Tim Cook will Apple in die Post-iPhone-Ära führen

San Francisco „Es ist besser, ein Pirat zu sein, als der Marine beizutreten“, sagte Apple-Mitgründer Steve Jobs einmal. So gesehen passt Tim Cook gar nicht zu dem Konzern. Anders als Jobs – und viele andere CEOs im Silicon Valley – brach Cook sein Studium nicht ab, um die Welt mit einem Start-up zu revolutionieren. Er ist vielmehr das Gegenteil: Aus einer Baptistenfamilie in den Südstaaten stammend, diente Cook sich in der Computerindustrie hoch. Er wurde als Sparfuchs legendär, nicht als genialer Erfinder.

Als der krebskranke Jobs ausgerechnet Cook 2011 zu seinem Nachfolger als CEO berief, war das für viele Apple-Fans ein Schock – so, als übergebe man das Piratenschiff an einen Marineadmiral.

Doch rückblickend war es Jobs’ letzter Geniestreich. Tim Cook hat aus Apple den erfolgreichsten Konzern der Gegenwart gemacht, getrieben durch den Erfolg des iPhones, des meistverkauften Elektronikgeräts aller Zeiten. Dank ihm wurde Apple die erste Firma, die zuerst eine Milliarde Dollar an Börsenwert erreichte, dann zwei Milliarden, vergangenen Sommer schließlich drei Milliarden Dollar. Nie hat ein CEO mehr Wert für Aktionäre geschaffen.

Apple braucht dringend „the next big thing“

Doch Apple und Cook stehen vor einem Dilemma: Das iPhone ist die einsame Zugmaschine des Konzerns, es macht mehr als 50 Prozent des Umsatzes aus – doch wie lange noch? Das Produkt ist inzwischen 15 Jahre alt, früher oder später wird die Lokomotive langsamer werden.

Apple muss nun einen Nachfolger aufbauen, ein „next big thing“ – die nächste Computing-Plattform, mit der es die Welt revolutionieren kann wie einst mit dem Apple II, dem Macintosh, dem iPod und dem iPhone.

Ein neues „Mixed-Reality-Headset“ soll den Konzern nun fast 50 Jahre nach dessen Gründung in eine neue Ära hieven. Cook dürfte es, da sind sich Beobachter einig, am Montag bei der Entwicklerkonferenz in Cupertino der Welt präsentieren.

Steve Jobs bei der Präsentation des iPhone 2007

Noch immer lebt der Konzern von den Ideen des verstorbenen Chefs.

(Foto: imago images/ZUMA Press)

Nicht nur für Apple, auch für ihn persönlich steht viel auf dem Spiel: Es könnte die letzte Chance des 62-Jährigen sein, erstmals ein Produkt zu lancieren, das ganz unter seiner Federführung entwickelt wurde – und nicht wie Apples bisherige Verkaufsschlager den Geist von Steve Jobs in sich tragen. Genau das werfen ihm Kritiker bis heute vor.

Doch ob das Headset der geniale nächste Schachzug des Konzerns wird oder der teuerste Flop der Firmengeschichte – dazu gehen die Meinungen stark auseinander. Der Erfolg oder Misserfolg des „Reality-Headsets“ dürfte nicht nur über Apples Zukunft entscheiden, sondern auch Cooks Vermächtnis besiegeln.

Effizienz und Sparsamkeit liegen Tim Cook im Blut

Der Manager hat in seinem Leben schon oft bewiesen, dass er für Überraschungen gut ist. Timothy Donald Cook wuchs in den 1960er-Jahren in einer Kleinstadt an der Golfküste von Alabama auf; sein Vater arbeitete in einer Schiffswerft und seine Mutter in einer Apotheke. Er merkte bald, dass er anders war als andere Jungs in seinem Alter, doch Homosexualität war ein Tabuthema in einer Baptistenfamilie in den Südstaaten.

Cook, der mittlere von drei Söhnen, sei schüchtern gewesen, schreibt der „New York Times“-Journalist Tripp Mickle in seinem Buch „After Steve“ – und gleichzeitig strebsam und clever. Er studierte Ingenieurwissenschaften in seinem Heimatstaat und fing beim Computerhersteller IBM an, der ihm später sein Wirtschaftsstudium bezahlte. Effizienz und Sparsamkeit lagen ihm im Blut, er wurde zu einem Experten für Betriebsprozesse.

