Tschernihiw und Charkiw schwer unter Beschuss

Flüchtende Familie überquert Eisenbahnlinie in Polen

Die humanitäre Situation verschlechtert sich immer weiter.

(Foto: dpa)

Düsseldorf, Frankfurt Russland hat am Sonntag seine Angriffe auf Ziele in der Ukraine intensiviert und dabei zunehmend hoch zerstörerische Waffen eingesetzt. Nach ukrainischen Angaben wurden dabei erneut Ziele beschossen, in denen sich Zivilisten aufhielten. In Charkiw wurde demnach ein mehrstöckiges Wohnhaus beschossen, in Mariupol eine Kunstschule mit vielen Zivilisten. Auch um die nordukrainische Stadt Tschernihiw gibt es nach Militärangaben aus Kiew weiter schwere Gefechte.

Die allgemeine militärische Lage

Das russische Militär hat nach Angaben des Verteidigungsministeriums in Moskau zum zweiten Mal binnen zwei Tagen die neuartige Hyperschallrakete des Typs „Kinschal“ in ihrem Krieg gegen die Ukraine eingesetzt. Zudem wurden von Schiffen im Schwarzen und im Kaspischen Meer Marschflugkörper des Typs „Kalibr“ auf die Ukraine abgefeuert. Ziele seien eine Rüstungsreparaturfabrik in Nischyn in der Region Tschernihiw im Norden der Ukraine sowie Owrutsch in der nördlichen Region Schytomyr gewesen, wo ausländische Kämpfer und ukrainische Spezialeinheiten stationiert gewesen sein sollen, hieß es von Seiten der Russen.

Die Frontlinien zwischen ukrainischen und russischen Streitkräften sind zumindest nach ukrainischen Angaben derzeit jedoch „praktisch eingefroren“. Russland verfüge nicht über genügend Kampfkraft, um weiter vorzurücken, sagt der ukrainische Präsidentenberater Oleksij Arestowytsch in einer Videoansprache. Zugleich wurden in den umkämpften Städten der Ukraine am Sonntag sieben Fluchtkorridore für Zivilisten eingerichtet.

Wie die britische „Financial Times“ mit Verweis auf hochrangige ukrainische Militärs am Sonntagmorgen berichtete, gruppiert die russische Armee sich aber derzeit um, um einen erneuten Angriff auf die ukrainische Hauptstadt Kiew zu starten. Zugleich würde Russland versuchen, den Weg in die nordukrainischen Städte Sumy und Tschernihiw abzuschneiden.

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Die Ukraine befürchtet zudem einen Angriff auf die westliche Region Wolyn von Belarus aus, wie das Präsidialamt unter Berufung auf das Militär mitteilt. Die Wahrscheinlichkeit sei hoch. Unklar bleibt, ob der Angriff durch russische Truppen von belarussischem Boden aus oder vom belarussischen Militär erfolgen könnte. Bislang konzentrierte sich der Einmarsch Russlands in die Ukraine auf den Norden, Süden und Osten des Landes.

Bei der Verteidigung des Luftraums des Landes hat die Ukraine aus Sicht des britischen Verteidigungsministeriums indes weiterhin Erfolg. Die ukrainische Luftwaffe und Luftverteidigungskräfte würden diesen „weiterhin effektiv verteidigen“, teilte das Ministerium via Twitter mit.

Russland habe es nicht geschafft, Lufthoheit zu erlangen, und verlasse sich weitgehend auf Abstandswaffen, die aus der relativen Sicherheit des russischen Luftraums abgefeuert würden, um Ziele in der Ukraine zu treffen. Die Kontrolle über den Luftraum zu erlangen, sei eines der Hauptziele Russlands in den ersten Tagen des Krieges gewesen. Der anhaltende Misserfolg dabei habe Russlands „operativen Fortschritt erheblich beeinträchtigt.“

Gleichzeitig soll die russische Armee soll im Krieg gegen die Ukraine nach Angaben aus Kiew weitere hochrangige Militärs verloren haben. Kommandeure des Fallschirmregiments aus der russischen Stadt Kostroma nordöstlich von Moskau und des Kosakenregiments aus Stawropol im Süden Russlands seien „eliminiert“ worden, teilte die ukrainische Armee am Sonntag mit. Darunter wird in der Regel verstanden, dass jemand getötet wurde. Der Kommandeur der 346. Brigade der Sondereinsatzkräfte sei zudem verletzt worden.

