Washington Zwei Jahre lang hat die amerikanische Kunstturnerin Simone Biles pausiert, im Sport ist das eine Ewigkeit. Sie sei mental und physisch ausgebrannt, erklärte sie 2021, ihre Karriere schien beendet. Doch vergangene Woche legte Biles ein Traum-Comeback hin und gewann als erste Turnerin zum achten Mal den Mehrkampf bei den US-Meisterschaften.
Die vierfache Olympiasiegerin war 2017 als das prominenteste Missbrauchsopfer des Sportarztes Larry Nasser weltweit bekannt geworden. Netflix verfilmte den Skandal, der die Gymnastik-Welt erschütterte, in der preisgekrönten Dokumentation „Athlete A“. Nasser wurde zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt.
Jetzt stellt Biles mit ihrem Comeback die Regeln des Sports auf den Kopf, denn mit 26 Jahren hat sie das Höchstleistungsalter in der Profi-Gymnastik eigentlich überschritten. Gleichzeitig führt sie die neue Macht weiblicher Elite-Athletinnen in den USA vor Augen.
„Das Milliardengeschäft des Sport-Sponsorings wird noch immer von Männern dominiert, aber Frauen holen rasant auf“, sagt Bob Dorfman, Kreativdirektor der kalifornischen PR-Firma Pinnacle Advertising. Tatsächlich stieg das Firmen-Sponsoring von Frauen laut der Plattform SponsorUnited im vergangenen Jahr um 20 Prozent.
Athletinnen wie Biles zwingen Konzerne, ihre Strategien zu überdenken
An die Gagen der Basketball-Legende Michael Jordan, der dank Verträgen mit Coca-Cola oder McDonald’s zum Milliardär wurde, kommen Biles oder die Tennis-Schwestern Venus und Serena Williams nicht heran. Aber weibliche Sportlerinnen verstünden es besser denn je, so Dorfman, sich selbst zur Marke zu machen. „Wenn Simone Biles vor ihren sechs Millionen Instagram-Followern ein Shirt trägt, ist es am nächsten Tag ausverkauft“.
Die Turnerin kann sich ihre Sponsoren inzwischen aussuchen. So ließ sie vor einigen Jahren den Vertrag mit ihrem damaligen Hauptsponsor Nike platzen, nachdem dem Konzern Diskriminierung vorgeworfen worden war. Unter anderem hatte die amerikanische Sprinterin Allyson Felix enthüllt, dass der Sportartikelhersteller ihr nach einem positiven Schwangerschaftstest drastisch die Gelder kürzen wollte. Nach Protesten änderte Nike die Regeln.
Athletinnen wie Biles und Felix würden Konzerne dazu zwingen, ihre Marketing-Strategien zu überdenken, erklärt Experte Dorfman. Wettkampf und Leistung seien nicht alles, Biles’ offener Umgang mit emotionaler Belastung – im Spitzensport häufig ein Tabuthema – hebe sie von männlichen Athleten ab.
Ihrem Marktwert scheint das nicht zu schaden, vielmehr scheinen die Firmen ihre Botschaften an Biles’ Charakter anzupassen. So erfährt man auf Biles Website, dass sie den Energy-Drink Powerade etwa nicht zur Stärkung konsumiere, sondern zur „Self-care“, denn „Pausen geben Kraft“.
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Und junge Mädchen, sagte sie am Mittwoch dem Portal „USA Today“, sollten ihre Individualität feiern. Dafür stünde Biles’ neue Modelinie für Athleta, Tochterfirma des US-Textilgiganten Gap. Die Shirts und Leggings tragen Aufdrucke wie „Play outside the lines“, frei übersetzt „Mach’ dein eigenes Ding“.
Sha’Carri Richardson hat als Rebellin Erfolg
Biles ist nicht die einzige Spitzensportlerin der USA, die mit der Illusion der perfekten, immer funktionierenden Maschine bricht. Vergleichbares kann man bei der 23-jährigen Sha’Carri Richardson beobachten, die gerade zur schnellsten Frau der Welt gekürt wurde. Vergangene Woche brach sie bei den Leichtathletik-Weltmeisterschaften in Budapest alle Rekorde.
Dabei schien auch Richardsons Karriere zunächst vorbei zu sein: 2021 war sie bei den Olympischen Spielen in Tokio positiv auf Marihuana getestet und gesperrt worden. Richardson erklärte damals, sie sei nach dem Tod ihrer Mutter in einen „Zustand emotionaler Panik“ verfallen und habe zum Joint gegriffen.
Mit den Sport-Postergirls der 90er-Jahre, die für die Kameras an einem Müsliriegel knabbern, hat Richardson wenig zu tun. Auf der Aschenbahn trägt die 23-Jährige neonpinke Perücken und strassbesetzte Fingernägel. Spricht jemand ihren Vornamen falsch aus (die Betonung liegt auf „Carri“), reagiert sie ungehalten. Im Januar streamte sie live, als ein Flugbegleiter sie wegen eines Disputs aus der Maschine eskortieren wollte.
Doch ihr Hauptsponsor Nike – von Biles verschmäht, von Richardson behalten – scheint den auffälligen Stil der Läuferin für das eigene Marketing nutzen zu wollen: Nach dem historischen Sprint-Sieg zeigte der Konzern ein meterhohes Billboard-Plakat in New York, auf dem Richardson die Faust in die Luft reckt und triumphiert: „I’m not back, I’m better“ – „Ich bin nicht zurück, ich bin besser“. Die Partnerschaft zahlt sich aus: Das Laufschuh-Modell, mit dem Richardson über die Ziellinie raste, ist in den USA mancherorts vergriffen.
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