Bald eilte ihm der Ruf als Genie für Lieferkettenoptimierung voraus, und so lud Steve Jobs ihn 1997 zu einem Gespräch nach Cupertino ein. Jobs war kurz zuvor zum Konzern zurückgekehrt, nach diversen Produktflops war Apple nur noch ein Schatten seiner selbst. Manche Experten rieten, man solle den Mac-Hersteller am besten auflösen. Cook hingegen hatte damals zackig die Karriereleiter bei Compaq erklommen und war mit Ende 30 bereits Topmanager.

Dem charismatischen Jobs gelang es, Cook an Bord des Piratenschiffs zu holen. Tatsächlich revolutionierte dieser auch bei Apple in kürzester Zeit die Lieferkette: Er reduzierte die Lagerzeiten für Produktteile von 30 Tagen auf zwei und sparte so viel Geld – Geld, das der Konzern in Forschung und Entwicklung stecken konnte.

Insbesondere in Asien spürte Cook für Apple als einer der Ersten günstige Zulieferer auf. Innerhalb der Firma wurde Cook berüchtigt für seine Detailversessenheit und seine bohrenden Fragen. Legendär sind Geschichten darüber, wie er die kompletten Thanksgiving- und Weihnachtsfeiertage in der Fabrik eines Zulieferers in China verbrachte.

Cooks Arbeit war weniger sexy als die Entwicklung des iPods und des iPhones, an denen Jobs und der Chefdesigner Jony Ive tüftelten. Doch sie bildete die Grundlage für die aufwendige, globale Lieferkette, die es Apple Jahre später erlauben sollte, 200 Millionen iPhones jährlich zu produzieren.

Von Jobs zum CEO ernannt, machte Cook die Beziehungen mit China zur Chefsache. Unter seiner Führung wurden die Bande zwischen Cupertino und der „iPhone-City“ Zhengzhou so eng, dass Apple vor der Pandemie auf der Strecke San Francisco-Shanghai bei United Airlines täglich 50 Sitze in der Businessclass reserviert hatte. Cook erkannte nicht nur Chinas Potenzial für die Produktion des iPhones, sondern auch jenes für dessen Absatz.

Tim Cook im März in Peking

China ist für den Apple-CEO Chefsache.

(Foto: Kyodo News/Getty Images)

Geschickt umgarnte er die Regierung in Peking mit persönlichen Besuchen und ließ dabei einfließen, dass seine Schwägerin Chinesin sei und ihm das Land deswegen besonders am Herzen liege. Tatsächlich errang er für Apple die Erlaubnis für eine Partnerschaft mit China Mobile, dem weltgrößten Mobilfunkanbieter – und verwandelte das iPhone endgültig in die Lokomotive des Konzerns.

Kritiker bemängeln heute, dass Apple zu abhängig von China geworden sei; tatsächlich baut Cook neuerdings weitere Logistikstandbeine in Indien und Vietnam auf. Andere werfen ihm vor, dass er dem Chinageschäft zuliebe viele Zugeständnisse an das Regime von Xi Jinping mache – etwa, als Apple in China die Airdrop-Funktion ausstellte, die bei Oppositionellen beliebt war.

Cooks Coming-out sollte Apple nicht schaden

Cook macht keinen Hehl daraus, dass er seit 25 Jahren ganz für Apple existiert. Er ist bekannt als Naturfreund, der Rad fährt, wandert und jeden Morgen vor 5 Uhr mit einem Personal Trainer Sport macht. Danach liest er „mit religiösem Eifer“, wie er sagt, Nachrichten von Kunden; seine E-Mail-Adresse ist für jedermann einfach im Internet zu finden.

Auch als Cook schon Topmanager bei Apple war, fuhr er noch einen Honda Accord, sozusagen den Golf Amerikas, und wohnte in einer Zweizimmerwohnung. Heute lebt er nur wenige Autominuten vom riesigen Firmencampus entfernt in Palo Alto, dem Vernehmen nach alleinstehend.

2014 gewährte Cook einen seltenen Blick in sein Privatleben, als er sich als erster CEO eines Fortune-500-Konzerns als schwul outete. Angesichts zahlreicher Diskriminierungen gegen Homosexuelle in konservativen Bundesstaaten wollte er jungen Menschen mit diesem Schritt Mut machen. Doch selbst bei dieser sehr privaten Entscheidung beriet er sich lange mit Experten, damit sein Coming-out ja nicht dem Konzern schaden würde.

Dieses Jahr verzichtet er freiwillig auf 40 Prozent seines Gehalts, weil es „das Richtige zu sein schien“, wie er dem Männermagazin „GQ“ erzählte: „Ich wollte mit gutem Beispiel vorangehen in Anbetracht des Umfelds, in dem sich die Welt zurzeit befindet.“ Allerdings umfasst auch das abgespeckte Gehalt noch stolze 49 Millionen Dollar. Und nicht nur Apples Aktionäre, sondern auch sich selbst hat Cook reich gemacht: „Forbes“ schätzt sein Vermögen auf 1,8 Milliarden Dollar.