Auch der stellvertretende Kommandeur der russischen Schwarzmeer-Flotte, Andrei Palij, soll nach Angaben des Gouverneurs von Sewastopol, Michail Raswoschajew, bei Kämpfen in Mariupol getötet worden sein. Diese Angaben ließen sich nicht überprüfen. Von russischer Seite lagen dazu keine Informationen vor.

Die Situation in den umkämpften Regionen

Die russische Armee ist bei ihrem Angriffskrieg gegen die Ukraine nach eigenen Angaben im Osten der Ukraine um zwölf Kilometer vorgerückt. Die Grenze der Siedlung Nikolske nordwestlich der Stadt Mariupol sei erreicht worden, erklärte der Sprecher des russischen Verteidigungsministeriums, Igor Konaschenkow, am Sonntag der Agentur Interfax zufolge. Von ukrainischer Seite gab es dazu keine Angaben. Der ukrainische Generalstab schrieb auf Facebook jedoch von russischen Mobilisierungsmaßnahmen in den von Russland eingenommenen Gebieten der Regionen Luhansk und Donezk.

Die selbst ernannten Volksrepubliken Luhansk und Donezk werden seit 2014 von Russland unterstützt und ausgerüstet. Das von ihnen kontrollierte Territorium umfasste vor dem russischen Angriff vom 24. Februar nur einen Teil der ukrainischen Verwaltungsgebiete Luhansk und Donezk. Die Separatisten beanspruchen diese größeren Gebiete – deren Eroberung ist eines der Kriegsziele Moskaus.

In der südukrainischen Hafenstadt Mariupol ist die Lage besonders dramatisch. In der 400.000-Einwohner-Stadt soll das russische Militär eine Kunstschule bombardiert haben, in der etwa 400 Menschen Schutz suchten, darunter Frauen, Kinder und Ältere. Das teilten die lokalen Behörden in Mariupol am Sonntag im Nachrichtenkanal Telegram mit.

Das Gebäude sei bei dem Angriff am Samstag zerstört worden. „Menschen liegen noch immer unter den Trümmern.“ Es wurden zunächst keine Angaben zu Opfern gemacht. Der Stadtrat machte russische Truppen dafür verantwortlich. Das ließ sich aber nicht von unabhängiger Seite überprüfen.

Lage in Mariupol weiter dramatisch

Zuvor war in Mariupol auch ein Theater angegriffen worden, in dem Menschen Schutz vor Luftangriffen gesucht hatten. Es wurden zwar Verschüttete gerettet. Seit Tagen ist aber unklar, wie viele Tote und Verletzte es bei diesem Vorfall gab. Inzwischen sind rund 40.000 Menschen sind binnen einer Woche vor den Kämpfen aus Mariupol geflüchtet. Das erklärte der Stadtrat.

Die strategisch wichtige Hafenstadt ist von russischen Truppen eingekreist und seit drei Wochen einem unerbittlichen russischen Bombardement ausgesetzt. Die Stadt ist von der Energie-, Nahrungsmittel- und Wasserversorgung abgeschnitten.

Bombardiertes Theater in Mariupol


(Foto: Azov Handout via REUTERS)

Mindestens 2300 Menschen wurden nach Angaben der lokalen Behörden getötet, einige von ihnen mussten in Massengräbern bestattet werden. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenski hatte in seiner nächtlichen Videoansprache an die Nation gesagt, die Belagerung Mariupols werde wegen Kriegsverbrechen der russischen Truppen in die Geschichte eingehen.

Die von russischen Truppen belagerte Stadt Charkiw, in der vor Kriegsbeginn 1,5 Millionen Menschen lebten, wird weiterhin mit Artillerie beschossen, berichtete die ukrainische Agentur Unian. Dabei seien am Samstagabend mehrere Wohnhäuser getroffen worden und in Brand geraten. Die Angaben ließen sich nicht unabhängig überprüfen.

Charkiw

Seit Beginn der Kämpfe in der Stadt sollen Hunderte Zivilisten getötet worden sein.

(Foto: dpa)

Barabaschowo-Markt von Charkiw

Auch in Tschernihiw toben die schweren Kämpfe weiter. „Tschernihiw wird verteidigt“, teilte die ukrainische Armee am Sonntag mit. Die Stadt nahe der Grenze zu Belarus werde beschossen. Es gebe keinen Strom und keine Heizung mehr. Viele Einwohner seien ohne Gas.

