So sollte Führung in disruptiven Zeiten aussehen

New York Eine Führungskraft muss wie ein Fels in der Brandung stehen, so hieß es einmal. Heute muss sie biegsam sein wie eine Gerte, sagt die Psychologin Esther Perel, bekannt durch ihren Podcast „Where should we begin“? Der Titel des Podcasts könnte auch gleich Einstieg in diese Gesprächsrunde sein.

Ja, wo sollen wir überhaupt anfangen in einer Zeit der Pandemie, der Entwurzelung, sozialen Spaltung. Wo finden wir noch Führung und Stabilität in diesem Schleudergang der Veränderung?

„Beim Spiel der Kinder”, sagt Esther Perel. „In der Entschleunigung”, sagt der Experte für Achtsamkeit und Führung, Angel Acosta. „Im ganzheitlichen statt binären Denken”, sagt die Kommunikationsprofessorin Miriam Meckel.

Ein Gespräch über die Macht des Paradoxen und die Fähigkeit des Körpers, das Denken zu stabilisieren – moderiert von Léa Steinacker.

Leben wir in einer Zeit nie da gewesener, tief greifender Veränderungen, oder ist das eine Illusion, die jede Generation hat?
Esther Perel: Letzteres. Ich denke schon, dass wir in einer Zeit beispiellosen Wandels leben, aber es ist nicht das erste Mal, dass dies geschieht. Viele Generationen haben gespürt, dass die Welt, in der sie leben, nicht die Welt ist, die sie einst kannten, und dass die Annahmen, mit denen sie ihr Leben geordnet haben, infrage gestellt oder manchmal sogar erschüttert wurden. Wann immer wir diese Frage stellen, gibt es immer jemanden, der sagt: „Aber der Planet war noch nie so gefährdet. Noch nie waren wir mit einer derartigen Selbstzerstörung der Menschheit konfrontiert, dass sie eines Tages ganz verschwinden könnte.“ Und ich denke, das ist die grundlegende Frage. Alles andere hatten wir schon: Kriege, Krisen, Naturkatastrophen, Pandemien. All das hatten wir schon. Aber wir hatten nie das Gefühl, dass wir einen Punkt erreicht haben, an dem wir uns in diesem Ausmaß selbst auslöschen könnten.

Geht es nur um die drohende Zerstörung oder auch um das zunehmende Tempo des Wandels und das Gefühl, nicht mithalten zu können?
Angel Acosta: Ja, das Tempo des Wandels hat zugenommen. Und der konzentrierte Einfluss der letzten 400 Jahre – wenn man sich die Verbindung zwischen Kolonialisierung, Imperialismus und der Entwicklung des Kapitalismus ansieht – hat unsere Beziehung zum Planeten bis hin zur möglichen Zerstörung beeinflusst. Die Nebenprodukte der industriellen Revolution und der informationstechnologischen Revolution der letzten 20 Jahre haben einen enormen Einfluss darauf, wie wir unsere Beziehungen gestalten und unsere Geschäfte führen. Aber ich glaube, dass dies ein unglaublich wichtiger Moment für uns ist, um darüber nachzudenken, wie wir vorankommen wollen. Ich möchte uns vor allem entschleunigen. Die Veränderungen haben zugenommen, und ich denke, wir müssen langsamer werden und uns auf die verschiedenen Ebenen unseres Selbsts, andere Instanzen und den Planeten besinnen.

Dürfen Führungskräfte von heute langsam sein?
Miriam Meckel: Sie sollten damit umgehen können, langsamer zu werden. Denn wenn man nur durch die Transformation und den Wandel rast, verliert man die Menschen. Führungskräfte sollten ein Vorbild sein, wenn es darum geht, die Balance zu finden zwischen dem Eingeständnis von Unsicherheit, weil die Dinge im Fluss sind, und dem Angebot von Lösungen und Möglichkeiten, mit ihren Teams in Kontakt zu treten. Man muss wirklich viel kommunizieren, damit die Menschen ihre Zweifel äußern, damit sie ihre Ängste und Bedenken transparent machen können. Das ist die Herausforderung: Mehrdeutigkeit zu akzeptieren und zu managen.

