so schnell wie möglich von den nächsten Schritten wissen.“

Die Minuten verrinnen ohne Nachricht aus Manila. „Leider nähern wir uns dem Ende des Zeitfensters, das uns zur Verfügung steht“, erinnert Marsalek Tolentino um 05:20 Uhr.

Wenige Minuten später tippt Marsaleks Vorstandskollegin Susanne Steidl ihre erste Mail an diesem Morgen. Sie schickt eine Nachricht an sich selbst. Im Anhang: ein Scan der Vollmacht für ihre Strafverteidigerin.

Um 05:57 Uhr meldet sich Tolentino wieder: „Ich bin gerade auf dem Weg zur BPI-Zentrale und telefoniere mit der Bank.“ Er erwarte innerhalb der nächsten Stunde eine formelle Mitteilung und sollte anschließend „für ein gemeinsames Gespräch frei sein.“ Marsalek leitet die Mail an seine Vorstandskollegen weiter. Dazu zwei aufmunternde Worte: „Bleibe dran.“

17. Juni, 06:00 bis 12:00 Uhr

In der folgenden Stunde treffen in Aschheim keine E-Mails mehr von Tolentino ein. Marsalek beschäftigt sich mit etwas anderem: Er bittet die IT-Abteilung von Wirecard, all seine E-Mails auf seinen privaten Computer zu exportieren, inklusive Archiv. Einen IT-Mitarbeiter macht das so stutzig, dass er beim Compliance-Chef nachfragt. Der antwortet: „Wissen wir wofür? Das sollten wir einmal klären, bevor wir es herausgeben.“

Marsalek wird seine Daten nicht bekommen. Bis die Compliance-Abteilung eine Entscheidung fällt, ist der Asienvorstand von Wirecard schon entlassen, bald darauf flüchtig.

Die anderen Wirecard-Vorstände gieren am Morgen des 17. Juni 2020 nach Updates aus Manila. Treuhänder Tolentino hält Wirecard hin. Seine nächste Nachricht, verschickt um 07:16 Uhr deutscher Zeit, enthält lediglich eine weitere Ankündigung, dass sich bald alles klären werde. Finanzvorstand von Knoop textet seiner Frau: „Es ist ein Wahnsinn… Aber wir machen kleine Fortschritte…“

Um 08:57 Uhr fasst von Knoop die Fortschritte in einer Mail an Anwalt Fromholzer zusammen. Man arbeitet daran, dass die philippinischen Banken ihre Einschätzung zu den Treuhandkonten revidieren. Marsalek habe mitgeteilt, dass Tolentino in der Bank BPI auf die Freigabe eines Schreibens durch deren Vorstandschef warte.

Während zwischen anderen Wirecard-Führungskräften nervöse Nachrichten hin und her schnellen, fehlt von Konzernchef Braun fast jede elektronische Spur. 16 E-Mails gibt es in den letzten 48 Stunden vor dem Zusammenbruch von Wirecard im Postausgang des Vorstandsvorsitzenden. 13 davon sind weitergeleitete Nachrichten ohne jeden Kommentar. Braun, so der Anschein, ist entspannt.

16

Mails

verschickte Vorstandschef Braun in den zwei Tagen. 13 davon leitete er nur weiter. (Quelle: eigene Recherche)

Seine Anleger sind es nicht. „Beschämend“ sei das, was bei Wirecard passiere, wirft ihm ein Aktionär um 09:28 Uhr in einer E-Mail vor. 380.000 Euro habe er für Wirecard-Aktien ausgegeben und durch die hohen Kursschwankungen den Großteil davon verloren. „Für Sie mögen dies Peanuts sein“, schreibt der Aktionär. „Für meine 5-köpfige Familie die Existenz.“ Braun antwortet nicht.

Vielleicht sind seine Gedanken bei seiner Tochter. Braun, Jahrgang 1969, wurde spät Vater. Für den zweiten Geburtstag seiner Tochter spannt er seine Sekretärin ein. Acht Kinder und 14 Erwachsene sind eingeladen. Die Party soll in Brauns Villa in Südfrankreich stattfinden. Man überlegt, die Gäste per Privatjet einzufliegen.

Brauns Sekretärin notiert jedes Detail in einer Excel-Tabelle. Zwei Heliumflaschen sind schon bestellt, dazu eine Ballonaufblasmaschine und Feuerwerkskerzen. Zum Mittagessen stehen für die Kinder Sushi und Mini Cheese Beef Burger auf dem Speiseplan, für die Erwachsenen wilder Seebarsch mit Meersalzkruste, Kartoffelpüree und schwarzen Niçoise-Oliven.

Zum Abendessen soll unter anderem Imperial-Kaviar serviert werden. Zu trinken gibt es auch. Die Sekretärin leitet Brauns Frau ein Foto mit mehreren Dutzend Flaschen Sekt und Wein weiter und fragt: „Ich denke, das reicht oder????“

Weinflaschen für die Familienfeier

In der Villa der Familie Braun wird am 17. Juni eine Geburtstagsfeier vorbereitet.

Brauns Sekretärin ist nicht die Einzige, die sich an diesem Schicksalstag im Büro um Privates kümmert. Eine Top-Führungskraft schickt seiner Frau um 09:54 Uhr die Bestellbestätigung von Best Secret, einem Designer-Outlet. Er hat gerade ein Tanktop, Sneakersocken und ein Freizeitkleid gekauft, Gesamtwert 55,95 Euro. Der Manager versieht seine Mail mit einem Lachsmiley.

Susanne Steidl ist nicht zum Lachen zumute. Seit August 2006 arbeitet sie bei Wirecard, im Januar 2018 rückte sie in den Vorstand auf. Sie ist Österreicherin wie Braun und Marsalek, gehörte aber nie zu deren innerem Kreis. Steidl hat weder die Gelassenheit des reglosen Braun, noch lässt sie sich von Marsaleks Mails beruhigen, die Sache auf den Philippinen werde sich alsbald aufklären.