Dagegen sei die Nacht rund um die Hauptstadt Kiew vergleichsweise ruhig verlaufen. Der „Feind“ errichte Befestigungsanlagen. Es habe aber Kämpfe um den Ort Butscha nordwestlich von Kiew gegeben, ebenso um Hostomel und Worsel. Seit mehr als einer Woche dauert dem Militär zufolge auch der Beschuss auf Vororte der Stadt Sumy im Nordosten der Ukraine an. Alle Angaben ließen sich nicht unabhängig überprüfen.

Die humanitäre Situation

Durch den Krieg in der Ukraine sind nach Angaben des UN-Flüchtlingshilfswerk (UNHCR) bereits zehn Millionen Menschen vertrieben worden. Das berichtete Filippo Grandi, Chef des UN-Flüchtlingshilfswerks (UNHCR), am Sonntag auf dem Kurznachrichtendienst Twitter. Das entspricht praktisch einem Viertel der ukrainischen Bevölkerung.

Rund 3,4 Millionen sind nach UNHCR-Angaben über die Grenzen in die Nachbarstaaten geflüchtet, die anderen sind im eigenen Land vor den Angriffen aus ihren Häusern und Wohnungen geflohen. „Diejenigen die Krieg führen, egal wo auf der ganzen Welt, sind für das Leid verantwortlich, das sie der Zivilbevölkerung zufügen, die zur Flucht gezwungen wird“, twitterte Grandi.

In den umkämpften Städten der Ukraine sind am Sonntag sieben Fluchtkorridore für Zivilisten eingerichtet worden. Über die Wege sollten auch Hilfsgüter in die Städte gebracht werden, teilte die ukrainische Vize-Regierungschefin Irina Wereschtschuk in Kiew mit.

Angelegt seien die Korridore in den Gebieten um die Hauptstadt Kiew und Charkiw sowie aus der besonders schwer von Kämpfen betroffenen Hafenstadt Mariupol in Richtung der Stadt Saporischschja.

Für die Menschen stünden Busse bereit, sagte Wereschtschuk. Verlassen werden könne Mariupol auch mit dem Auto. Organisiert werden sollten zudem Transportmöglichkeiten für Menschen, die sich bereits zu Fuß auf den Weg gemacht hätten. Die Fluchtrouten und Wege für die Hilfslieferungen werden für jeden Tag neu angekündigt.

Besonders dramatisch ist die Situation neben Mariupol auch in Tschernihiw. „Der wahllose Artilleriebeschuss der Wohngebiete dauert an, dabei sterben friedliche Menschen“, sagte Bürgermeister Wladislaw Atraschenko nach Angaben der ukrainischen Agentur Unian. Die Stadt erlebe gerade eine humanitäre Katastrophe. „Die Infrastruktur der Stadt ist vollständig zerstört.“

Tschernihiw

Ein Staellitenbild von Maxar Technologies vom 18. März zeigt starke Schäden an Wohngebäuden.


(Foto: AP)

Das Krankenhaus der 300.000-Einwohner-Stadt werde wiederholt beschossen, daher sei auch die medizinische Versorgung zusammengebrochen. Zudem sei bisher kein Fluchtkorridor für die Stadt eingerichtet worden.

Nach einem Raketenangriff russischer Truppen auf eine Kaserne in Mykolajiw im Süden der Ukraine am Freitag haben Helfer am Samstag mindestens 50 Tote aus den Trümmern geborgen. Insgesamt hatten rund 200 Soldaten in dem Gebäude geschlafen, als die Raketen einschlugen, wie die Online-Zeitung „Ukrajinska Prawda“ am Samstag berichtete. Knapp 60 Verletzte wurden in umliegende Krankenhäuser gebracht. Die Angaben über die Opferzahlen ließen sich nicht unabhängig überprüfen.

Lwiw (Lemberg)

Menschen in der westukrainischen Stadt versammeln sich während eines Luftangriffs in einem Keller, der als Luftschutzbunker dient.

