Unternehmen brauchen ein globales Monitoring und Frühwarnsysteme

Sommer 2022: Ein Dax-Konzern lädt zur Hauptversammlung, der Vorstandsvorsitzende und sein Finanzchef berichten. Die Zahlen sind überragend, das Wachstum ist vor allem aufgrund des starken Geschäfts in China gestiegen. Auch die Marge entwickelte sich deutlich besser als in den Jahren zuvor. Entsprechend gut, ja fast euphorisch ist die Stimmung im Aufsichtsrat. Es gibt überschwängliches Lob.

Dann meldet sich doch noch ein großer institutioneller Investor aus den USA zu Wort. Er hält einige Prozent am Konzern. Die Vertreterin des Fonds weist im freundlichen, aber verbindlichen Ton auf neue Investmentkriterien hin, die sich das Haus gegeben habe.

ESG, also Environment Social Governance, stehe jetzt an erster, zweiter und dritter Stelle, und außerdem achte man verstärkt auf politische Risiken. Und sie wolle dem Vorstand da mal ein paar grundsätzliche Fragen zu China stellen.

„Wie verträgt es sich mit Ihren Nachhaltigkeitsgrundsätzen, dass Sie von einer Diktatur staatliche Aufträge annehmen?“, fragt die Repräsentantin der Fondsgesellschaft. „Warum schicken Sie Mitarbeiter in ein Land, in dem ihre Gesichter an Straßenkreuzungen biometrisch erfasst werden?“, will sie wissen.

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Sie ergänzt: „Was für Angaben müssen Sie beim „Social Scoring“ machen? Wie stellen Sie sicher, dass ihre chinesischen Zulieferer keine Zwangsarbeiter oder Minderjährigen beschäftigen? Wie beschützen Sie Ihre Daten und Ihre IT in China? Und Ihr IP? Ist Ihnen klar, dass Ihr chinesisches Joint Venture in Washington mit Argusaugen betrachtet wird und Sie bald auf einer Sanktionsliste stehen könnten?“ Fragen über Fragen.

Diese Szene ist frei erfunden. Doch die Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass solche Nachfragen eher der Standard als die Ausnahme bei künftigen Hauptversammlungen sein werden.

Die harten Fragen werden von Anlegern kommen, von Kunden, Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern und Journalisten und Journalistinnen. Sie werden von Nicht-Regierungs-Institutionen (NGOs) und Politikern gestellt. Und das, obwohl klar ist, dass China für viele deutsche Unternehmen der wichtigste Markt ist, beeindruckende Wachstumszahlen vorzulegen hat und in vielen Bereichen effizient und hochmodern ist.

Doch Unternehmen agieren heute mehr als je zuvor in einem Umfeld, in dem sie sich mit ganz neuen, nicht betriebswirtschaftlichen Dynamiken auseinandersetzen und sich positionieren müssen.

Ukrainische Soldaten an der Trennlinie zu den prorussischen Rebellen

Seit Russland Truppen an der Grenze zur Ukraine zusammen gezogen hat, ist die Lage dort angespannt.

(Foto: dpa)

  • An erster Stelle steht Geopolitik: Das aktuellste Risiko ist eine mögliche militärische Aggression Russlands in der Ukraine, die immer mehr Experten für wahrscheinlich halten. Sie würde massive Wirtschaftssanktionen mit Auswirkungen auf den Energiepreis und möglicherweise das globale Finanzsystem (Stichwort Swift) nach sich ziehen. Auch die erratische Wirtschafts- und Währungspolitik des türkischen Präsidenten und das Atomprogramm im Iran bergen 2022 erhebliche Risiken. Geopolitisch mittel- und langfristig am kritischsten sind jedoch die Beziehungen zwischen den USA, China und der EU als den drei wichtigsten Märkten für die deutsche Wirtschaft.
  • Das zweite Megathema ist ESG, also der Kampf gegen den Klimawandel sowie eine größere gesellschaftliche Verantwortung von Unternehmen für Nachhaltigkeit bezüglich Umwelt, Soziales und Unternehmensführung. Klar ist: Die Transformation unserer Industriewirtschaft in Richtung „net zero“ ist Toppriorität für Wirtschaft und Regierung. Immer wichtiger wird auch das „S“ – Themen wie soziale Gerechtigkeit, faire Löhne, Diversity, Menschenrechte. Umfragen zeigen deutlich, dass Gesellschaft und Politik immer stärkere Erwartungen an den CEO haben, diese Themen auf ihrer Agenda ganz nach oben zu stellen.
  • Der dritte, genauso wichtige geopolitische Faktor ist die stetig wachsende Bedeutung und die damit verbundene Politisierung von Technologien, ein Feld, das als „Geotech“ bezeichnet wird.

Alle drei Herausforderungen sind miteinander verwoben und prägen die Komplexität der neuen Weltordnung. In China bündeln sie sich exemplarisch.

