Russland, Südafrika, Südamerika, Osteuropa – Wie die Inflation den Schwellenländern zusetzt

Kapstadt, Moskau, Salvador, Wien Seit Tagen demonstrieren die Menschen in der Hafenstadt Aktau am Kaspischen Meer. Schulter an Schulter gehen sie mit erhobenen Fäusten über die Straßen. Mittlerweile haben sich die Proteste auch auf andere Städte in Kasachstan ausgeweitet. In der Stadt Almaty werden Polizisten angegriffen, Autos in Brand gesetzt. Auslöser der Erregung: Der Preis für Flüssiggas (LNG) – einen der gebräuchlichsten Treibstoffe in der Region – hat sich nach Neujahr an den Tankstellen verdoppelt.

Der Präsident ruft in Teilen des Landes den Notstand aus, die Regierung tritt zurück. Präsident Kassym-Schomart Tokajew verspricht eine Lösung für den Gaspreis, das Internet im Land wird lahmgelegt.

Das Beispiel Kasachstan zeigt, wie schnell Preissteigerungen bei Grundgütern wie Energie oder Lebensmitteln in Entwicklungs- und Schwellenländern zu sozialen und politischen Problemen führen können.

Weltweit sind die Inflationsraten gestiegen. Doch Schwellenländer trifft es im Vergleich zu den Industrienationen ungleich härter.

Denn hier geben die Menschen einen wesentlich größeren Teil ihres Einkommens für Nahrungsmittel und Waren des täglichen Bedarfs aus, die preislich mit am stärksten angezogen haben. Dadurch wird die Armut in diesen Ländern befeuert und der soziale Frieden gestört.

Kasachstan etwa hat schon im vergangenen Jahr mit der höchsten Teuerungsrate seit fünf Jahren zu kämpfen gehabt: Von Januar bis November lag die Inflation bei 8,7 Prozent. Die Lebensmittelinflation war mit elf Prozent noch höher.

Die Unzufriedenheit in Russland steigt angesichts steigender Preise

Und auch beim großen Nachbarn Russland steigt die Unzufriedenheit in der Bevölkerung: Einer Umfrage des Lewada-Instituts zufolge ist bei 54 Prozent der Bevölkerung der Lebensstandard 2021 gesunken.

Zu Neujahr merkten das viele Russen am traditionellen Kaviar. Zwar ist schwarzer Kaviar vom Stör auch in Russland seit Jahren ein Luxusgut. Doch den roten Lachskaviar konnten sich zumindest zu Neujahr bisher auch einfache Familien leisten. Dieses Jahr war es anders.

Um 30 Prozent hat sich die Delikatesse im Vergleich zum Vorjahr verteuert – trotz einer Verdopplung der Produktion. Das Kilogramm kostet nun erstmals mehr als 5000 Rubel (60 Euro).

Unter diesen Umständen verzichteten viele Russen auf den Kauf, denn auch ansonsten ist der Neujahrstisch Berechnungen zufolge um zehn bis 15 Prozent teurer geworden. Zentralbankchefin Elvira Nabiullina räumte schon im November bei einem Auftritt in der Staatsduma ein, dass die Rate der Lebensmittelinflation mittlerweile zweistellig sei. Dem Marktforschungsinstitut Romir zufolge haben sich Waren des täglichen Bedarfs um 17 Prozent verteuert.

Die offizielle Inflation liegt „nur“ bei 8,1 Prozent. „Das ist das Doppelte des von uns anvisierten Ziels“, sagte Nabiullina. Dabei hat die Zentralbank relativ früh gegengesteuert und erstmals im März die Zinsen auf damals 4,5 Prozent erhöht. Vor einigen Tagen hob sie den Satz um einen ganzen Punkt auf inzwischen 8,5 Prozent an.

David Knight, Chefvolkswirt der Weltbank für Russland, lobte die Schritte der russischen Zentralbank als rechtzeitig, doch räumte ein: „Von einer Kontrolle über die Preissteigerungen lässt sich schwerlich reden.“ Nach Ansicht des Experten ist die Inflation neben den Auswirkungen der Pandemie, der Geopolitik und dem Übergang der Welt zur grünen Energie eins der vier größten Risiken für die russische Wirtschaft.

Auch 2022 bestehe das Risiko unerwartet hoher Inflationssprünge, warnte Knight. Wegen des großen russischen Staatsgebiets sei es schwer, die Folgen der Lieferkettenprobleme in vollem Ausmaß abzuschätzen. Der Kreml hat mehrfach versucht, die Inflation mit planwirtschaftlichen Methoden zu drosseln, indem die Behörden Preisvorgaben für Geflügel oder zuvor für Zucker, Speiseöl und andere Waren des täglichen Bedarfs machten. Der Erfolg ist begrenzt.

36 Prozent Inflation in der Türkei  Erdogan droht mit Niederschlagung möglicher Proteste

Weitaus höher noch ist die Inflation in der Türkei. Im Dezember schnellte sie auf 36 Prozent im Vergleich zum Vorjahr und damit auf den höchsten Stand seit 19 Jahren. Nahrungsmittel haben sich der Statistikbehörde zufolge sogar um mehr als 43 Prozent verteuert.