Steidl forscht nach. Um 10:07 Uhr schreibt sie der Wirecard-Geschäftsführerin auf den Philippinen: Ein Mitarbeiter müsse ein wichtiges Dokument für Steidl abholen. Der Mitarbeiter werde einen Anwalt treffen, Mark Tolentino. Steidl: „Ich glaube, er ist ziemlich berühmt auf den Philippinen.“

Steidl will kontrollieren, ob Tolentino wirklich das tut, was er vorgibt zu tun. In 26 Stunden muss Wirecard seine Bilanz vorlegen, das Schicksal des ganzen Konzerns hängt davon ab, was der Treuhänder in Manila zustande bringt.

Steidl informiert Marsalek über ihren Plan. Der Asienvorstand ist der Einzige, der Kontakt zu Tolentino hält. Marsalek antwortet um 10:55 Uhr: „Hahaha, können wir ihm offen sagen, dass wir den nur zu Kontrollzwecken da hinschicken?“

In Aschheim glauben die Vorstände, Tolentino sei zur Stunde bei der Bank of the Philippine Islands, um sich dort vom Vorstand schriftlich bestätigen zu lassen, dass die Wirecard-Konten tatsächlich existieren. Doch um 11:07 Uhr meldet Marsalek, der Treuhänder befinde sich schon auf dem Weg zurück in sein Büro – ohne die Bestätigung. Marsalek: „Dort ist gerade Board Meeting und wir sind Agenda-Punkt. Danach geht die E-Mail raus.“

Steidl ist skeptisch. Warum Tolentino nicht einfach in der Bank warte, bis das versprochene BPI-Schreiben versandt werde, fragt sie ihren Vorstandskollegen. Marsalek entgegnet, Tolentino habe nie gesagt, dass er „die ganze Zeit“ in der Bank bleiben wolle – wobei er, Marsalek, „natürlich auch nichts dagegen hätte, wenn er dort bliebe“.

Steidl greift nun, in ihren eigenen Worten, zum letzten Strohhalm. Es gebe ja „noch etwas Schlachtenscheidendes“, was Wirecard EY liefern könne, schreibt sie um 11:14 Uhr an Marsalek: Die Eröffnungsunterlagen für die Konten, auf denen die Milliarden in Manila liegen. Die müsse Tolentino in seinem Büro haben. Steidl: „Und wenn er dort ist, dann schickt EY sofort deren Leute los und sie sind in 10 min dort.“ Sie erhält keine konkrete Antwort auf diesen Vorschlag.

In Aschheim schwindet die Hoffnung. Die Börsenpflichtmitteilung für den Fall, dass die Milliarden nicht mehr auftauchen, ist schon fertig. Nun will die Compliance-Abteilung die Mitarbeiter darauf vorbereiten, was in diesem Fall wohl folgt. Um 11:21 Uhr erhalten die Assistentinnen der Vorstände „aufgrund der aktuellen Situation“ ein kurzfristiges Schulungsangebot: „Richtiges Verhalten bei Durchsuchungen“.

Im Anhang der Mail finden die Frauen einen Leitfaden mit den wichtigsten Regeln für den Besuch von Staatsanwälten. „Beschränken Sie Gespräche mit den Durchsuchungsbeamten nur auf das für die Durchsuchung unabdingbar Notwendige!“, heißt es darin. Zufallsfunde der Ermittler gelte es, „so gering wie möglich zu halten“.

Die Vorstandsassistentinnen reagieren unterschiedlich auf die Offerte. Weil im Konzern „Großalarm“ herrsche, schreibt eine, plädiere sie dafür, die Schulung um eine Woche zu verschieben. Andere pflichten ihr bei. Nur eine hat es eilig. Mit Blick auf die derzeitige Lage hätte sie das Durchsuchungsseminar „lieber schon gestern als heute gemacht“, schreibt sie. Es ist die Assistentin von Jan Marsalek.

17. Juni, 12:00 bis 18:00 Uhr

Susanne Steidl hat inzwischen den Mann gefunden, der dem Treuhänder Tolentino auf die Finger schauen soll. Er heißt Ferdinand R., arbeitet als IT-Manager in der Wirecard-Niederlassung auf den Philippinen. Steidl dirigiert ihn mit Chatnachrichten von Aschheim aus durch Manila. Mit Ferdinands Motorroller sind es nur wenige Minuten vom Wirecard-Büro zur Kanzlei des Treuhänders. Ferdinand soll Steidl bestätigen, dass er die Kontounterlagen mit eigenen Augen sieht.

Um 12:02 Uhr scheint der Moment gekommen. „Ich bin da und habe Mr. Tolentino bereits getroffen“, schreibt Ferdinand. Es gibt ein Problem mit den Unterlagen: „Tolentino sagt, die liegen im Home Office – er versucht sie bringen zu lassen, kann aber dauern“, schreibt Marsalek. Der Chat läuft jetzt im Dreieck. Steidl schreibt an Marsalek; Marsalek schreibt an Tolentino. In dessen Vorzimmer sitzt Ferdinand und chattet mit Steidl.

Bei der Suche nach dem Wirecard-Geld kommt es zur offenen Konfrontation. Ferdinand soll sich nicht vom Fleck bewegen, bevor ihm Tolentino die Unterlagen gezeigt habe, schreibt Steidl nach Manila. Hinter der Tür schreibt Tolentino an Marsalek, er müsse jetzt los „zum nächsten Meeting“. Er könne doch die Unterlagen später von zu Hause schicken.

Steidl reißt der Geduldsfaden. Sie will Tolentino direkt anrufen. Vorher berät sie sich per Telegram-Chat noch einmal mit Marsalek:

„Das ist der letzte Strohhalm“

Es ist 12:37 Uhr, als Steidl diese Worte in ihr Smartphone tippt. Zwanzig Minuten später schreibt sie der Wirecard-Aufsichtsrätin Vuyiswa V. M’Cwabeni. Sie, Steidl, habe den Glauben daran verloren, dass die philippinischen Banken die Existenz der Treuhandkonten noch bestätigen.

Um 13:19 Uhr schreibt Steidl eine letzte Nachricht an Ferdinand. Er soll nach Hause gehen.