Corona bedroht Chinas Wirtschaft

In der zweitgrößten Volkswirtschaft läuft Staatschef Xi Jinping Gefahr, durch die rigide Zero-Covid-Strategie mit harten Quarantänen das öffentliche Leben zu lähmen und die Wirtschaft zu schädigen. Der Unmut in der Bevölkerung wächst. Die Lage im Südchinesischen Meer, eine der meist befahrenen Wasserrouten der Welt, spitzt sich zu, die chinesische wie die amerikanische Marine sind in Alarmbereitschaft und das Pentagon hält eine militärische Auseinandersetzung für zunehmend wahrscheinlich.

Zugleich spricht Chinas Führung offen davon, die Wiedervereinigung mit Taiwan anzustreben, während die USA ihr implizites Beistandsversprechen gegenüber Taiwan erneuert haben und die militärische Zusammenarbeit mit Japan und Australien intensivieren. Auch wenn die meisten Experten davon ausgehen, dass Xi 2022 keinen Krieg riskieren wird.

Fakt ist: Peking rüstet in bislang nicht gekannten Dimensionen auf und allein das Szenario einer Übernahme Taiwans durch China stellt ein gravierendes Risiko für die globale Halbleiterindustrie dar, die ohnehin unter starken Lieferengpässen leidet.

Gesundheitspersonal in Bejing

Am 4. Februar sollen die Olympischen Winterspiele in China starten, die Vorbereitungen dafür laufen.


(Foto: Getty Images)

Und kurz vor dem Jahreswechsel dann noch der Boykott litauischer Produkte durch Peking, weil in Vilnius eine „Taiwan-Vertretung“ aufgemacht hat – mit unmittelbarer Betroffenheit von Unternehmen, die in Litauen produzieren.

All dies sind geopolitische Faktoren, die kein global agierendes Unternehmen ignorieren kann, egal ob Großkonzern oder Mittelständler. Dazu kommt die ESG-Dimension: Die massiven Umweltprobleme im Reich der Mitte, der Ausbau der Kohleverstromung, die Unterdrückung der Demokratiebewegung in Hongkong und die Menschenrechtsverletzungen an den Uiguren, um nur einige zu nennen.

Am sichtbarsten werden die Chinarisiken jedoch im Technologiebereich, in dem das viel zitierte „Decoupling“ zwischen den USA und China (und zum Teil der EU) längst Realität ist.

Ob Cloud, Data Laws, E-Commerce, digitale Bezahlsysteme oder 5G – schon jetzt müssen Unternehmen zunehmend in multiplen Ökosystemen arbeiten und sich darauf vorbereiten, Mehrfach-IT-Strukturen zu schaffen – mit entsprechend hohen Kosten und (Cyber-)Risiken.

Big Tech ist das Duell der Zukunft

Strategisch noch entscheidender sind die Zukunftstechnologien, bei denen die deutsche beziehungsweise europäische Industrie künftig mitspielen muss, will sie ökonomisch nicht abgehängt werden: Halbleiter der nächsten Generation, Künstliche Intelligenz, Quantencomputing, Kryptotechnologie, Blockchain, Robotik, IIoT (Industrielles Internet der Dinge), Biotech.

Auf diesen Feldern wird das künftige Duell um die Vorherrschaft auf der Welt entschieden. Die amerikanische Tech- und Politik-Elite hat dies erkannt und fürchtet, von China überholt zu werden. Deshalb sind die USA dabei, ihre staatlichen Investitionen in Forschung und Entwicklung auf diesen Gebieten zu vervielfachen.

Dank der Tiefe ihres Kapitalmarktes werden zudem Billionen an privatem Kapital dort hinfließen. Handelspolitisch wiederum wird der Druck aus Washington auf europäische Regierungen und Unternehmen zunehmen, den Hightech-Technologietransfer nach China zu unterbinden und chinesische Investitionen in die EU zu blockieren.

Dahinter steht die geopolitische Priorität Nummer eins der Regierung Joe Bidens: die Sicherstellung der amerikanischen Überlegenheit gegenüber Peking. China wird laut aktuellem Fünfjahresplan und der „China 2025 Strategie“ ebenfalls massiv in Technologieindustrien investieren, vor allen in den Bereichen KI, Blockchain und 5G.

Peking will hier neue Regeln setzen und engagiert sich zunehmend in den weltweiten Regulierungsgremien, um dort seine eigenen Technologiestandards durchzusetzen. Auch die digitale Seidenstraße ist Teil dieser Strategie – China exportiert die eigene Technologie inklusive Überwachungsmodell gezielt in afrikanische und asiatische Staaten und macht auch vor Europa nicht halt.

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Für USA und China gilt: Industriepolitik ist Technologiepolitik ist Geopolitik. Und Europa? Bisher schaute die EU bei diesem Großmachtringen meist zu. Doch die meisten europäischen Länder und die EU-Kommission sind inzwischen aufgewacht, vor allem Frankreichs Präsident Emmanuel Macron spricht seit Langem von einer neuen „europäischen Souveränität“.