Warum fällt es den Menschen so schwer, sich auf Mehrdeutigkeit einzulassen?
Perel: Jeder Mensch, jede Gesellschaft, jedes Paar, jeder lebende Organismus in der Natur schwankt zwischen Stabilität und Veränderung. Das ist eigentlich nichts Neues. Wenn man sich nicht verändert, versteinert man und stirbt. Wenn man sich zu schnell und zu sehr verändert, wird man dysreguliert und stürzt ins Chaos. Die typische Reaktion auf Ungewissheit ist, dass ich einen Teil der Gleichung nehme und andere den anderen Teil der Gleichung. Das ist die Polarisierung, die wir auch in der Gesellschaft beobachten. Wir fragmentieren, wir polarisieren, und dann können wir uns antagonisieren. Und jeder in diesem Antagonismus stellt sich so dar, als ob er sich seiner Position sicher ist, obwohl es in Wirklichkeit die pure Angst ist, die eine falsche Gewissheit erzeugt.

Meckel: Das hat auch mit der binären Logik vieler Technologien zu tun. Die Informatik hat ein binäres Denken hervorgebracht, wie Sie es gerade beschrieben haben: null oder eins, gut oder schlecht, schwarz oder weiß. Und das macht die Mehrdeutigkeit zu einer großen Schwierigkeit, mit der wir fast verlernt haben umzugehen. Irgendwie denkt man immer, dass es entweder das eine oder das andere sein muss, denn so verarbeiten wir die digitale Welt.

Perel: Datenwissen ist eine exklusive Form des Wissens. Aber es gibt auch Intuition. Es gibt Weisheit, Tradition. Es gibt viele andere Formen von Wissen, die nicht dazugehören, und das sind Kenntnisse, die viel nuancierter und mehrdeutiger sind.

Acosta: Wenn wir die Zeit so weit verlangsamen können, dass wir die vielfältigen Dimensionen eines bestimmten Augenblicks erkennen können, dann können wir mit einem Paradox umgehen. Wir können dann an der Binarität festhalten und gleichzeitig wissen, dass wir eigentlich in einer dynamischen Entwicklung leben. Bayo Komolafe spricht von der Idee, unser Leben als Kompostierungsprozess zu betrachten. Was würde es für uns bedeuten, unser Denken zu kompostieren, es einfach mal ruhen, es marinieren zu lassen? In den letzten zehn Jahren der Forschung über die Fähigkeiten von Arbeitskräften ist diese Besessenheit entstanden, die Fähigkeiten des 21. Jahrhunderts zu absolutieren; also Teamarbeit, kritisches Denken, pro-soziale Fähigkeiten, Versöhnungsbereitschaft und Zusammenarbeit. Am unteren Ende dieser Liste standen Konfliktlösung und paradoxes Denken. Und ich denke, wir müssen diese Fähigkeiten wieder aufwerten.

Sind Konfliktlösung und paradoxes Denken also die wahren Künste in einer polarisierten Welt?
Perel: Wenn es um Beziehungskonflikte geht, muss ich die Menschen oft darauf hinweisen: „Das, was Sie gerade gesagt haben und als Tatsache darstellen, ist in Wirklichkeit eine Erfahrung. Es ist eine Pseudo-Tatsache. Sie denken, es sei objektiv, aber in Wirklichkeit ist es Ihre subjektive Erfahrung. Und Sie möchten, dass diese Menschen oder dieser Partner oder dieses Team oder dieser Manager damit etwas anfangen können. Aber Sie müssen nicht so tun, als ob es objektive Tatsachen wären – das sind sie nicht.”

Meckel: Es gibt einen interessanten Ansatz des Anthropologen Gregory Bateson, der Information einmal beschrieben hat als „einen Unterschied, der einen Unterschied macht“. Übertragen wir das auf die datengesteuerte Welt, dann bedeutet das, wir denken, es gibt Daten und es gibt Informationen, die wir aus den Daten gewinnen. Aber wie gerade beschrieben, stimmt das so ja nicht. Jede Information tritt für uns erst durch die Erfahrung, die wir mit ihr machen, ins Leben. Der Unterschied, den eine Information für mich macht, ist zum Beispiel ein ganz anderer Unterschied als für jeden anderen hier. In einer technologisch geprägten Welt ist es viel schwieriger geworden zu akzeptieren, dass Informationen immer durch Erfahrungen verändert werden.