(Foto: dpa)

Der Stand der Verhandlungen zwischen Ukraine und Russland

Die Ukraine und Russland nähern sich der Türkei zufolge bei kritischen Punkten an. Bei einigen Themen gebe es fast eine Einigung, sagte der türkische Außenminister Mevlüt Cavusoglu der Tageszeitung „Hürriyet“. Er hoffe auf eine Waffenruhe, sofern es bei den Gesprächen zwischen den beiden Ländern keinen Rückschritt gebe und die erzielten Fortschritte damit zunichtegemacht würden.

Auch der ukrainische Präsident Selenski äußerte sich über die laufenden Verhandlungen mit Russland. Sie seien „nicht einfach oder angenehm, aber sie sind notwendig“, sagte er. Selenski erklärte, er habe den Verlauf der Gespräche am Samstag mit dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron diskutiert. „Die Ukraine hat immer nach einer friedlichen Lösung gesucht. Überdies sind wir jetzt an Frieden interessiert“, sagte er.

Videobotschaft von Wolodimir Selenski

„Ich möchte von den Bürgern Russlands wissen: Was hat man mit Ihnen in diesen Jahren getan, dass Sie Ihre Verluste nicht bemerkt haben?“

(Foto: dpa)

Mit martialischen Worten über schwere russische Kriegsverluste richtete er sich zudem an die Bevölkerung Russland. An einigen Orten berge das russische Militär die Leichen seiner Soldaten nicht. „An Orten, an denen es besonders heftige Kämpfe gab, stapeln sich die Leichen von russischen Soldaten schlicht entlang unserer Verteidigungslinie. Und niemand sammelt diese Leichen, diese Körper ein“, fuhr er fort. „Und über sie jagen sie neue Einheiten hinweg, irgendwelche Reserven, die die russischen Befehlshaber irgendwo sammeln.“
Selenski beschrieb eine Schlacht nahe Tschornobajiwka im Süden, bei der die ukrainischen Streitkräfte ihre Positionen gehalten und die Russen sechs Mal zurückgeschlagen hätten. Dies hätten ihre Leute einfach weiter „zum Abschlachten“ geschickt.

Er könne verstehen, dass Russland über schier endlose Reserven an Soldaten und Militärgerät verfüge. „Aber ich möchte von den Bürgern Russlands wissen: Was hat man mit Ihnen in diesen Jahren getan, dass Sie Ihre Verluste nicht bemerkt haben?“. Schon jetzt seien mehr als 14.000 russische Soldaten getötet worden. „Das sind 14.000 Mütter, 14.000 Väter, Ehefrauen, Kinder, Verwandte, Freunde – und Ihnen fällt das nicht auf?“

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Die ukrainische Darstellung zu den getöteten russischen Soldaten lässt sich nicht unabhängig überprüfen – ebenso wenig wie jene zu den eigenen militärischen Verlusten, die die Staatsführung vor rund einer Woche auf etwa 1300 Soldaten bezifferte. Die russische Seite hat bislang offiziell nur knapp 500 eigene Gefallene bestätigt.

Bahnverbindungen zwischen Ukraine und Belarus wohl unterbrochen

Belarussische Bahnarbeiter haben offenkundig alle Schienenverbindungen zwischen Belarus und der Ukraine unterbrochen. Der Vorsitzende der ukrainischen Eisenbahnen, Olexander Kamyschin, dankte am Samstag den Kollegen in Belarus für die nicht näher beschriebene Aktion.

„Mit dem heutigen Tag kann ich sagen, dass es keinen Bahnverkehr zwischen Belarus und der Ukraine gibt“, wurde er von der ukrainischen Agentur Unian zitiert. Dies würde bedeuten, dass die russischen Truppen in der Ukraine über diese Strecken weder Verstärkungen noch Nachschub erhalten.

Auch ein Berater der belarussischen Oppositions-Ikone Swetlana Tichanowskaja hatte auf Twitter von der angeblichen Aktion berichtet. „Helden! Belarussische Bahnarbeiter haben die Bahnverbindung mit der Ukraine unterbrochen, so dass Züge mit russischer Ausrüstung nicht in die Ukraine fahren können“, schrieb Franak Viatschorka.

Die angebliche Aktion konnte aus unabhängigen Quellen nicht bestätigt werden. Obwohl russische Truppen aus Belarus in die Ukraine eingefallen sind, hat der autoritäre belarussische Präsident Alexander Lukaschenko, der als Protegé des Kremlchefs Wladimir Putin gilt, bisher eine Beteiligung seiner Truppen am Krieg im Nachbarland abgelehnt.

Mit Agenturmaterial

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