Die EU-Kommission hat den Digital Market Act und den Digital Service Act auf den Weg gebracht und legt Milliarden-Förderprogramme für Mikroelektronik auf. Verschiedene europäische Länder bemühen sich um die Ansiedlung großer Halbleiter-Player und das Thema ist – endlich – ebenso wie Batterie- und Energiespeichertechnologie zur Priorität geworden.

Präsident Frankreichs Emmanuel Macron

Frankreich hat die EU-Ratspräsidentschaft vom 1. Januar bis zum 30. Juni 2022 inne.

(Foto: Reuters)

Außerdem gibt es eine neue Dynamik in der Quantentechnologie und es entstehen neue Lehrstühle für Künstliche Intelligenz. Doch noch ist der Schritt vom kompetitiven Markt innerhalb Europas in die eigentliche Arena – den globalen Wettbewerb – nicht vollzogen.

Es bleibt abzuwarten, ob Macron die französische EU-Ratspräsidentschaft nutzen kann und die neue deutsche Bundesregierung die versprochenen industriepolitischen Akzente tatsächlich setzt. Man kann es der Wirtschaft nur wünschen.

Denn ohne politische Unterstützung, ohne massive öffentliche Investitionen in der EU, ohne digitalen Binnenmarkt und eine Kapitalmarktunion, die auch in Europa die notwendigen privaten Investitionen in Zukunftstechnologien freisetzen könnte, werden es bisherige Weltmarkführer künftig schwer haben. Und das Fenster zum Handeln schließt sich.

Was bedeutet diese neue geopolitische Lage nun für die Unternehmen, was können Führungskräfte tun, um in der neuen Weltordnung erfolgreich zu sein? Zunächst gilt: Es braucht ein globales Monitoring und Frühwarnsysteme, dazu regelmäßige Szenario-Planungen.

Das gilt gerade für geopolitische Technologiethemen. Sie sind von nun an Vorstandsthemen und sollten mit breitem Wissen diskutiert werden. Da Unternehmen immer stärker digitalisiert und technologisiert werden, betrifft dies alle global agierenden Firmen.

USA sanktionieren Welthandel

Auch die Diversifikation von Wertschöpfungsketten aus China kann sinnvoll sein, etwa in den Asean-Raum oder nach Australien. Das kann die Verlagerung von Werken, Forschungseinrichtungen und Datenzentren oder den Aufbau neuer Lieferketten bedeuten. Entsprechende Transaktionen und Deinvestments verursachen natürlich Kosten, können aber langfristig ein sinnvolles „hedging“ sein.

Sanktionen zu vermeiden sollte künftig ebenfalls eine strategische Priorität sein. Vor allem die USA versuchen, sensible Exporte nach China oder Russland auch aus Drittländern zu sanktionieren.

Es gilt genau zu analysieren: Welche Industrien betrachten die USA als sensitiv/strategisch gegenüber China? Welche chinesischen Investoren/Shareholder werden von den US-Finanzbehörden kritisch gesehen? Umgekehrt kann es in China sinnvoll sein, auf US-Komponenten zu verzichten. Insgesamt wird die Tendenz in Washington, amerikanische Gesetze auch außerhalb der USA anzuwenden, eher zunehmen. Neu ist hier: Nicht mehr nur die eigene Produktion ist im Blick zu halten, sondern auch die der Zulieferer und von deren Zulieferern.

Die chinesische Regierung wiederum wird auch weiterhin versuchen, an Produktionsgeheimnisse ausländischer Firmen zu kommen und auf diesem Weg Investitionen in Forschung und Entwicklung abzuschöpfen. Die Abwehr von Hackerangriffen ist deshalb auch ein neues CEO-Thema, und entsprechende Kompetenzen in Vorständen und im Aufsichtsrat sind auszubauen.

Auch in der Kommunikation sollten CEOs nachschärfen: Wer Wettbewerbsverzerrungen und Diskriminierungen ausgesetzt ist, sollte dies deutlich benennen – wie es etwa der BDI in jüngster Zeit vermehrt tut.

Fazit: Unternehmen müssen insgesamt geopolitischer denken und handeln. Sie müssen verstehen, was auf den Agenden steht in den Hauptstädten der Welt. Müssen neue Bewertungskompetenzen aufbauen und Aktionsfertigkeiten erweitern, inklusive einer stärkeren eigenen politischen Positionierung.

Und Unternehmensführung in den 2020er-Jahren heißt auch, engere Partnerschaften mit der Politik aufzubauen. Denn wenn Wirtschaft und Regierungen ihre Ideen, Erfahrungen und Netzwerke teilen, steigen die Chancen, die massiven globalen Herausforderungen zu bewältigen.

Die Autoren: Katrin Suder und Jan F. Kallmorgen sind Partner der Beratungsunternehmen Berlin Global Advisors und Macro Advisory Partners. Am vergangenen Mittwoch ist ihr Buch „Das geopolitische Risiko. Unternehmen in der neuen Weltordnung“ im Campus Verlag erschienen.

Mehr: Die geopolitische Eroberung der Wirtschaft

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