Apples Dienstleistungssparte aus dem Boden gestampft

Cook hat bei Apple auch bewiesen, dass er mehr kann als Prozesse optimieren und sparen. Die relativ neue und überaus erfolgreiche Dienstleistungssparte war seine Idee: Fitness-, Film-, Musik-, Videodienste und Finanzleistungen umfasst das Ökosystem von Apples Services inzwischen. Rund ein Fünftel des Umsatzes von fast 400 Milliarden Dollar generierte der Konzern 2022 mit diesen Diensten.

>> Lesen Sie auch: Mehr als eine Billion Dollar Umsatz: Apples App Store erreicht neue Dimension

Cooks Geniestreich bestand darin auszunutzen, dass inzwischen mehr als zwei Milliarden Apple-Geräte im Umlauf sind – eine großartige Basis für das neu geschaffene Angebot.

Die Finanz-, Fernseh- und Fitnessdienste waren Neuland für Apple – doch das Risiko, das Cook damit einging, war überschaubar im Vergleich zu dem, was er nun vorhat.

Mit dem „Reality-Headset“ wagt sich Apple in eine Produktkategorie vor, die noch im embryonalen Stadium steckt. Gerade einmal acht Millionen Geräte verkauften sich vergangenes Jahr, wie die Marktforschungsfirma IDC schätzt.

Noch besorgniserregender: Wer eines besitzt, lässt es schnell im Schrank verschwinden. Zu wenige sinnvolle Anwendungen gibt es bis jetzt. Auch kann Virtual Reality buchstäblich noch schwindelerregend sein: Vor dem Auge bewegt sich etwas, doch der Körper steht still – wie bei einer Reisekrankheit kann das zu Übelkeit und Kopfschmerzen führen.

Der iPod, das iPhone und auch die Apple Watch hatten bereits einen etablierten Nutzermarkt, in den Apple mit seinen Varianten vorstieß. Die Schlüsselfrage, die Apple anders als bei früheren Eintritten in neue Märkte beantworten muss, lautet nun: Was sollen Nutzer mit dem neuen Gerät überhaupt anfangen?

VR-Brillen sind noch kein Verkaufsschlager

Apples Konkurrenten suchen seit Jahren vergebens nach einer Antwort. Schon 2014 stellte Google seine virtuelle Brille Glass vor, für 1500 Dollar konnten Nutzer mit Sprachbefehlen und Touchpad im Internet surfen. Doch der Konzern schaffte es nicht, den Konsumenten zu erklären, warum sie plötzlich wie eine Star-Trek-Figur aussehend durch die Welt laufen sollten. Nicht einmal ein Jahr später nahm Google die Brille vom Markt, der Spott hängt dem Konzern bis heute an.

Führend im Segment der Virtual-Reality-Brillen ist heute ausgerechnet Mark Zuckerberg, Cooks Lieblingsfeind, mit seinem Konzern Meta; sein Marktanteil beträgt stolze 80 Prozent. Doch selbst Meta hat bis heute nicht einmal 20 Millionen Headsets verkauft. Dabei kostet die Brille nur einen Bruchteil der stolzen 3000 Dollar, die Apple angeblich für sein Headset verlangen will.

>> Lesen Sie auch: Meta kommt Apple mit Ankündigung einer neuen Datenbrille zuvor

Auch der Tech-Riese Microsoft hat die Investitionen in seine „Hololens“ zurückgeschraubt, zu gering war die Kundenresonanz.

Apple wird viel Erklärungsarbeit leisten müssen, angefangen beim Produkt selbst: Ein Mixed-Reality-Headset ist eine Brille, die entweder die reale Umgebung um digitale Informationen anreichert („augmented reality“) oder den Nutzer per Knopfdruck in eine rein künstliche Welt („virtual reality“) eintauchen lässt.

Laut der Nachrichtenagentur Bloomberg, die in Sachen Apple erfahrungsgemäß bestens informiert ist, wird Apples Gerät wie eine Skibrille aussehen, per Kabel wird sie mit einem externen Akku verbunden. Nach außen gerichtete Kameras fangen die Umgebung ein, nach innen gewendete erfassen die Bewegungen der Pupillen.

VR-Brille von Meta

Selbst der Marktführer hat bis heute nicht einmal 20 Millionen Headsets verkauft.

