Welche Faktoren die Wende und ein Kriegsende bringen können

Brüssel, Riga, Berlin Der Appell des russischen Außenministers an die Ukraine war zugleich eine massive Drohung. „Die Sache ist ganz einfach: Erfüllen Sie Moskaus Forderungen zu Ihrem eigenen Besten“, sagte Sergej Lawrow in einem in der Nacht zu Dienstag veröffentlichten Interview der russischen Nachrichtenagentur Tass. „Andernfalls wird die Angelegenheit von der russischen Armee entschieden.“

Lawrow bekräftigte dabei altbekannte Forderungen: die Anerkennung der besetzten Gebiete, die rund ein Fünftel des ukrainischen Staatsgebiets ausmachen. Und die „Demilitarisierung“ der übrigen Ukraine.

Auch der ukrainische Präsident zeichnet die Lage eines erbitterten, festgefahrenen Krieges. „Die Besatzer setzen alle ihnen zur Verfügung stehenden Mittel ein – und das sind beträchtliche Ressourcen – um irgendeinen Vorstoß zu machen“, sagte Wolodimir Selenski in seiner aktuellen Video-Botschaft.

Zehn Monate des Kriegs haben ganze Landstriche in der Ukraine verwüstet. Die umkämpften Städte im Osten sind Ruinengerippe, dazwischen liegen Felder, die Kraterlandschaften gleichen, kilometerweit. Auf beiden Seiten sind Zehntausende Soldaten gefallen. 

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Auch weit jenseits der Front verbreiten russische Raketen Tod und Zerstörung. Der Wirtschaft droht der Kollaps, mitten im Winter bricht in der Ukraine die Versorgung mit Strom, Wasser und Wärme immer wieder zusammen. In seiner aktuellen Videoansprache sagte Selenski, fast neun Millionen Menschen seien zuletzt ohne Strom gewesen.

Treffen des russischen Verteidigungsministeriums

Am Montag lud Verteidigungsminister Lawrow Militärs zu einer Lagebesprechung.


(Foto: IMAGO/ITAR-TASS)

Doch der Widerstandwille der Ukrainer bleibt ungebrochen. Ihren Streitkräften ist gelungen, was zu Kriegsbeginn kaum jemand für möglich hielt: der russischen Übermacht zu trotzen und die Invasoren zurückzudrängen.

Nur: Auch die Russen geben nicht auf, nach der Teilmobilisierung Ende September werfen sie neue Kräfte an die Front. Die Militärführung hofft weiter auf einen Durchbruch bei Bakhmut, einer ausgebombten, immer noch von den Ukrainern gehaltenen Stadt im Donbass. Die ukrainische Regierung rechnet damit, dass die russische Armee eine neue Offensive startet, womöglich schon im Januar. 

Wird es ein letztes Aufbäumen sein, bevor die Erschöpfung beide Seiten an den Verhandlungstisch zwingt? Besteht sogar Hoffnung auf einen ukrainischen Sieg? Oder wird am Ende doch noch Russland triumphieren?

Eine Antwort auf diese Fragen hängt von mehreren Faktoren ab. Die sechs folgenden Fragen sind besonders entscheidend:

1. Wem geht zuerst der Nachschub aus?

Die Intensität der Gefechte übersteigt alles, was Europa seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs erlebt hat. Die russische Artillerie feuert nach Schätzungen der US-Regierung 20.000 Geschosse pro Tag ab, deutlich mehr, als sie ersetzen können. 

„Wir haben den Eindruck, dass sie nicht in der Lage sind, das, was sie derzeit verbrauchen, im eigenen Land zu produzieren“, sagte die US-Geheimdienstkoordinatorin Avril Haines kürzlich. Das liegt auch daran, dass die russische Rüstungsindustrie die westlichen Sanktionen immer stärker zu spüren bekommt. Die Armee ist gezwungen, veraltete Munition aus Sowjetzeiten einzusetzen und Geschosse aus Nordkorea zu importieren.