Die folgenden zwei Stunden herrscht eine kaum durch E-Mails oder Chats unterbrochene Ruhe in Aschheim. Niemand scheint zu wissen, was er oder sie noch tun kann. Hilfe mag nur aus Manila kommen, doch auf den Philippinen ist inzwischen der Abend angebrochen.

Um 15:14 Uhr verfasst Finanzchef von Knoop eine Mail an den Vorstandsanwalt Fromholzer. Der CEO Braun und der Aufsichtsratsvorsitzende Eichelmann hätten sich in einem Telefonat geeinigt, schreibt von Knoop. Es herrsche ein „gemeinsames Verständnis, dass auf den Eingang des Statements gewartet werden soll“.

Kurz darauf greift er zu seinem Handy und erstattet seiner Frau Bericht. „Mein liebes, wie geht es Dir und Euch denn? Alles in Ordnung? Hier nicht… “

Um 15:16 Uhr schreibt Fromholzer eine Mail an Andrea Görres, die Chefjuristin von Wirecard. „Liebe Andrea, gern würde ich unsere Leistungen für Mai abrechnen – Rechnungsentwürfe sind wie immer beigefügt.“

Während der Konzern seinem Untergang entgegentaumelt, ist für den Anwalt Zahltag. Aus der Mail gehen unter anderem die Stundensätze der Kanzlei Gibson Dunn hervor. Fromholzer nimmt 680 Euro die Stunde, ein US-Kollege 1245 Euro. Insgesamt rechnet die Kanzlei für den Mai 2020 rund 726.000 Euro bei Wirecard ab.

Ungefähr zur selben Zeit schreibt Wirecard-Vorständin Susanne Steidl weitere Nachrichten an ihre private Mailadresse. Sie enthalten unter anderem den aktuellen Mailverkehr der Vorstände. Betreffzeile: „Unterlagen Strafverteidiger“.

Unter hochrangigen Wirecard-Managern kursiert in diesen Stunden ein Video von John Wolfgang. Der Youtuber hat für den kommenden Tag den Song „Wirecard-Tag“ komponiert und reimt über das Testat. Der Text ist für Mitarbeiter und Aktionäre nur mit Galgenhumor zu genießen. Konzernschatzmeister Thorsten Holten leitet das Stück an einen Kollegen weiter mit den Worten: „Witzig…. WirecardTag :-)“.

In Manila ist es jetzt 21:57 Uhr. Treuhänder Tolentino schreibt an Marsalek. Er warte noch immer auf die Bestätigung der Bank BPI zu den Wirecard-Konten, aber das Meeting dort scheine anzudauern: „Aber machen Sie sich keine Sorgen, sie werden sie schicken.“

Im Grunde hat sich damit nichts geändert. Es ist eine weitere Mail von Tolentino, in der er etwas verspricht, was er seit Stunden nicht hält. Aber Marsalek schreibt an Anwalt Fromholzer, es gebe nun eine „Bestätigung, dass noch heute das BPI-Statement versendet werden soll“.

Auch außerhalb des Konzerns keimt Hoffnung. An der Börse steigt der Kurs der Wirecard-Aktie auf 104 Euro, 15 Prozent mehr als zu Wochenbeginn. Die Nachrichtenagentur Dow Jones zitiert einen Analysten mit den Worten: „Der Markt setzt nun auf einen günstigen Zwischenbericht.“

Dann tagt der Aufsichtsrat. Um 17:25 Uhr wählt sich Markus Braun in die Sitzung ein. Der Vorstandschef teilt mit, dass er noch heute ein Statement der BPI erwarte. Derzeit finde in Manila eine Vorstandssitzung hierzu statt. Von der zweiten philippinischen Bank erwarte er eine schriftliche Bestätigung der Konten bis morgen früh.

Braun liefert seinen Aufsehern auch eine Erklärung dafür, warum es so lange dauert, eine Antwort aus Manila zu erhalten. Treuhandkonten würden möglicherweise einer höheren Geheimhaltungsstufe unterliegen, mutmaßt der Vorstandschef. Die Angelegenheit sei nun aber bei den Banken an höchster Stelle in Bearbeitung. Er sei zuversichtlich, sagt Braun. Dann klinkt er sich aus.

17. Juni, 18:00 bis 24:00 Uhr

Es ist Mittwochabend in Aschheim, als Wunsch und Wirklichkeit vollends auseinanderfallen. Treuhänder Tolentino meldet, die BPI-Bank in Manila habe sich für die Verzögerung entschuldigt, er selbst habe eine „offizielle Beschwerde“ verfasst. Die Wirtschaftsprüfer von EY dagegen versenden um 18:21 Uhr eine Liste mit ihren Bedingungen für ein Testat.

Die Prüfer fordern nicht nur Unterlagen zur Eröffnung der Konten bei BPI und BDO. Die philippinischen Banken sollen auch „glaubhaft schriftlich bestätigen“, dass die Konten existieren, bei ihnen geführt werden „und die uns genannten Kontenstände zutreffend sind“. Außerdem müssten die Banken schlüssig erklären, warum sie zuvor die Existenz der Konten infrage gestellt hätten.

Kurz darauf geht ein Schreiben aus den USA beim Wirecard-Vorstand ein. Der Finanzinvestor Apollo habe das Unternehmen „viele Jahre lang verfolgt“ und sehe „einzigartige Stärken“. Apollo wolle bis zu eine Milliarde Euro in Wirecard investieren.

Es kommt anders. Um 19:09 Uhr teilt Treuhänder Tolentino mit, die philippinischen Banken würden sich heute nicht mehr zurückmelden. Marsalek antwortet: „Lieber Mark, danke für dein nettes Update! Wie du weißt, ist diese Angelegenheit von entscheidender Bedeutung für uns.“

Sie ist entscheidend, weil die Wirtschaftsprüfer von EY kein Testat erteilen, wenn Wirecard nicht endlich Beweise liefert, dass die angeblichen 1,9 Milliarden Euro auf den Philippinen wirklich existieren. Es ist die Nachricht, auf die alle warten. Aber aus Manila kommen immer nur Vertröstungen.