(Foto: IMAGO/ZUMA Wire)

Ein vielversprechender Anwendungsbereich könnten Fitnessübungen sein; Studien zeigen, dass Nutzer in der virtuellen Welt die Zeit vergessen und länger Sport treiben. Auch bei der Apple Watch entpuppten sich Fitnessanwendungen als überzeugendstes Verkaufsargument. Zudem soll Apple angeblich eine Virtual-Reality-Version der Videotelefonie Facetime entwickelt haben.

Auf der Suche nach Antworten, wie man die Brille für die Nutzer attraktiv machen kann, wird Apple auch auf seine riesige Gemeinde von Entwicklern setzen können: Bemerkenswerte 34 Millionen „Developer“ weltweit tüfteln heute an Programmen für Apples Produkte. Diese Community trug auch maßgeblich zum Erfolg des iPhones und der Apple Watch bei. Einen ausgewählten Kreis hat Apple nächste Woche nach Cupertino eingeladen, um den Entwicklern unter anderem das neue Betriebssystem xR des Headsets vorzustellen.

Im Silicon Valley reden alle von Künstlicher Intelligenz – und nicht von virtuellen Welten

Doch einige Experten bleiben skeptisch. Michael Gartenberg, der früher als Marketingmanager bei Apple arbeitete und heute selbstständiger Berater ist, warnt davor, dass das Headset „einer der bedeutendsten Technologieflops aller Zeiten“ werden könnte.

Offenbar gibt es auch große Zweifel innerhalb der Belegschaft, ob das Gerät schon reif für den Markt sei – und der Markt reif für das Gerät. Einige Manager hatten dazu gedrängt, mit der Lancierung des Produkts zuzuwarten – zumal im Silicon Valley gerade alle von Künstlicher Intelligenz reden und niemand mehr vom „Metaversum“ und von anderen virtuellen Welten. Die Marktforschungsfirma Forrester erklärte das Jahr 2023 gar zum „Metaversum-Winter“.

>> Lesen Sie auch: Hype oder Billionenchance? So tastet sich die Finanzwelt in das Metaverse vor

Doch falls Apple nun nicht in den Virtual-Reality-Markt einsteige, sagte Gene Munster von Deepwater Asset Management dem „Wall Street Journal“, würden Google, Meta und Samsung Möglichkeiten finden, den Markt an sich zu reißen.

Bei Apple macht man sich offenbar keine Illusionen darüber, wie schnell das neue Headset das iPhone als Zugmaschine ablösen könnte. Offenbar rechnet man für das erste Jahr mit nur wenigen Hunderttausend Verkäufen. Laut Medienberichten tüftelt Apple aber bereits an einer zweiten, günstigeren Variante des neuen Headsets, die längerfristig den Massenmarkt erschließen soll.

Wie schon bei den Dienstleistungen könnte auch diesmal die riesige Basis von zwei Milliarden im Umlauf befindlichen Geräten helfen. Apple habe die Möglichkeit, ein neues Produkt in sein bestehendes, florierendes Ökosystem zu betten, sagt der Analyst Munster, „und damit hat es die Fähigkeit, einen Markt neu zu schaffen“.

Warteschlangen im New Yorker Apple Store im September 2022

Offen ist, welchen Anklang ein neues Produkt bei der großen Fangemeinde findet.

(Foto: Reuters)

Wie die Firma diese Marktmacht geschickt nutzt, zeigte sie etwa bei den Airpods, den kabellosen Kopfhörern: Kurz nach deren Lancierung entfernte Apple den Audioausgang an den iPhones – und schuf so einen Anreiz, die neuen Bluetooth-Kopfhörer auszuprobieren. „Die Vergangenheit hat gezeigt, dass der Markt oft unterschätzt, welchen Einfluss neue Apple-Produkte auf ein Produktsegment haben können“, schrieben jüngst auch Analysten von Morgan Stanley.

Cook steht zudem unter Zugzwang: Apple tüftelt seit sieben Jahren an dem Headset, doppelt so lange wie einst am iPhone, inzwischen mit angeblich 2000 Mitarbeitern. Jährlich verschlinge das Projekt eine Milliarde Dollar an Kosten, schreibt Bloomberg.

Der letzte Trumpf in Cooks Ärmel könnte sein, dass Apples Kunden enorm loyal sind und nach jeglichem neuem Produkt aus Cupertino geradezu lechzen. Ob auch diesmal begeisterte Kunden vor den Apple-Läden Schlange stehen werden, um als Erste das „next big thing“ zu ergattern, wird sich im Herbst zeigen. Dann sollen die Headsets wohl ausgeliefert werden.

Mehr: Apple schließt Milliardendeal zur Chip-Produktion in den USA

source site-13