Wie Europas Hot-Spots gegen den Übertourismus kämpfen

Athen, Paris, Madrid, Venedig Seit 30 Jahren wird die Situation in Venedig immer schlimmer, sagt Giovanni Bonazzon. Ob die Toiletten, der Müll, die überfüllten Boote: „Diese Stadt ist einfach zu klein für 100.000 Touristen am Tag.“ Als Achtjähriger zog Bonazzon in die Lagunenstadt, ging hier zur Schule, lernte und lehrte an der renommierten Kunstakademie. Heute verkauft der 73-Jährige seine Aquarelle in der Nähe vom Markusplatz.

„Langsam wird das hier zu einem Freizeitpark“, schimpft er. Vor Kurzem habe ihn ein Amerikaner gefragt, wann denn der Park schließe. „Das ist eine Stadt, die macht nicht zu“, antwortete Bonazzon. Venedig – in den Augen vieler Besucher nur noch eine Art Disneyland.

Trotz der Temperaturen jenseits der 30 Grad schieben sich auch an diesem Julitag Menschenmassen durch die Gassen zwischen Rialtobrücke und Markusplatz. Die Vaporetti, der Busersatz auf dem Wasser, sind prall gefüllt. Und selbst im Caffè Florian, wo der Cappuccino 11,50 Euro kostet und Gäste sechs Euro „Musikaufschlag“ für eine Band zahlen, sind am Nachmittag mehr als die Hälfte aller Plätze besetzt.

Nach dem Ende der Pandemie sind die Touristen zurück in Venedig und anderen europäischen Hotspots wie Barcelona oder den aktuell von Waldbränden geplagten griechischen Inseln – und mit ihnen die Probleme. Mehrere Städte und Gemeinden wollen nun gegensteuern und versuchen mit verschiedenen Konzepten, den Übertourismus zurückzudrängen.

Es ist ein schmaler Grat: Die Bewohner wollen nicht in einer Kulisse wohnen. Andererseits brauchen sie den Tourismus, um die Wirtschaft anzukurbeln.

QR-Code für den Tagesbesuch in Venedig

In Venedig wohnen mittlerweile weniger als 50.000 Menschen – und treffen auf gut 30 Millionen Touristen im Jahr. „Die Zahl der Menschen, die um die Welt reisen, hat sich in den vergangenen 15 Jahren mehr als verdoppelt“, sagt Simone Venturini, der sich als Venedigs Stadtrat um Tourismus kümmert. „Bei einer archäologischen Stätte oder einem Nationalpark kann man die Eintrittskarten begrenzen, in einer Stadt ist das alles viel komplizierter.“ Trotzdem will Venturini im kommenden Jahr mit einem Ticketkonzept experimentieren.

Menschenmassen in den Gassen Venedigs

Zwischen Rialtobrücke und Markusplatz drängen sich die Touristen.

(Foto: Bloomberg)

An 20 bis 30 Tagen im Jahr, an denen erfahrungsgemäß besonders viele Touristen in die Stadt strömen, braucht es künftig eine Reservierung für Tagesgäste. „Wir bauen keine Schranken oder Gitter auf, man kann sich einfach per Smartphone registrieren und erhält einen QR-Code.“

Venturini plant mit einer Eintrittsgebühr zwischen drei und zehn Euro, der genaue Betrag muss noch festgelegt werden. Wer im Hotel übernachtet, soll den QR-Code automatisch mit der Buchung bekommen. In der Stadt soll es Stichprobenkontrollen geben.

Gleichzeitig setzt Venturini auf zahlungskräftigere Besucher. „Wir konzentrieren uns bei Events künftig auf qualitativ hochwertige wie die Boots-Biennale, das Filmfestival oder die Modewoche.“ Diese Veranstaltungen würden allesamt Gäste in die Stadt bringen, die in Vier- oder Fünf-Sterne-Hotels übernachten.