Die Vorräte der Ukraine sind schon länger knapp. Ihre Streitkräfte müssen deshalb in den Artillerie-Duellen deutlich sparsamer sein, etwa 4000 Geschosse pro Tag feuern sie ab, heißt es aus dem Pentagon. Allerdings verwendet die Ukraine mehr und mehr westliche Haubitzen und Raketenwerfer, die wesentlich präziser sind als die Waffen der Russen. 

Weihnachten in Charkiw

Ukrainische Soldaten erhalten während eines Weihnachtsgottesdienstes von einem Priester das Friedenslicht von Bethlehem.

(Foto: dpa)

Eigenen Munitionsnachschub können die Ukrainer kaum produzieren. Gerade bei ihren treffsichersten Waffensystemen wie der Panzerhaubitze 2000 und den Mehrfachraketenwerfern Mars und Himars sind sie vollständig auf Nachschub aus dem Westen angewiesen.

Doch auch hier gibt es Probleme: In Europa sind die Kapazitäten zur Munitionsherstellung begrenzt, sogar die Vorräte der Amerikaner neigen sich dem Ende zu. Wesentlicher Teil des neuen amerikanischen Hilfspakets ist daher die Nachschubsicherung.

„Wir stellen uns über einen Zeitraum von drei Jahren auf eine ziemlich dramatische Steigerung der Produktion konventioneller Artilleriemunition ein“, betont der für Beschaffung zuständige Verteidigungsstaatsekretär Doug Bush. Halten die Amerikaner ihre Lieferungen aufrecht, dürfte sich der Munitionsvorteil nach und nach auf die Ukraine verlagern.

2. Wie stark bleibt Amerika involviert?

Ein zentraler Faktor für den weiteren Kriegsverlauf ist die amerikanische Innenpolitik – und die ist kaum kalkulierbar. Der Rückhalt der Regierung für die Ukraine steht außer Frage. Als der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski vor dem Kongress den Widerstandsgeist seines Landes beschwor, wurde er mit Standing Ovations geehrt. 

Die Präsidenten Selenski und Biden

Während seines Besuchs in Washington am 21. Dezember sagte der US-Präsident Selenski weitere militärische Unterstützung zu. Doch die Hilfen sind in den USA umstritten – vor allem die Republikaner fordern ein stärkeres Engagement der Europäer.


(Foto: Bloomberg)

Doch im Januar übernehmen die oppositionellen Republikaner die Mehrheit im Abgeordnetenhaus. Damit wird es schwerer, weitere Hilfspakete zu schnüren. Der nationalistische Flügel der Republikaner übt offen Kritik an den kostspieligen Waffenlieferungen, Abgeordnete wie Lauren Boebert und Taylor Greene verfolgten Selenskis Rede ungerührt, blieben demonstrativ sitzen. 

Und auch aus dem moderaten Teil der Partei kommt die Forderung, die Europäer stärker in die Pflicht zu nehmen. Die Republikaner kritisieren, US-Präsident Joe Biden lasse es zu, dass sich Europa hinter den USA verstecke und deutlich weniger zur militärischen Unterstützung Kiews beitrage. Kevin McCarthy, der Anführer der Republikaner im Abgeordnetenhaus, warnt, dass es künftig keinen „Blankocheck“ für die Ukraine mehr geben werde. 

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Ein Comeback von Donald Trump, der seine Sympathie für den russischen Präsidenten Wladimir Putin nie verhehlt hat, ist nicht ausgeschlossen. Zwar hat der Ex-Präsident im eigenen Lager Konkurrenz bekommen, etwa durch Ron Desantis, den Gouverneur von Florida. Doch Teile der republikanischen Basis sind Trump weiter treu ergeben.