Das hat viel mit der umstrittenen Geldpolitik im Land zu tun. Die Notenbank hat die Zinsen trotz der hohen Inflation seit September vergangenen Jahres mehrmals auf aktuell 14 Prozent gesenkt. Mit diesem Kurs will die Regierung von Präsident Recep Tayyip Erdogan die Lira international schwächen und so die türkischen Exporte und das Wirtschaftswachstum stärken. Den Zentralbankchef hat sie mehrmals ausgetauscht.

Erdogan weiß um den Unmut im Land anderthalb Jahre vor den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen. Unter anderem hat die Regierung versprochen, künftig Wechselkursverluste bei Lira-Sparguthaben auszugleichen, und den Mindestlohn kräftig erhöht. Am Dienstag versprach er, er werde „die Inflationsblase entfernen“. Denn der politische Druck auf ihn ist hoch.

Die Opposition drängt auf vorgezogene Neuwahlen angesichts der Inflations- und Devisenkrise. Tausende Türkinnen und Türken waren im Dezember bei einer von den Gewerkschaften organisierten Demonstration auf die Straßen gezogen und hatten gegen die Teuerung und ihre Verarmung protestiert.

Protest in Ankara im Dezember

Die Gewerkschaften des Landes protestieren gegen die sich verschlechternden Lebensbedingungen wegen der massiven Teuerung im Land.


(Foto: imago images/ZUMA Wire)

In seiner Rede am Dienstag warnte Erdogan, Proteste notfalls niederschlagen zu lassen. „Nehmen wir an, sie gingen auf die Straßen ohne Scham“, sagte er. „Wohin ihr auch geht, diese Nation wird euch eine Lektion verpassen, genau wie sie denen eine Lektion verpasst hast, die am 15. Juli auf die Straße gegangen sind.“ Damit spielte Erdogan auf die Niederschlagung des Putschversuchs in der Türkei in der Nacht vom 15. auf den 16. Juli 2016 an.

Weltweit höchste Inflation in Venezuela und Argentinien  die Menschen verarmen

Angeführt werden die weltweiten Inflationsstatistiken jedoch von zwei südamerikanischen Ländern: In Venezuela lag die Inflation der vergangenen zwölf Monaten nach Angaben des venezolanischen Finanzobservatoriums (OVF) bei 769 Prozent. Dennoch stellen die Experten fest, dass es sich dabei um „einen deutlichen Rückgang gegenüber dem Vorjahresmonat, in dem die Inflation noch über 4000 Prozent lag“, handelt.

In Argentinien beträgt die Inflationsrate mehr als 50 Prozent, obwohl die Regierung die Preise für 3000 Produkte festgesetzt hat. Sonst läge die Rate der Geldentwertung noch elf Prozentpunkte höher, schätzt Diego Pereira von JP Morgan. Er rechnet damit, dass die Inflation im Land bald auf 56 Prozent steigen wird.

In beiden Staaten ist die Inflation eine Folge der staatlichen Geldschöpfung: Weil die Regierungen mehr ausgeben, als sie einnehmen, lassen sie die Geldmaschinen laufen. Die Folge: Der Dollar hat in Venezuela schon längst den Bolivar abgelöst. Kein Wunder: Die Zentralbank des einstmals reichen Öllandes hat seit 2008 in drei Abwertungsrunden bereits 14 Nullen gestrichen. In Argentinien wird noch nicht in Dollar bezahlt, aber alle höherwertigen Konsumartikel ständig mit dem Dollar indexiert.

Auch im restlichen Südamerika nehmen die Inflationssorgen zu. Steigende Energie- und Lebensmittelpreise infolge des schweren Pandemieverlaufs sind der Hauptgrund: So liegt in Chile die Inflation mit 6,7 Prozent weit über dem Ziel der Zentralbank von drei Prozent. Diese Abweichung von den Vorgaben ist für Chile ungewöhnlich, denn die Zentralbank dort ist bekannt für ihren klaren monetären Kurs in Richtung Geldwertstabilität.

Straßenhändler in Caracas

Faktisch wird in Venezuela nur noch mit Dollar bezahlt.


(Foto: AP)

In Brasilien ist die Geldentwertung gerade zweistellig geworden: 10,7 Prozent betrug sie im November im Vergleich zum Vorjahresmonat. Die Zentralbank musste trotz der stagnierenden Wirtschaft den Leitzins auf 9,25 Prozent erhöhen – und will die Zinsen notfalls weiter anheben. JP Morgan rechnet daher mit einem Leitzins von knapp 13 Prozent im kommenden Jahr.

Die sozialen Folgen der Inflation sind immens: In Venezuela gelten nach nun acht Jahren ohne Wachstum 80 Prozent der Menschen als arm. Darunter auch viele Angehörige der ehemaligen Mittelschicht. Nur wer im Staatsapparat oder beim Militär des Regimes des Diktators Nicolás Maduro arbeitet, kann auf Lebensmittelrationen hoffen oder gar auf den Zugang zu Dollar, mit denen man sich in den von Militärs betriebenen Läden alles kaufen kann.