EY wartet auch – und schickt Rechnungen. Prüfer Gregor Fichtelberger, den Marsalek in Chats als „Fichtlwichtl“ tituliert, übermittelt um 19:29 Uhr eine Übersicht der Leistungen für die laufende Prüfung des Konzernabschlusses 2019. Es sind 24.495 Arbeitsstunden, zu vergüten mit 4,5 Millionen Euro.

Rechnung der Wirtschaftsprüfer

Fast 25.000 Arbeitsstunden und kein Ergebnis: So rechnet EY seine Tätigkeiten für den Wirecard-Jahresabschluss 2019 ab.

Es wird Abend in Aschheim. Wirecards Finanzchef Alexander von Knoop ruft Aufsichtsratschef Eichelmann an, danach Vorstandsanwalt Fromholzer. Der Jurist fasst um 21:59 Uhr die Ergebnisse der Gespräche zusammen: Jan Marsalek werde ab 01:00 Uhr „die noch ausstehenden Themen auf den Philippinen weiter vorantreiben“, schreibt Fromholzer. Die übrigen Vorstandsmitglieder würden sich zwischen 05:00 und 06:00 Uhr in der Konzernzentrale treffen, um über die aktuelle Situation zu beraten. Sollte sich ihre Erwartung mit Blick auf das Testat ändern, würden sie „sofort eine entsprechende Ad-hoc-Mitteilung veröffentlichen“.

Der Anwalt rekapituliert: „Sie und der gesamte Vorstand halten es weiterhin für überwiegend wahrscheinlich, dass Wirecard die nachstehend aufgeführten Anforderungen von E&Y morgen früh rechtzeitig vor der Bilanzpressekonferenz um 14 Uhr erfüllen kann.“ Dann verabschiedet sich Fromholzer in die Nacht: „Ich drücke Ihnen beim Endspurt weiter die Daumen!“

Donnerstag, 18. Juni, 00:00 bis 06:00 Uhr

Der Endspurt beginnt mit Verspätung. Nicht um 01:00, sondern um 04:31 Uhr wählt Jan Marsalek die Nummer von Treuhänder Tolentino in Manila. In weniger als zehn Stunden soll die Bilanzpressekonferenz beginnen. Marsalek tippt per Telegram-Messenger: „Konnte Dich am Telefon nicht erreichen. Ruf mich dringend an.“

Tolentino lässt sich Zeit. 45 Minuten nach Marsaleks Nachricht schreibt er zurück: „Quick update. Ich bin gerade an BPI und BDO dran. Hab Nachsicht mit mir, ich melde mich in 30 Minuten bis zu einer Stunde.“ Dann lässt er fast drei Stunden lang nichts von sich hören.

Mails aus Manila

Zwischen Mark Tolentino und Jan Marsalek gehen stundenlang Nachrichten hin und her. Nur Bankbelege liefert der Treuhänder nicht.

18. Juni, 06:00 bis 12:00 Uhr

Um 06:25 Uhr beginnt Wirecard-Finanzvorstand von Knoop seinen Tag mit einer Nachricht an seine Frau: „Bin gut im Büro angekommen und um 07:00 Uhr ist das finale Update.“ Von Knoop informiert Wirecard-Anwalt Fromholzer, dass in dreißig Minuten das Finale beginne.

Dann schreibt der Finanzvorstand seinem Strafverteidiger: Das Telefonat am Vorabend mit dem Aufsichtsratschef sei „fachlich konstruktiv“ und „sehr menschlich“ verlaufen. Eichelmann verstehe sowohl „die Situation der Gesellschaft“ als auch die „immensen Anstrengungen“ zur Erreichung des uneingeschränkten Testats, notiert von Knoop für seinen Anwalt. Der Chefkontrolleur habe aber „natürlich (unausgesprochen) auch Sorge vor einem Scheitern“.

Ein Telefonat des Vorstands um 07:00 Uhr mit Eichelmann bringt nichts Neues. Markus Braun versichert dem obersten Aufseher von Wirecard abermals, dass die Bestätigungen der philippinischen Banken BPI und BDO kommen würden. Es handele sich nur noch um Minuten.

Die Bestätigungen kommen nicht. „Ehrlich, die aktuelle Situation ist äußerst beunruhigend“, schreibt Marsalek um 07:32 Uhr an Tolentino. „Mark, besteht irgendeine Chance auf ein Lebenszeichen von BPI in den nächsten 15 Minuten?“ Tolentino antwortet nach 19 Minuten, die Bestätigung werde bald kommen.

Um 08:05 Uhr spricht Eichelmann erneut mit Braun und von Knoop. Der Aufsichtsratschef und der Finanzchef von Wirecard meinen, die Öffentlichkeit müsse jetzt über die Situation aufgeklärt werden. Es sei unverantwortlich, weiter zu warten. Braun widerspricht.

Die Pflichtmitteilung an die Börse bedarf eines Aufsichtsratsbeschlusses. Doch die Anwältin, die das Gremium berät, kann nicht alle Mitglieder erreichen. Eichelmann weist sie an, es weiter zu versuchen. Im Idealfall sollen alle Aufseher vor Marktöffnung um 09:00 Uhr zustimmen.

Während von Knoop seinen Vorstandskollegen, dem Aufsichtsrat und den Prüfern von EY vorsorglich den Entwurf für die Mitteilung zusendet, dass Wirecard 1,9 Milliarden Euro aus der Bilanz nicht finden kann, erhält Jan Marsalek eine neue Nachricht aus Manila. „Dear Mr Jan“, schreibt Treuhänder Tolentino. „Die BPI arbeitet derzeit an einem Entwurf für eine Antwort.“ Sie werde bald verschickt.

Um 08:41 Uhr teilt die Anwältin mit, dass Aufsichtsrätin Anastassia Lauterbach nicht zu erreichen sei. Alle anderen Mitglieder des Kontrollgremiums seien mit der Ad-hoc-Börsenmitteilung einverstanden. Dann meldet sich Jan Marsalek. Er hat einen Fehler gefunden.