3. Ist Europas Energieversorgung gesichert?

Für das Durchhaltevermögen der Europäer wiederum ist vor allem die Energiesicherheit entscheiden. Wenn es gelingt, russisches Erdgas, das bisher durch Pipelines Richtung Westen strömte, durch Flüssiggas aus Norwegen, den USA und dem Nahen Osten zu ersetzen, dürfte so schnell kein EU-Land die Unterstützung für die Ukraine infrage stellen. Sollte es jedoch zu Engpässen kommen, könnte es einen Dominoeffekt geben – und der Rückhalt für die Ukraine kollabieren.

Es ist schon allen klar, dass es russische Strategie ist, Zivilistinnen und Zivilisten erfrieren zu lassen. Carlo Masala, Professor für internationale Politik an der Universität der Bundeswehr

Die EU-Kommission erwartet, dass die Gasversorgung in diesem Winter gesichert ist. Doch das kommende Jahr bereitet der Brüsseler Behörde Sorge. Der russische Staatskonzern Gazprom hat seine Lieferungen nach Europa drastisch reduziert. Sollte Russland auch den verbliebenen Anteil der Gaslieferungen stoppen und zugleich die chinesische Gasnachfrage wieder ansteigen, droht der EU im Jahr 2023 ein Gasdefizit von 27 Milliarden Kubikmetern, warnt die Internationale Energieagentur IEA. Das entspricht etwa einem Drittel des jährlichen Erdgasverbrauchs Deutschlands.

Flüssiggas wird nur einen Teil dieser Versorgungslücke schließen können, auch der Verbrauch wird sinken und der Ausbau der erneuerbaren Energien sich beschleunigen müssen. Die deutsche Regierung steht vor der Frage, ob sie trotz der Gefahr einer Mangellage am Atomausstieg festhält.

4. Wie steht es um die Moral der Ukraine?

„Wir müssen alles tun, um diesen Winter zu überleben, egal wie hart er ist“, sagte Selenski Anfang Dezember. Selenskis Worte sind nicht nur an die Soldatinnen und Soldaten an der Front gerichtet, sondern vor allem auch an die Bevölkerung. Russland richtet seine Angriffe in jüngster Zeit vor allem gegen die zivile Infrastruktur, die Luftschläge beeinträchtigen die Versorgung mit Wasser und Elektrizität. 

Beschädigtes Umspannwerk nahe Kiew

Russland setzt seine Angriffe auf die Energieinfrastruktur der Ukraine fort.


(Foto: AP)

„Es ist schon allen klar, dass es russische Strategie ist, Zivilistinnen und Zivilisten erfrieren zu lassen, richtig?“, kommentierte jüngst Carlo Masala, Professor für internationale Politik an der Universität der Bundeswehr, die russischen Angriffe. Die großen Versorgungsprobleme, die für die Zivilbevölkerung nun entstehen, dürften die Gesellschaft vor bisher nicht gekannte Herausforderungen stellen. 

Bisher jedoch bleibt die Moral der Ukrainerinnen und Ukrainer ungebrochen, was nach Einschätzung von Beobachtern und Militärexperten vor allem einen Grund hat: Die ukrainischen Zivilisten und die Streitkräfte kämpfen mit voller Überzeugung für ihr Land – im Gegensatz zu den russischen Soldaten, die oft nicht wissen, warum sie eigentlich in den Krieg geschickt wurden. Das legen beispielsweise Berichte desertierter Soldaten nahe, aber auch zurückgelassene Dokumente der russischen Armee in der Region Charkiw.

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5. Wie stabil ist Russland?

Ein weiterer Faktor, der den Kriegsverlauf maßgeblich beeinflusst, ist die innere Stabilität Russlands. Solange Kremlchef Putin an der Macht ist, stehen alle Zeichen auf anhaltende Konfrontation.

