Salvador Als der brasilianische Präsident Luiz Inácio Lula da Silva Anfang August in das Amazonasstädtchen Parintins reiste, stand am Flughafen ein gepanzertes Auto für ihn bereit. Der ehemalige Arbeiterführer, der sonst immer seine Anhänger per Handschlag begrüßt, musste kilometerlang an wartenden Menschen vorbeifahren. „Ich kann niemanden sehen und niemand kann mich sehen“, empörte er sich und versprach: „Es wird nicht wieder vorkommen.“
Doch das Versprechen wird Lula kaum halten können. Denn die bis vor Kurzem noch weitgehend friedliche Amazonasregion im Zentrum Südamerikas ist zu einer der gefährlichsten Weltgegenden geworden. Wäre der Amazonas ein Land, dann hätte es die weltweit vierthöchste Mordrate.
Die Drogenmafias Südamerikas nutzen die Flüsse des dünn besiedelten Regenwaldes, um Kokain zu den Atlantikhäfen Südamerikas zu bringen – von wo aus es nach Europa geschmuggelt wird.
Mit dem Drogengeld investieren die Narco-Mafias auch in andere Branchen. Sie statten illegale Goldsucher mit Dieselgeneratoren, Quecksilber und Flößen aus. Sie rüsten Fischer mit Booten und Außenbordmotoren aus. Und sie finanzieren Holzunternehmen, die illegal den Regenwald abholzen. Ein Teil der Gewinne wird in der legalen Wirtschaft investiert, um das Geld zu waschen.
Journalisten, Priester, Umweltschützerinnen leben dort gefährlich. Auch Politiker stehen immer öfter auf den Abschusslisten der Drogenmafias.
In Kolumbien, Peru und Bolivien wird so viel Kokain produziert wie noch nie. Laut dem „Online World Drug Report 2023“ der Uno ist die Kokainproduktion in Südamerika seit 2015 auf das Zweieinhalbfache gestiegen.
Ein Teil wird über Zentralamerika und Mexiko in die USA geschleust – wie seit Jahrzehnten. Ein anderer, wachsender Teil geht jetzt nach Europa wegen dessen hoher Kaufkraft. „Europa ist wichtiger geworden als die USA für die Drogen-Organisationen“, sagt Europol-Chefin Catherine De Bolle in einem Interview mit Politico.
Der UN-Drogenreport bestätigt das: In Europas Abwässern werden so viele Kokainrückstände nachgewiesen wie sonst nirgendwo auf der Welt. Seit 2019 wird in Europa mehr Kokain beschlagnahmt als in den USA. De Bolle sagt, dass das erst der Anfang ist: „In den nächsten zwei Jahren werden die Drogenexporte in Richtung Europas noch weiter zunehmen.“
Mafias machen sich auch in Europa breit
Das ist riskant für Europas innere Sicherheit: Rund um die Häfen in Antwerpen und Rotterdam haben sich professionelle Strukturen etabliert, die die Drogen entgegennehmen und über Europa verteilen. Drogenbanden liefern sich Schießereien. In Belgien starb in diesem Jahr ein elfjähriges Mädchen, in den Niederlanden wurde 2021 der Journalist Peter de Vries erschossen. Die Behörden kriegen die Situation nicht unter Kontrolle.
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In Südamerika zeigt sich, wie schnell auch vermeintlich stabile Länder unter dem Druck der Drogenmafias in kurzer Zeit zu kollabieren drohen. So wurde in Ecuador mit Fernando Villavicencio einer der aussichtsreichsten Kandidaten bei den Präsidentschaftswahlen erschossen. Der 59-jährige Journalist war ein scharfer Kritiker der Korruption und des wachsenden Einflusses der Drogenkartelle in Ecuador. Er wurde im Wahlkampf von privaten Bodyguards schwer bewacht – gerettet hat es ihn nicht.
Die Killer kamen vermutlich aus Kolumbien. Die dortigen Drogenkartelle, wie auch die mexikanischen Konkurrenten und selbst die albanische Mafia haben in Ecuador seit Kurzem Fuß gefasst. Die Industriestadt Guayaquil am Pazifik ist zum wichtigsten Ausfuhrhafen für Kokain nach Europa geworden – das belegen Drogenfunde in Rotterdam, Antwerpen und Hamburg.