Dem Asienchef geht es um die englische Version der Börsenmitteilung, die aller Voraussicht nach das Ende seines Unternehmens bedeuten wird. Dort stehe zu den Bankdarlehen, die ohne Jahresabschluss in Gefahr geraten: „EUR 2 billion can terminated.“ Marsalek fragt: „Sollte es nicht heißen ‘can be terminated’?“

Ordnung muss sein, auch im Untergang. Während sich Marsalek um Grammatik kümmert, erhält er eine weitere Nachricht aus Manila. Um 08:48 schreibt ihm Tolentino, er habe „gerade mit BPI gesprochen und die Dringlichkeit erklärt. Sie schicken in den nächsten zehn Minuten die Bestätigung.“

Die Spannung steigt unerbittlich. „Aktie im Fokus: Wirecard-Anleger nervös vor Zahlenvorlage“, tickert die Deutsche Presse-Agentur dpa um 08:47 Uhr. Dann öffnet die Börse in Frankfurt. Kurz darauf meldet sich Aufsichtsrätin Lauterbach und teilt mit, dass sie mit der Ad-hoc-Mitteilung einverstanden sei. Nun muss nur noch Braun zustimmen.

Um 09:13 Uhr reicht Brauns Assistentin erst einmal die Rechnung für das Essen während der Aufsichtsratssitzung ein. Am Tag des Untergangs werden Wirecards Aufseher vom Münchener Caterer Käfer beköstigt. Er serviert Wiener Schnitzel, Tomaten-Mozzarella-Spieße und Smoothies – für 334,40 Euro.

Noch immer gibt es keine Ad-hoc-Mitteilung. Um 09:57 Uhr wählt Aufsichtsratschef Eichelmann Brauns Nummer und fragt nach dem Grund für die Verzögerung. Der Vorstandschef sagt, dass er in diesen Minuten relevante Informationen zu den Treuhandkonten erwarte. Ob etwas dagegenspreche, weitere zehn Minuten zu warten, fragt er. Nein, sagt der Aufsichtsratsvorsitzende. Aber die Verantwortung liege nun beim Vorstand.

Fünfzehn Minuten später hat Braun keine Alternative mehr. Es ist 10:12 Uhr, als der CEO mit zwei Buchstaben den Weg für die Ad-hoc-Meldung freimacht: „Ok“. Es vergehen jetzt noch 31 Minuten bis zum Versand der Mitteilung, mit der Wirecard-Aktionäre innerhalb weniger Stunden mehr als sechs Milliarden Euro verlieren werden.

Mit zwei Buchstaben in die Katastrophe

Markus Braun gibt sein “OK”, die Anleger über die fehlenden 1,9 Milliarden Euro zu informieren.

Vorher trifft bei Jan Marsalek eine weitere Nachricht aus Manila ein. „Dear Mr. Jan“, schreibt der philippinische Treuhänder. BPI habe bereits eine E-Mail an den „lokalen Relationship Manager“ geschickt. Tolentino wolle nun die Banken kontaktieren, „damit sie sie direkt an uns schicken“.

Dann meldet sich Tolentino nicht mehr. Um 10:43 Uhr veröffentlicht Wirecard die Ad-hoc-Mitteilung. Die Abschlussprüfung werde verschoben, heißt es darin. Die Existenz von Bankguthaben über 1,9 Milliarden Euro auf Treuhandkonten sei fraglich. Es gebe Hinweise, dass „unrichtige Saldenbestätigungen zu Täuschungszwecken vorgelegt wurden“. Die Wirecard-Aktie bricht um 65 Prozent ein.

Der Aktienkurs ist das eine, das finanzielle Gerüst des Konzerns das andere. Wenn Wirecard keine Bilanz vorlegen kann, können Banken die Kredite kündigen, die sie an den Konzern vergeben haben. Zwei Milliarden Euro stehen im Feuer.

Um 10:51 Uhr schreibt Aufsichtsrätin Vuyiswa M’Cwabeni im Telegram-Chat an Technikvorständin Susanne Steidl: „It begins …“. Die antwortet mit nur einem Wort: „Yes“.

Eine Minute später meldet sich Heike Pauls von der Commerzbank bei Finanzvorstand von Knoop. Die Analystin hat ihren Kunden die Wirecard-Aktie lang zum Kauf empfohlen und Kritik an dem Unternehmen als „Fake News“ verunglimpft. Jetzt fragt sie den Finanzvorstand: „Können wir bitte so schnell wie möglich einen Call machen?“

Auch Aufsichtsratschef Eichelmann hat Gesprächsbedarf. Er ruft James Freis an. Dessen Amtsantritt als Vorstand für Recht und Compliance bei Wirecard ist für den 1. Juli geplant. Nun geht es schneller. Freis, so die Bitte Eichelmanns, solle bitte sofort nach Aschheim kommen.

Fünfzehn Minuten nach der Ad-hoc-Meldung schreibt Anwalt Fromholzer an Finanzvorstand von Knoop und die Chefin der Wirecard-Rechtsabteilung Andrea Görres. Nach Rücksprache mit den Strafverteidigern des Unternehmens würde er empfehlen, „der StA bei dem Gespräch heute Nachmittag die wesentlichen Unterlagen vorzulegen, die zu der Verschiebung des Jahresabschlusses geführt haben“. StA steht für Staatsanwaltschaft.

Mit ihrer Ad-hoc-Mitteilung hat sich die Wirecard-Führung auf einen Weg begeben, den sie nicht mehr verlassen kann. Wenn unrichtige Finanzdokumente zu Täuschungszwecken existieren, muss es jemanden geben, der getäuscht hat. Wer das sein mag, kann Wirecard nicht allein klären. Das ist Behördensache.

