Wie arm die Kinder in Deutschland wirklich sind

Berlin Die geplante Kindergrundsicherung spaltet die Ampel. Bei der am Dienstag beginnenden zweitägigen Kabinettsklausur in Meseberg will die Koalition ihren Streit über die Leistung beilegen. Kanzler Olaf Scholz (SPD) erklärte, in dieser Woche werde geklärt, wie die Kindergrundsicherung konkret ausgestaltet werde.

Bis dahin lohnt noch einmal der Blick auf das Phänomen Kinderarmut in Deutschland.

„Die relative Kinderarmut in Deutschland ist seit Jahren anhaltend hoch. 2022 galt jedes fünfte Kind als von Armut bedroht oder betroffen“, heißt es in einem der bekannt gewordenen Referentenentwürfe zur Kindergrundsicherung.

Je nachdem, welche Definition zugrunde gelegt wird, kommt man auf unterschiedliche Werte. Da ist zunächst die sogenannte Armutsgefährdungsquote. Als armutsgefährdet gilt, wer weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens der Gesamtbevölkerung zur Verfügung hat.

Laut Statistischem Bundesamt traf dies im vergangenen Jahr auf knapp 2,2 Millionen oder 14,8 Prozent der Kinder und Jugendlichen unter 18 Jahren zu.

Der relative Armutsbegriff ist allerdings problematisch. Denn selbst wenn der Staat allen Heranwachsenden monatlich 5000 Euro überweisen würde, wären immer noch dieselben Kinder „arm“.

Enger gefasst ist die Definition der sogenannten materiellen Deprivation. Anhand eines Kriterienkatalogs wird überprüft, was Kinder zur Verfügung haben und was nicht, beispielsweise frisches Obst und Gemüse, einen Internetanschluss im Haus oder Spiele.

Nach den vom europäischen Statistikamt Eurostat definierten Kriterien waren hierzulande im Jahr 2021 sechs Prozent aller Kinder unter 16 Jahren von materiellen Entbehrungen betroffen, in der EU lag die Quote mit 13 Prozent deutlich höher.

Am weitesten gefasst ist die Definition von Armut und sozialer Ausgrenzung. Sie greift, wenn auf eine Person mindestens eine der folgenden drei Bedingungen zutrifft: Ihr verfügbares Einkommen liegt unter der Armutsgefährdungsgrenze, ihr Haushalt ist von erheblicher materieller und sozialer Entbehrung betroffen oder sie lebt in einem Haushalt mit sehr geringer Erwerbsbeteiligung.

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Demnach waren im vergangenen Jahr laut Statistischem Bundesamt 24 Prozent der unter 18-Jährigen in Deutschland von Armut oder sozialer Ausgrenzung betroffen. Die Quote liegt nur knapp unter dem EU-Durchschnitt von 24,7 Prozent. Zwei Drittel aller EU-Staaten haben niedrigere Quoten.

Wo ist die Kinderarmut besonders ausgeprägt?

Kinderarmut kommt besonders in Alleinerziehenden-Haushalten oder bei Familien mit drei und mehr Kindern vor.

Die Bertelsmann-Stiftung hat in einer Studie mit Daten aus dem Jahr 2021 auch die regionale Verteilung in Deutschland untersucht. Demnach sind Kinder in Bremen am stärksten armutsgefährdet, gefolgt von Sachsen-Anhalt und Nordrhein-Westfalen.

Die niedrigsten Armutsgefährdungsquoten bei Kindern und Jugendlichen verzeichneten Bayern, Brandenburg und Baden-Württemberg.

Wie hat sich die Zahl der Kinder und Jugendlichen unter den Bürgergeld-Empfängern entwickelt?

Erhielten im Jahr 2015 noch rund 1,94 Millionen unter 18-Jährige Grundsicherungsleistungen vom Staat, so ist die Zahl bis 2022 leicht auf 1,85 Millionen gesunken, wie die Statistik der Bundesagentur für Arbeit (BA) zeigt.