Dabei wird in Ecuador kaum Koca angebaut. Die Kartelle nutzen das Land lediglich als Logistikdrehscheibe. Nun erlebt das bis vor Kurzem als vergleichsweise sicher geltende Ecuador eine Gewaltexplosion. Erst kürzlich wurde der Bürgermeister der Hafenstadt Manta erschossen. Die Stadt ist mit ihren glitzernden Fassaden offensichtlich zum Geldwäscheparadies der Drogenbanden geworden.
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Familienunternehmer im ganzen Land klagen, dass sie plötzlich Schutzgelder bezahlen müssen. Kurzentführungen sind an der Tagesordnung. In Guayaquil hängen rivalisierende Drogenbanden ihre Toten an Brücken auf, um ihre Macht zu demonstrieren. Das kannte man bisher nur aus Mexiko.
Schwache Institutionen, korrupte Behörden, schlecht vorbereitete Sicherheitskräfte und große Überseehäfen – diese Kombination hat Ecuador, einer der größten Bananen- und Shrimpsexporteure weltweit, in kurzer Zeit zu einem Tummelfeld für organisierte Drogenbanden gemacht.
Ähnliche günstige Bedingungen existieren in fast allen Staaten Südamerikas. Das argentinische Rosário liegt 300 Kilometer den Río Paraná flussaufwärts von Buenos Aires entfernt. Eigentlich ist dort der wichtigste Getreidehafen Argentiniens. Doch über die Flüsse aus dem Inneren Südamerikas transportieren Drogenclans Kokain in die Stadt und verschiffen es von dort nach Europa. Rosário ist eines der wichtigsten Tore für Kokainexporte nach Europa geworden.
Die Behörden haben schon länger keine Kontrolle mehr über die Drogengewalt. Kürzlich beschossen Kriminelle den Supermarkt von Verwandten Leonel Messis. Es sei eine Warnung gewesen, hieß es. Weil die Eigentümer kein Schutzgeld zahlen wollten? Der Fußballstar stammt aus Rosário und wollte eigentlich dort nach dem Ende seiner Karriere wieder leben.
Die Justiz ist schon durchsetzt
Die Drogenbanden nutzen das institutionelle Vakuum, welches in Südamerika überall dort entsteht, wo es zu sozialen Unruhen kommt – also in fast jedem Land der Region: Im dünn besiedelten Südchile liegt der Staat mit den Mapuche-Indigenen im Streit, die das Land für sich beanspruchen. Kriminelle Gruppen nutzen dort die zahlreichen, gut ausgebauten Häfen für ihre Drogenexporte.
Wenn der Staat keine Sicherheit garantiert, dann sorgen die Drogenbanden auf ihre Weise für Ordnung: In der Peripherie der Wirtschaftsmetropole São Paulo herrschte einst die Gewalt. Nun hat die größte Drogenbande Brasiliens dort das Sagen. Es gibt kaum noch Überfälle oder Diebstähle. Ihre Selbstjustiz sorgt für eine friedhofsartige Ruhe – dafür lässt die Polizei die Drogenbosse ihren Geschäften nachgehen.
Schon lange haben sich die Drogenclans in der Justiz installiert. Nur kurz für Aufmerksamkeit sorgte kürzlich, als ein Richter des Obersten Gerichtshofs Brasiliens den Drogenboss André do Rap an einem Freitagabend auf freien Fuß setzte – bevor ein anderer Richter Einspruch erheben konnte. Seitdem ist do Rap untergetaucht.
Europol-Chefin De Bolle beunruhigt die Gewaltwelle, die wegen der wachsenden Drogenexporte auf Europa zurollt. Die ist jetzt schon zu spüren. Wie die Morde an Journalisten und Anwälten in den Niederlanden zeigen, die vor der Justiz gegen Drogengangs ausgesagt hatten. Auch seien die Drogenclans gleichfalls in Europa schon weit vorangekommen dabei, Logistikmitarbeiter zu korrumpieren, IT-Systeme zu übernehmen sowie die lokalen Behörden, Gerichte und die Polizei zu infiltrieren.
De Bolle warnt: „Europa sollte die Gefahr dringend ernst nehmen.“
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