Um 11:08 Uhr verschickt Wirecard eine weitere Meldung für die Öffentlichkeit. „Ob betrügerische Vorgänge zum Nachteil der Wirecard AG vorliegen, ist derzeit unklar“, lässt Markus Braun darin verlauten. „Die Wirecard AG wird Anzeige gegen unbekannt erstatten.“

Die Mitarbeiter lesen mit. „Hast du das Statement gesehen? Das ist ein Desaster“, schreibt eine Führungskraft in Singapur an eine andere. Die Antwort: „Nicht wahr?“ Darauf die erste: „Mein Gott“.
Brauns Assistentin mailt derweil an die Ehefrau des Vorstandschefs: „Hier fliegt gerade der Bär.“ Das Geschehen bei Wirecard werde wohl kaum noch geradezubiegen sein. Immerhin: Die Planung für den Kindergeburtstag läuft gut.

Das Festtagskleid von Brauns Ehefrau ist farblich mit den Hortensien abgestimmt, die Vasen sind „nur optional als Sicherheit, können wir rausnehmen“, schreibt Brauns Assistentin. Unter ihrer Mail hängt die des Caterers aus St. Tropez. Er bittet um Auskunft, ob Madame Braun schon eine Wahl getroffen habe, welcher Küchenchef beim Geburtstag kochen solle.

Partykleid

Das Kleid von Dolce & Gabbana, zu dem die Assistentin von Markus Braun passende Blumen bestellen sollte.


(Foto: D&G)

Nach diesen Fragen wendet sich Brauns Assistentin wieder der Wirecard-Welt zu. Noch immer hat man in Aschheim keine Auskunft darüber, warum 1,9 Milliarden Euro auf Treuhandkonten in Manila einfach verschwunden sind. Der Wirecard-Vorstandsvorsitzende will die Sache nun selbst in die Hand nehmen. Braun bitte „um ein dringendes Gespräch mit Ihnen“, schreibt seine Assistentin um 11:21 Uhr an die Chefs der philippinischen Banken.

Prompt kommen als Antwort zwei Fehlermeldungen: Die angeschriebenen E-Mail-Adressen existieren nicht. Fast zeitgleich erhält Asienvorstand Jan Marsalek eine Mail. Sie stammt von seinem Strafverteidiger Frank Eckstein: „Können Sie bitte mal durchrufen?“

Brauns Assistentin verzweifelt an der Suche nach einem Kontakt zu den Chefs der philippinischen Banken. Sie wendet sich um 11:40 Uhr an Marsalek: „Jan, ich finde keinen wirklichen Telefonkontakt oder richtige e-mails….kannst Du uns hier weiterhelfen, sonst wird das eher nichts mit den Anrufen….bis die irgendeine zentrale e-mail lesen…“

18. Juni, 12:00 bis 18:00 Uhr

Zur Mittagszeit bittet Brauns Assistentin auch die Kollegin um Hilfe, die für Finanzvorstand von Knoop arbeitet. Vergebens. Niemand bei Wirecard scheint je mit relevanten Personen bei den Banken kommuniziert zu haben, bei denen Wirecard angeblich ein Viertel der Bilanzsumme lagert. Sie habe „noch nie von den Namen gehört“, schreibt die Assistentin des Finanzchefs. Brauns engste Mitarbeiterin antwortet: „Kennen tun wir die alle nicht.“

Um 12:03 Uhr arbeitet Vorständin Susanne Steidl am nächsten Problem. Planmäßig soll in zwei Stunden die Bilanz vorgestellt werden. Doch deren Aktivseite wurde gerade in weiten Teilen pulverisiert. Nun muss eine Alternative her, ein Video für die Anleger.

Statt der Bilanzpressekonferenz könnte der Dax-Konzern so wenigstens eine Botschaft senden, glaubt der Vorstand. Die Shareholder müssten schließlich „Gesichter sehen“, schreibt Steidl. Doch Marsalek hat im Chat einen Einwand.

„Ich seh’ nur nicht sehr fit aus“

Es ist 12:04 Uhr, ganz Deutschland weiß inzwischen vom Chaos bei Wirecard. Der Aktionär, der sich schon am Vortag bei Vorstandschef Braun beschwerte, schreibt: „Ist Wirecard Pleite sind wir auch Pleite! Sie zerstören damit eine komplette Familie!“

Die Einschläge kommen näher. Zwei Vorstandsassistentinnen chatten über einen Kollegen. Dessen Frau sei „zusammengeklappt“, schreibt die eine. „Ja, Wahnsinn – aber sorry, wer mit Aktien spekuliert“, antwortet die andere. Darauf die erste: „Sorry, wer so nah dran ist und insbesondere unsere Aktie.“

Um 12:19 Uhr meldet sich ein Konzernanwalt bei den Vorständen Steidl und von Knoop. Wirecard drohe die Zahlungsunfähigkeit innerhalb weniger Tage. „Insolvenzrechtlich dürfen in dieser Situation keine Zahlungen mehr angewiesen und ausgeführt werden“, schreibt der Anwalt. Das gelte auch für die Gehaltszahlungen sämtlicher Mitarbeiter der Wirecard AG.

Eine Minute später macht eine Neuigkeit die Runde durch die Vorstandsbüros. Der Compliance-Chef Daniel Steinhoff und Asienvorstand Marsalek überlegen angeblich, „heute noch nach Manila zu fliegen“.

Um 12:38 Uhr schreibt Wirecard-Aufsichtsrätin Vuyiswa M’Cwabeni per Telegram an Vorständin Susanne Steidl: „Kannst du sprechen? Friese spricht heute um 13 Uhr mit den Banken in Manila.“ Steidl antwortet: „Das ist die erste gute Nachricht des Tages.“

Mit „Friese“ ist James Freis gemeint. Noch ist seine Bestellung zum Vorstand gar nicht offiziell, schon ist Freis der Mann, der anderen bei Wirecard Hoffnung macht. Er ist Amerikaner, nicht Österreicher wie Braun und Marsalek. Eine Kapazität, erfahren und unabhängig. Freilich: Das Gespräch mit den philippinischen Banken wird auch Freis heute nicht gelingen.