Im laufenden Jahr geht der Trend wieder nach oben. Im März lebten rund 1,96 Millionen Kinder und Jugendliche in Haushalten mit Bürgergeld-Empfängern.

Welche Rolle spielt Migration bei der Kinderarmut?

Bundesfinanzminister Christian Lindner hat mit seiner Äußerung, dass es „einen ganz klaren Zusammenhang zwischen Zuwanderung und Kinderarmut“ gebe, viel Kritik auf sich gezogen. Aber die Zahlen geben dem FDP-Chef recht.

Von 2015 bis zum vergangenen Jahr ist die Zahl der Kinder mit deutscher Staatsbürgerschaft in der Grundsicherung um fast ein Drittel von 1,57 Millionen auf 1,06 Millionen zurückgegangen.

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Die Zahl der unter 18-jährigen Leistungsbezieher mit ausländischer Staatsbürgerschaft hat sich im selben Zeitraum von gut 366.000 auf knapp 797.000 mehr als verdoppelt.

Christian Lindner

Der Bundesfinanzminister sieht die Pläne für die Kindergrundsicherung kritisch.

(Foto: Reuters)

Dies hat vor allem mit dem verstärkten Zuzug von Geflüchteten seit 2015 zu tun. Bis März dieses Jahres ist die Zahl der minderjährigen Bürgergeld-Bezieher mit ausländischem Pass wegen der eingereisten ukrainischen Geflüchteten noch einmal kräftig auf gut 933.000 gestiegen.

Hatten 2015 noch rund 81 Prozent der jugendlichen Leistungsbezieher die deutsche Staatsangehörigkeit, so waren es laut BA-Statistik im März dieses Jahres nur noch gut die Hälfte.

Was müssen Kinder auf jeden Fall zum Leben haben, um nicht arm zu sein?

Das ist umstritten. Familienministerin Lisa Paus (Grüne) fordert eine Kindergrundsicherung, die mit echten Leistungsverbesserungen einhergeht. Dagegen will die FDP vor allem bestehende Leistungen bündeln und besser verzahnen, aber nicht die Regelsätze erhöhen.

Bisher werden die existenzsichernden Leistungen für Kinder nach der alle fünf Jahre erhobenen Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS) bestimmt. Dabei befragen das Statistische Bundesamt und die Statistischen Landesämter 60.000 Haushalte auch dazu, was sie sich leisten können.

Um die Regelbedarfe für Kinder zu ermitteln, werden dann die nach Einkommen gestaffelten untersten 20 Prozent der Paarhaushalte mit einem Kind herangezogen, Bürgergeld-Bezieher sind ausgeklammert.

An dem Verfahren gibt es eine Reihe von Kritikpunkten, beispielsweise, dass für die EVS nur Erwachsene befragt und Kinder mit ihren spezifischen Bedürfnissen so nur indirekt gehört werden.

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Oder dass in der Stichprobe Haushalte, die zwar Anspruch auf ergänzende Sozialleistungen hätten, diesen aber aus Scham oder Unkenntnis nicht wahrnehmen, nicht herausgerechnet sind.

Außerdem sei es mit der reinen Existenzsicherung nicht getan, argumentieren Kritiker. Es müsse auch darum gehen, Heranwachsenden eine „normale“ Kindheit zu ermöglichen.

Im Koalitionsvertrag haben SPD, Grüne und FDP vereinbart, im Zusammenhang mit der Kindergrundsicherung das soziokulturelle Existenzminimum neu zu definieren, wofür Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) zuständig wäre.

Ende Mai hatte ein Bündnis aus Sozial-, Wohlfahrts-, Verbraucher- und Kinderschutzverbänden sowie Jugendorganisationen und Gewerkschaften Heil aber noch Untätigkeit in dieser Frage vorgeworfen.

Mit „Ausnahme einiger deskriptiv-unverbindlicher Papiere“ seien „keinerlei Bemühungen des Arbeitsministeriums erkennbar“, der Verpflichtung zur Neudefinition des soziokulturellen Existenzminimums für Kinder nachzukommen, heißt es im Appell des Bündnisses.

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