Kreuzfahrtschiffe dürfen nach einem Beschluss der italienischen Regierung schon seit Sommer 2021 nicht mehr in die Lagune fahren. Legten früher bis zu zehn Schiffe an einem Wochenende in Venedig an, sind es heute nur noch ein bis zwei pro Woche am Industriehafen am Festland. Nur wenige Anbieter fahren den Hafen an, von dem aus Passagiere mit Shuttle-Bussen in die Stadt fahren müssen.

Weniger Kreuzfahrtschiffe auf Mallorca

Der spanische Tourismusverband Exceltur erwartet in diesem Jahr einen neuen Umsatzrekord. Das sind nicht nur gute Nachrichten. Viele Ferienziele standen schon vor der Pandemie an der Grenze ihrer Aufnahmefähigkeit. „Mit dem erwarteten Besucherrekord wird es schwierig zu verhindern, dass der Konflikt zwischen Bewohnern und Touristen wieder aufbricht – vor allem in den Städten mit ihrem begrenzten Platz“, sagt Núria Guitart, Tourismusexpertin am CETT, das zur Universität von Barcelona gehört.

In Spanien gibt es bereits mehrere Initiativen. In Palma de Mallorca hat sich die Stadtregierung im Frühjahr mit dem Arbeitgeberverband der Kreuzfahrtanbieter und den Reedereien darauf geeinigt, dass in diesem Jahr nur drei Schiffe gleichzeitig im Hafen anlegen dürfen, wobei nur eines davon mehr als 5000 Passagiere fassen darf.

Palma hat zudem schon 2019 verfügt, dass Touristen nur noch komplette Häuser, aber keine Wohnungen in Mehrfamilienhäusern mehr mieten können. Der Erfolg der Verordnung ist allerdings begrenzt: Im Netz finden sich immer noch zahlreiche Angebote für Ferienwohnungen.

Auch Barcelona leidet unter Übertourismus. Auf die 1,6 Millionen Einwohner kamen im Jahr 2019 rund 24 Millionen Touristen, davon 10,5 Millionen Kreuzfahrt-Passagiere. Die sind meist nur für einen Tag in der Stadt – und besuchen alle gleichzeitig die klassischen Sehenswürdigkeiten wie die Sagrada Familia oder den Boulevard Las Ramblas.

Kreuzfahrtschiff in Barcelona

Um illegale Ferienunterkünfte zu verhindern, bindet die Stadt ihre Bürger ein. „Auf den Vermietungs-Websites kann jeder überprüfen, ob ein Angebot legal ist oder nicht“, sagt Guitart. „Fehlt die städtische Erlaubnis, kann man auf einen Button drücken und das Angebot melden.“ Barcelonas ehemalige Bürgermeisterin Ada Colau hat bis zu ihrer Abwahl im Mai stets versucht, den Tourismus zu beschränken. Schon 2017 schickte sie Kontrollkommandos durch die Stadt. 2000 von rund 8000 Ferienwohnungen in Barcelona sind seitdem nicht mehr auf den Vermietungsseiten verfügbar.

Ansturm auf Frankreichs Buchten

In Frankreich strömen 80 Prozent der Touristen in nur 20 Prozent des Landes. Viele Orte sind überlaufen, vor allem in der Natur. Zu den gefragtesten Sehenswürdigkeiten gehören die Buchten der Calanques von Marseille, die Abtei Mont Saint Michel in der Normandie und die Steilküste von Étretat.

Die Regierung hat jüngst ein Beobachtungsinstitut angekündigt. „Frankreich ist das wichtigste Reiseziel der Welt, aber wir haben zu wenig Daten“, erklärte Tourismusministerin Olivia Grégoire. Noch vor der Auswertung soll eine Kampagne starten, um Werbung für andere schöne Ziele abseits der Massen zu machen.

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Einige Orte dämmen die Touristenströme schon jetzt ein: Wer die Calanque Sugiton besuchen will, muss im Sommer reservieren. Die Bucht, die in einer einstündigen Wanderung erreichbar ist, lässt im Juli und August nur noch 400 Besucher pro Tag zu, während es früher bis zu 2.500 waren.

Die Calanque d’en Vau ist ebenfalls überlaufen, dort baden im Sommer oft 2000 Menschen gleichzeitig, bis zu 100 Kajaks warten in der Bucht. Bürgerinitiativen und Umweltschützer plädieren für eine Einschränkung.