Der Druck wächst von Minute zu Minute. „Mastercard hat sich bei mir gemeldet und möchte einen C level Call so schnell wie möglich“, schreibt ein Mitarbeiter um 12:33 Uhr an Braun und von Knoop. Gemeint ist ein Gespräch auf Vorstandsebene. Die Kreditkartenanbieter sind die wichtigsten Geschäftspartner von Wirecard. Kurz darauf meldet sich auch Visa in Aschheim.

„Jetzt springen sie alle ab…“, schreibt Brauns Assistentin an eine Kollegin. Das sei „doch schon immer so“ gewesen, lautet deren Antwort. Wer nicht mitschwimme, werde fallen gelassen. Jahrelange Zusammenarbeit werde innerhalb von Minuten annulliert. „Das ist die kranke Welt von Investoren nur Profit, kein Gewissen.“ In den Vorzimmern von Wirecard keimt Kapitalismuskritik.

Die Katastrophe trifft Braun nun auch privat. Um 13:03 Uhr erhält er eine Mail vom Schweizer Bankhaus Mirabaud. „Konto 517240 – MARGINCALL“ steht in der Betreffzeile. Braun hat sich über seine private Beteiligungsgesellschaft 26,75 Millionen Euro von Mirabaud geliehen und als Sicherheit Wirecard-Aktien hinterlegt. Der Kurssturz macht die Sicherheiten nun zunichte.

Man sehe sich gezwungen „per sofort den Belehnungswert der Wirecard-Titel auf null zu setzen“, schreibt der Senior Vice President von Mirabaud aus Zürich. Die Bank stellt Braun ein Ultimatum: „Wir fordern Sie hiermit auf, den fehlenden Deckungswert in der Höhe von EUR 26‘000’000 bis spätestens morgen Freitag, den 19. Juni 2020, 12.00 Uhr CET, wieder herzustellen.“ Andernfalls werde Mirabaud Brauns Aktien verkaufen.

Um 13:23 Uhr glaubt Brauns Assistentin, den ersten Hoffnungsschimmer des Tages zu erkennen. Seit Stunden versucht sie, den Chef der philippinischen Bank BDO zu erreichen, damit dieser bestätigt, dass Wirecard dort Konten in Milliardenhöhe führt. Jetzt kommt endlich eine Antwort. Der BDO-Mann schreibt, er sei in Toronto und unter seiner Mobilnummer erreichbar.

Die Assistentin leitet die Mail weiter an Braun. Das Problem: Es ist der falsche BDO-Chef. Braun hat nicht die Nummer eines Bankers in Südostasien auf dem Schirm, sondern die des Chefs des internationalen Wirtschaftsprüfernetzwerks BDO in Kanada.

Das führt zu Problemen. Kurz nach ihrer Mail an ihren Chef schreibt Brauns Assistentin an den Asienvorstand Marsalek: „Haben wir hier überhaupt den Richtigen…. keiner sagt was, nur BDO… könntest du hier mal Klarheit bringen?“

Marsalek antwortet: „Das müsste ein Philippino sein. I‘ll check“. Es ist die letzte Mail, die Wirecards Asienchef verschickt. 13 Minuten später, um 13:40 Uhr, erhält Marsalek eine Nachricht vom IT-Administrator: „Ihr Mobilgerät ist vorübergehend vom Abruf von Inhalten gesperrt, weil Ihr Gerät unter Quarantäne steht. Sie brauchen nichts zu tun.“

Um 14:04 Uhr beschließt der Aufsichtsrat, Marsalek wegen „schwerer Organisationsmängel“ mit sofortiger Wirkung freizustellen. In den folgenden Minuten werden die Vorstände über die Entscheidung informiert. Aufsichtsrätin Lauterbach schreibt an Produktchefin Steidl: „Sag bitte noch nichts zu Jan.“ Steidl versichert: „Kein Wort“.

Um 14:39 Uhr meldet sich Oliver Samwer bei Markus Braun. Der Unternehmer und Milliardär hat dem Wirecard-Chef einen Monat zuvor 75 Millionen Euro geliehen. Nun will Samwer sein Geld zurück, und zwar zackig. Er wolle in den nächsten 30 Minuten telefonieren, schreibt Samwer: „Wir können mit oder ohne Anwälte.“

Markus Braun

Der Wirecard-Chef lieh sich 75 Millionen Euro von Rocket-Internet-Gründer Oliver Samwer.

(Foto: dpa)

Braun hat keine Zeit für ein Telefonat. Um 14:55 Uhr muss der Österreicher ausgerechnet im Sitzungsraum „Wien“ seinen Aufsichtsräten Rede und Antwort stehen. Braun gibt sich unbeirrt. Er habe keinen Anlass, an irgendetwas zu zweifeln. Auch nicht an Marsalek.

Was mit diesem Tolentino sei, fragt ein Aufsichtsrat. Der sei ein respektabler Treuhänder mit 40 bis 50 Mitarbeitern, antwortet Braun. Warum sollten die 1,9 Milliarden Euro nicht auf den Treuhandkonten der philippinischen Banken liegen? Analytisch, so Braun, schätze er die Chancen, dass alles seine Richtigkeit habe, auf 50 Prozent. Emotional sogar auf 70 Prozent.

Dann geht Braun. Draußen wartet bereits sein Strafverteidiger auf ihn, Alfred Dierlamm. Auch Aufsichtsratschef Eichelmann verlässt die Sitzung für ein paar Minuten. Er spricht mit Marsalek. Anschließend berichtet Eichelmann, der Asienchef habe seine Freistellung „sehr professionell“ akzeptiert. Marsalek habe zudem versprochen, den neuen Vorstand Freis bei der Aufklärung zu unterstützen.

Die allerletzten Stunden von Wirecard brechen an. „Also ganz schön schlimm hier Papa, muss ich Dir dann erzählen“, schreibt Brauns Assistentin um 14:50 Uhr an ihren Vater.

Knapp eine Stunde später erhält sie eine E-Mail von einer Kollegin. Man habe sie gebeten, sich nach Flügen nach Manila zu erkundigen. Ob das möglich sei, jetzt, in der Pandemie?