Acosta: Das rein rationale Denken hat etwas, das die Welt verschließt. Es erzeugt die Illusion, die Welt sei statisch. Aber die Welt ist so viel fließender und dynamischer. Wie kann man es wagen, sie auf diese Weise in eine Schublade zu packen? Natürlich hat es uns als Gesellschaft geholfen, uns mit wissenschaftlicher Empirie zu beschäftigen, das hat es uns erlaubt, die Tierwelt zu kategorisieren, die gesamte natürliche Welt zu kategorisieren. Aber es hat uns auch von der Natur entfremdet.

„Nicht nur der Verstand ist am Zug, sondern auch unser Herz”

Wie können wir diese Beziehung ändern?
Acosta: Ich betrachte die Wiederverbindung mit unserem Körper und der Natur als Weiterbildung, als eine Fähigkeit, die wir entwickeln müssen. Ein Teil davon, auch ein Paradox aushalten zu können, ist ein somatisches Phänomen. Es geht um die Wahrnehmung des Körpers. Man kann von einem kognitiven Standpunkt aus überwältigt werden, wenn man über all die verschiedenen Entscheidungen nachdenkt, die man treffen muss. Der Körper hingegen ist ein unglaublicher Prozessor und eine einzigartige Einheit. Erlauben wir also unserem gesamten Wesen, uns bei der Entscheidungsfindung zu helfen. Nicht nur der Verstand ist am Zug, sondern auch unser Herz und sogar unsere Füße.

Perel: Und wir müssen bei der Arbeit spielerischer sein. Die Idee ist, dass Kinder spielen dürfen, weil das der Boden für Experimente ist, für Lösungen, für das Ausprobieren von Lösungen, für Kreativität, für Fantasie. Aber die verbreitete Auffassung lautet, dass Erwachsene nicht ernst sind, wenn sie spielen. Spielen scheint mit der Arbeitswelt zu kollidieren – Arbeit versus Spiel. Dabei bedeutet Verspieltheit Kreativität, die Möglichkeit, Dinge auszuprobieren, Neugierde auszuleben, die aktive Auseinandersetzung mit dem Unbekannten, die Erlaubnis, Risiken einzugehen. Wir wissen, dass eine so definierte Verspieltheit wesentlich ist für Innovation. Sie ist wichtig, um neue Wege zu finden, die man nie in Betracht gezogen hat. Das Spiel bietet so ein Ventil. All das ist in diesem Moment dringend erforderlich. Beziehungsintelligenz ist eine ernste Angelegenheit.

Acosta: Die Erlaubnis zum Spielen erleichtert die Möglichkeit, Ehrfurcht zu empfinden und ein Umfeld für Experimente und Innovationen zu schaffen. Wenn es ums Geschäft geht, geht es natürlich auch sofort um das Thema Profit: „Wenn wir zu viel spielen: Wird sich das nicht auf den Gewinn auswirken?” Nun, in einigen Fällen wird es sich auswirken …

Meckel: Es wird sich auf die Kreativität, die Loyalität zum Arbeitsplatz und die Produktivität auswirken, vielleicht sogar positiv.

Acosta: Sogar positiv! Und selbst wenn es sich negativ auf das Endergebnis auswirkt, was die Zahl unter dem Strich angeht: Ich bin mir sicher, dass es sich positiv auswirkt, wenn man das soziale Gefüge im Arbeitsumfeld oder die Menschen, die man führt, dem gegenüberstellt. Diese Abwägung wird also für Führungskräfte interessant sein. „Wie schaffen Sie Raum für Ihre Kolleginnen und Kollegen, damit sie in einen Flow kommen?” Denn dann erreichen sie Spitzenleistungen und blühen auf.

Perel: Ja, Führungskräfte müssen im Grunde eine duale Sprache sprechen zwischen Produktivität und Mitgefühl oder zwischen Profit und Sinn. In diesem Moment kommt eine ganze Generation ins Berufsleben, die mehr will als nur einen fetten Gehaltsscheck. Sie wollen ein Gefühl der Zugehörigkeit, der Gemeinschaft, der Identität und des persönlichen Wachstums. Das ist eine ganz neue Bedeutung von Arbeit. Dinge, die die Menschen früher in anderen Lebensbereichen, im Dorfleben, im religiösen Leben gesucht haben, ziehen sie jetzt aus der Arbeit. Wenn Sie ein CEO sind und sich mit Mitarbeiterbindung befassen, was derzeit in vielen Unternehmen der Fall ist, dann müssen Sie verstehen, warum die Leute bleiben und warum sie gehen. Als CEO müssen Sie nicht alles sein, aber Sie müssen wissen: Was bedeutet Arbeit heute?