In Argentinien gelten 40 Prozent der Menschen offiziell als arm. Die Armut dürfte jedoch 2022 zunehmen, wenn die Regierung die Preise anpassen muss. Auch in Brasilien leiden vor allem die Armen unter der Inflation: Denn die Preise für Lebensmittel sind in diesem Jahr rund doppelt so stark gestiegen wie die Inflation insgesamt. Die Folge: Rund 20 Prozent der Brasilianer haben zu wenig zum Essen.

Südafrika leidet unter explodierenden Stromkosten

Die Inflation drückt auch die Stimmung in Südafrika: Fast noch härter als die hier im November erstmals nachgewiesene Omikron-Variante trifft die 60 Millionen Menschen am Kap der Preisanstieg vieler Lebensmittel, von Benzin – und vor allem von Strom. In den vergangenen Jahren hat der Strompreis um fast 500 Prozent zugelegt.

Viele Südafrikaner gaben in Umfragen an, beim Weihnachtsmenü zu sparen, denn auch für 2022 ist bei den Preissteigerungen nicht mit einer längeren Atempause zu rechnen. Vor allem der Preis für Fleisch dürfte wegen der starken Nachfrage, die auf ein geringes Angebot trifft, im ersten Quartal 2022 besonders kräftig steigen. Das Angebot sei vor allem deshalb gering, weil viele Farmer ihre Herden nach der langen Trockenheit im südlichen Afrika gerade neu aufbauten und weniger als erwartet geschlachtet hätten, sagt Dawie Maree von FNB Agri-Business.

Dabei lag die jährliche Verbraucherinflation im November am Kap bei für Südafrika eher normalen 5,5 Prozent und damit im Inflationskorridor der Zentralbank von bis zu sechs Prozent. Die Lebensmittelpreise befänden sich global auf ihrem höchsten Stand seit mehr als einem Jahrzehnt, sagte Matlou Setati, der Vorsitzende der Initiative für Nahrungsmittelsicherheit. Das liegt vor allem an einer robusten Nachfrage und schwachen Ernten in vielen Produzentenländern.

Südafrika ist aber diesmal davon verschont geblieben und hat wegen der guten Regenfälle eine überdurchschnittlich gute landwirtschaftliche Produktion. Zudem hätten die großen Einzelhändler einen Großteil der höheren Kosten durch ihre Effizienz bei der Warenbeschaffung aufgefangen.

Südafrikanischer Rand

Die Lebensmittelpreise sind am Kap trotz guter Ernten deutlich gestiegen.

(Foto: Reuters)

Stark angestiegen ist aber die Inflation bei den Produzentenpreisen (PPI), die im November auf fast zehn Prozent zulegte – dem Marktforschungsunternehmen Oxford Economics Africa zufolge das höchste Niveau seit Beginn der Aufzeichnungen. Hauptverantwortlich waren hier die Petroleum-, Gummi- und Plastikproduzenten, aber auch die Nahrungsmittel – und Tabakhersteller.

Notenbanken in Osteuropa sind alarmiert  Mehrwertsteuersenkung in Polen

Auch in Ost- und Zentraleuropa haben die steigenden Inflationsraten die Unzufriedenheit geschürt und die Notenbanken aufgeschreckt. Einige von ihnen haben die Leitzinsen daher schon mehrfach angehoben. Mit Zinserhöhungen im vergangenen Juni zählten die Zentralbanken Ungarns und Tschechiens weltweit zu den Vorreitern.

In Tschechien liegt der maßgebliche Zins, der zweiwöchige Reposatz, mit 2,75 Prozent auf einem höheren Stand als vor der Pandemie. Trotzdem kündigte Marek Mora, der stellvertretende Chef der tschechischen Notenbank CNB, jüngst weitere Zinsschritte an. Im November betrug die Jahresinflation sechs Prozent. „Beim Lohndruck gibt es keine Entspannung“, sagt Mora. Sorgen bereiten Mora auch die steigenden Immobilienpreise. Ab kommendem Frühjahr dürfen die Finanzinstitute des Landes Liegenschaften daher bloß noch mit 80 Prozent des Verkehrswerts beleihen.

Premier Piotr Fiala warnte in seiner Neujahrsansprache vor einem der „schwierigsten und schwersten Jahre“. Neben Corona zählte er vor allem die steigenden Energiekosten und die Inflation als Gefahren auf.

Auch Polens Notenbank wird den Leitzins weiter erhöhen, um der Inflation Herr zu werden. Im November betrug die Jahresteuerung 7,8 Prozent. 42 Prozent der Polen machen sich Sorgen wegen der Inflation. Zuletzt thematisierte die Opposition die Inflation bei der Haushaltsdebatte im Dezember, als Abgeordnete Schilder mit der Aufschrift „PiS = Teuerung“ hoch hielten.

Die Bewohner des Landes bekommen die Teuerung mittlerweile sehr direkt zu spüren. So werden die Gaspreise für die Haushalte im kommenden Jahr im Durchschnitt um über 50 Prozent steigen. Die Regierung reagierte darauf mit einer Senkung der Mehrwertsteuer.

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