Brauns Assistentin schließt die Mail, dann erstellt sie in ihrem Postfach einen Ordner: „Neues Leben“. Sie kopiert Bewerbungsschreiben hinein, die sie in den folgenden Stunden an diverse Firmen verschicken wird.

Zwischendurch mosert Alexander von Knoops Assistentin per Mail: „Alex wird jetzt auch pampig.“ Brauns Assistentin antwortet: „Ich höre schon gar nicht mehr hin, es interessiert sich eh keiner für uns.“

Während die Assistentinnen einander ihr Leid klagen, betritt Finanzchef von Knoop den Konferenzraum, in dem der Aufsichtsrat tagt. Wie soll es nun weitergehen? Er sei zuversichtlich, dass eine Verlängerung des Kreditrahmens mit den finanzierenden Banken verhandelt werden könne, sagt von Knoop. Zum Thema Finanzierung und Insolvenz sei bereits die Kanzlei Noerr mandatiert. Um 17:25 Uhr beenden die Aufseher ihre Sitzung.

18. Juni, 18:00 bis 24:00 Uhr

Um 18:18 Uhr erfährt die Öffentlichkeit von Marsaleks Freistellung. Der Österreicher kehrt kurz darauf bei einem Münchener Italiener ein. Marsalek trifft dort seine private Assistentin sowie Martin W. – einen ehemaligen Agenten des österreichischen Nachrichtendienstes BVT.

Jan Marsalek

Jan Marsalek und enge Vertraute in einer Münchener Bar. Rechts im Bild (verpixelt) der frühere österreichische Nachrichtendienstler Martin W., der nach eigenen Angaben Marsalek bei der Ausreise geholfen hat.

Dessen Darstellung zufolge erklärt Marsalek, er wolle auf die Philippinen fliegen, um die Sache aufzuklären. Dabei plane er einen Zwischenstopp in der weißrussischen Hauptstadt Minsk. Flüge sind schwierig in Corona-Zeiten. Noch im Restaurant telefoniert Martin W. mit einem Mittelsmann, der für den folgenden Tag eine Maschine organisieren soll.

Die verbliebenen Vorstände haben einen letzten Termin in ihrem Kalender: die Aufnahme des Videos für die gebeutelten Wirecard-Aktionäre. Die Worte, die Markus Braun an diesem Donnerstagabend spricht, sind seine letzten als Wirecard-Chef für die Öffentlichkeit. Braun sagt: „Es kann derzeit nicht ausgeschlossen werden, dass die Wirecard AG in einem Betrugsfall erheblichen Ausmaßes zum Geschädigten geworden ist.“

Um 21:00 Uhr packt die Filmcrew die Aufnahmegeräte zusammen. Vorständin Susanne Steidl fährt mit ihrem Fahrrad zum italienischen Restaurant „Guido Al Duomo“ am Münchener Frauenplatz. Laut Eigendarstellung bietet es „pure Erholung“. Steidl verbringt hier den Abend mit Aufsichtsrätin Anastassia Lauterbach.

Markus Braun muss noch ein Telefonat führen. Die Europa-Geschäftsführerin von Visa hat dringende Fragen. Finanzvorstand von Knoop spricht mit seinen Mitarbeitern. Thema: „insolvenznahe Szenarien“.

Auch James Freis ist in dem Video vom 18. Juni 2020 zu sehen. Der Amerikaner trägt als einziger kein dunkles Outfit. Er war erst zwei Tage zuvor in München eingetroffen und zu seiner eigenen Überraschung in den Vorstand berufen worden, bevor er sich einen Chefanzug zulegen konnte.

Nach der Aufnahme fährt Freis ins Hotel. Frisch ausgestattet mit einem Firmenlaptop beginnt er seine eigene Suche nach den verschwundenen Milliarden von Wirecard.

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Eine Stunde später stellt Freis fest: Es gab sie nie. Bei den philippinischen Banken, die angeblich das Geld verwalten, werden überhaupt keine Fremdwährungskonten mit solchen Summen geführt. Das bedeutet im Umkehrschluss, dass die Wirecard-Angaben zu den 1,9 Milliarden Euro auf Treuhandkonten falsch sein müssen. Freis kann das anhand von Dokumenten nachprüfen, die für jedermann auf den Webseiten der Banken einsehbar sind.

Es ist eine Idee, auf die niemand zuvor bei Wirecard gekommen war – oder kommen wollte. Kein Vorstand, kein Aufsichtsrat, kein Wirtschaftsprüfer. In den letzten 48 Stunden von Wirecard haben viele Menschen vieles versucht. Nur nicht das Naheliegendste.

Epilog 

Jan Marsalek kommt nie auf den Philippinen an. Er setzt sich am nächsten Tag ab und ist seitdem verschwunden. Die Staatsanwaltschaft hat ihn international zur Fahndung ausgeschrieben.

Markus Braun tritt am 19. Juni 2020 zurück. Am 22. Juli wird er festgenommen. Seither sitzt er in der Justizvollzugsanstalt Augsburg-Gablingen in Untersuchungshaft. Vom Betrug in seinem Konzern will er nichts gewusst haben.

James Freis übernimmt das Amt von Braun und führt Wirecard bis zur Insolvenz. Er geht als letzter Vorstandschef von Wirecard in die Geschichte ein. Im September 2020 tritt er ab. 

Susanne Steidl und Alexander von Knoop sind auf freiem Fuß, obwohl auch gegen sie ermittelt wird. Insolvenzverwalter Michael Jaffé, der im August 2020 bei Wirecard übernimmt, kündigt ihnen zum Ende des Monats. Steidl bekommt einen Beratervertrag.

Der Aufsichtsrat von Wirecard löst sich im August 2020 auf. Die meisten Aufseher schweigen sich seitdem aus. Der letzte Vorsitzende, Thomas Eichelmann, spricht heute von einem „Albtraum“.

Mark Tolentino bestreitet, von Unregelmäßigkeiten gewusst zu haben oder daran beteiligt gewesen zu sein. Er betreibt einen Youtube-Kanal, auf dem er Rechtsfragen beantwortet.

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