„Wir haben die zwiespältige Natur”

Die Pandemie hat die Bedeutung der Arbeit weiter verändert. Welche Rolle hat die Technologie in den vergangenen 18 Monaten gespielt?
Meckel: Wir haben die zwiespältige Natur der Technologie beobachten können. Auf der einen Seite hat sie viele positive Veränderungen gebracht. Auf der anderen Seite können wir aber auch feststellen, dass die Technologie uns als Einzelpersonen und Gemeinschaften wirklich zermürben kann. Virtuelle Treffen haben uns geholfen, die Pandemie zu überstehen, aber sie können auch sehr anstrengend sein. Wir können das nicht einfach zum neuen Standard für alle unsere Gespräche machen.

Acosta: Einerseits war es wirklich schwierig, in einer Form von Gefangenschaft zu arbeiten. Gleichzeitig habe ich aber auch einen unglaublichen Aufschwung von Online-Gemeinschaften erlebt. Dieser Moment schafft für viele eine große Isolation. Aber ich war in virtuellen Räumen unterwegs, in denen Menschen aus der ganzen Welt zusammenkamen und speziell über Rassismus und strukturelle Ungleichheit sprachen. Es gibt also Potenzial.

Meckel: Gleichzeitig hat sich die Polarisierung durch die Technologien in vielerlei Hinsicht verschärft, ich denke da an all die Desinformation über die Pandemie. Sie hat erheblich zur gesellschaftlichen Polarisierung beigetragen. Technologie ist weder gut noch schlecht, und sie ist auch nicht neutral, wie Melvin Kranzberg einmal sagte. Denn wann immer wir sie nutzen, laden wir sie mit psychologischer Bedeutung für uns selbst und sozialer Bedeutung für uns und andere Menschen auf.

„Das beinhaltet Flexibilität und Geschicklichkeit”

Die Polarisierung hindert uns oft daran, eine offene Grundhaltung einzunehmen. Wann haben Sie schon einmal Ihre Meinung geändert?

Perel: Ich habe meine Meinung in Bezug auf Rassismus im vergangenen Jahr grundlegend geändert. Ich hatte definitiv die Vorstellung, dass ein Rassist zu sein bedeutet, negative Gedanken, diskriminierende Gedanken über eine andere Gruppe oder andere Menschen zu hegen. Jetzt verstehe ich darunter auch die Beteiligung an einem System, das bestimmte Menschen strukturell gegenüber anderen privilegiert.

Meckel: Bis zum Alter von etwa 40 Jahren habe ich gedacht, dass mein Gehirn im Grunde der Oberbefehlshaber ist. Es ist mein Steuerungskomitee und kann meinen Körper dazu bringen, alles zu tun, was ich will. Das hat mich vor etwa zehn Jahren in eine schwere Depression gestürzt, und ich habe mich sehr intensiv mit der Frage beschäftigt, wie das menschliche Gehirn, der menschliche Körper und die Seele miteinander verbunden sind. Das war sehr heilsam.

Acosta: Manchmal ist der Abstand zwischen unserem Verstand und unserem Herzen größer als zwischen uns untereinander.

Vor dem Hintergrund einer globalen Pandemie, der Klimakatastrophe, zunehmender Ungleichheit und des wachsenden Einflusses digitaler Technologien scheint es, als stünden wir vor einer großen Herausforderung der Anpassung: Wir müssen uns erden, während die Erde bebt.

Perel: Nach dem Hurrikan Maria fielen manche Bäume, weil sie sich nicht biegen konnten. Andere blieben stehen, weil sie sich biegen konnten. Biegen, das ist somatisch, das ist Bewegung, die es einem erlaubt, sich anzupassen und wieder aufzurichten, an einem anderen Ort wieder aufzustehen. Das beinhaltet Flexibilität und Geschicklichkeit – und es ist tatsächlich Teil dieser großen Anpassung. Das ist für alle Arten von Führungskräften, auch für CEOs, sehr wichtig, denn wir alle erleben derzeit diese große Anpassung: Wenn man nicht mehr biegsam ist, zerbricht man andere, und man zerbricht auch selbst als Mensch.

Das Gespräch ist die Zusammenfassung einer Videocast-Aufnahme der Learning-Plattform ada, an der die Handelsblatt Media Group Anteile hält.

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