Wie es um die internen Kräfteverhältnisse bestellt ist, lässt sich derzeit kaum bewerten. Klar ist allerdings: Tausende Soldaten, die jetzt an die Front geschickt wurden, werden von dort nicht zurückkehren. Große Sorgen bereiten vielen Russinnen und Russen Gerüchte über eine weitere Mobilmachung im neuen Jahr. Der russischen Armee werden die Personalressourcen nicht so schnell ausgehen, aber der Kreml muss die wachsende Unzufriedenheit genau im Blick behalten.

Hinzu kommen die Sanktionen des Westens, die Russland langfristig die Wachstumsperspektiven nehmen, wie Vasily Astrov, Ökonom am Wiener Institut für internationale Wirtschaftsvergleiche, analysiert. Die volle Wirkung könnte sich aber erst in zwei bis drei Jahren entfalten, meint Astrov. Er spricht daher von einer „Krise auf Raten“. Sicher ist: Je länger der Krieg dauert, desto schwerer wird es für Russland, die Aggression fortzusetzen.

6. Bringen westliche Panzer die Wende?

Der Krieg ist mit dem Winteranbruch festgefahren, weder Russland noch die Ukraine haben nach der Rückeroberung der Großstadt Cherson größere Geländegewinne erzielen können. Daran dürfte sich aus Sicht von Militärexperten über den Winter wenig ändern, auch wenn die ukrainischen Truppen in einigen Teilen in die Offensive gehen könnten.

Ohne westliche Kampfpanzer dürfte es ihnen aber faktisch unmöglich sein, Russland aus dem eigenen Land zu vertreiben. Geländegewinne wären nur unter hohen Verlusten möglich. 

Wenn die Ukraine vorrücken wolle, um ihr Land zurückzuholen, dann brauche sie den Schutz von Panzern, sagte kürzlich der General a. D. Hans-Lothar Domröse. Als früherer Befehlshaber eines Nato-Kommandos ist er ein visierter Kenner militärischer Taktiken.

Ukrainische Flüchtlinge an der Grenze zu Polen

Schlange vor der Passkontrolle des Bahnhofs im polnischen Rzeszow.


(Foto: IMAGO/NurPhoto)

Wie wirkungsvoll Kampfpanzer sind, zeigte sich bei der ersten großen Offensive der Ukraine im Osten ihres Landes. Mit einem gezielten Angriff durchbrachen sie mit einigen wenigen Panzern die Verteidigungslinien südlich von Kharkiv und zwangen die Russen zur Flucht.

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Russland hat einen klaren Vorteil gegenüber der Ukraine, da die Streitkräfte von Präsident Wladimir Putin erheblich mehr Kampfpanzer als Kiew besitzen. Den Bestand haben die Ukrainer jedoch erheblich reduziert: Nach Berechnung der Experten von Oryx wurden von 3417 aktiven russischen Panzern 1429 zerstört. Oryx wertet öffentlich verfügbare Aufnahmen aus. Nach Angaben aus Sicherheitskreisen dürften die Daten im Kern das Verlustverhältnis widerspiegeln.

Dennoch verfügt Moskau unverändert über eine größere Offensivkraft. Um diese aufzuheben, fordert der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski westliche Kampfpanzer. Schon durch einige wenige, so meinte ein deutscher General, würden sich die Machtverhältnisse auf dem Schlachtfeld verschieben: Ob nun der Leopard 2 aus deutscher Produktion, ein Leclerc aus Frankreich oder ein amerikanischer Abrams, sie alle sind russischen Kampfpanzern in jeder Hinsicht überlegen.

Der Militärführung in Moskau ist dieser Nachteil bewusst. Präsident Putin droht daher mit einer Eskalation für den Fall entsprechender Lieferungen. Bisher hat keiner der Nato-Staaten Kampfpanzer westlicher Bauart geliefert, nur modernisierte Sowjetmodelle wurden der Ukraine übergeben. Doch diese alten Waffensysteme werden zunehmend rar. Irgendwann wird die Ukraine auf andere Panzertypen umsteigen müssen. 

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