Auch in Étretat in der Normandie mit seinen gerade mal 1200 Einwohnern und bis zu 10.000 Touristen am Tag werden Maßnahmen diskutiert, um die Steilküste besser zu schützen.

Wasserversorgung auf Santorin durch Übertourismus am Limit

Auf der griechischen Insel Santorin versuchen die Bewohner in der Ortschaft Oia, sich mit Schildern gegen die Folgen der Touristenströme zu wehren. „Respekt“ steht in weißen Großbuchstaben auf blauem Grund. Darunter: „Es sind Ihre Ferien, aber es ist unser Zuhause. Wir heißen Sie willkommen. Bitte respektieren sie Oia.“

Sonnenuntergang in Oia

Der Ort auf der Insel Santorin wird jeden Abend zum Selfie-Hotspot.

(Foto: Moment/Getty Images)

Die Schilder hängen in vielen Gassen des Ortes. Aber die wenigsten Touristen, die sich allabendlich durch die Gassen drängeln, nehmen Notiz davon. Sie streben zu den Aussichtspunkten am Kraterrand der Vulkaninsel, um den Sonnuntergang zu bestaunen. Zehntausende kämpfen dann auf den Terrassen um den besten Platz für ein Selfie, bevor die Sonne im Meer versinkt.

Vor 70 Jahren war Santorin eine der ärmsten Inseln der Ägäis. Dann kamen die Urlauber. Heute ist Santorin so etwas wie das Flaggschiff des griechischen Tourismus. Die Höhlenwohnungen am Kraterrand: Luxussuiten mit privatem Infinity-Pool für 800 Euro aufwärts pro Nacht. Der Tourismus hat Santorin reich gemacht. Die Kehrseite: Verkehrsstaus auf den schmalen Straßen und überquellende Müllkippen. Wasserversorgung und Stromnetz sind im Sommer ständig am Limit.

Keine andere griechische Insel wird so häufig von Kreuzfahrtschiffen angelaufen wie Santorin. Im vergangenen Jahr waren es 686 Ankünfte, 94 mehr als im bisherigen Rekordjahr 2019.

An manchen Tagen ankern hier drei oder vier riesige Kreuzfahrtschiffe. 2018 brachte der damalige Inselbürgermeister einen Beschluss durch den Stadtrat, die Anzahl der Kreuzfahrtbesucher auf 8000 am Tag zu begrenzen. Im Jahr darauf wurde er abgewählt. In Gesprächen mit Vertretern der Kreuzfahrtreedereien versuchen die Lokalbehörden, die Ankunftszeiten der Schiffe wenigstens besser über die Woche zu verteilen – bisher mit geringem Erfolg.

Einwohner auf Mykonos klagen: „Insel ist nur eine Kulisse“

Auf Platz zwei folgt in Griechenland bei den Kreuzfahrtbesuchen Mykonos mit 608 Ankünften. „An manchen Tagen kommen binnen weniger Stunden 25.000 Kreuzfahrtpassagiere auf unsere Insel“, sagt Antonis Iliopoulos, Präsident des Hotelverbandes auf Mykonos. Das ist das Zweieinhalbfache der Einwohnerzahl. Viel Geld bringen die Tagesgäste allerdings nicht: „Die meisten kaufen nicht mal eine Postkarte“, klagt ein Andenkenhändler am Hafen. „Unsere Insel ist für sie nur eine Kulisse.“

Auch auf Mykonos gibt es seit Jahren Überlegungen, die Touristenströme zu bremsen. Ein mehrheitsfähiges Konzept ist bisher nicht herausgekommen. Aber vielleicht reguliert der Markt sich selbst: Manchen Besuchern sind die Hotspots offenbar zu überlaufen und zu teuer.

Während Griechenland insgesamt auf einen neuen Reiserekord zusteuert, gingen die Besucherzahlen auf Santorin im ersten Halbjahr gegenüber 2022 um fünf Prozent zurück. Auf Mykonos betrug das Minus sogar 18 Prozent.

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