Russische Bodentruppen 25 Kilometer vor Zentrum Kiews

Düsseldorf Der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski hat in einer Fernsehansprache erklärt, Russland entsende neue Truppen in die Ukraine. Demnach habe die russische Armee die größten Verluste seit Jahrzehnten erlitten. 31 taktische Einheiten Russlands seien von der ukrainischen Armee kampfunfähig gemacht worden.

Selenski forderte die sofortige Freilassung des Bürgermeisters der Stadt Melitopol, der nach Darstellung der Ukraine von russischen Kräften am Freitag entführt worden ist. Er habe mit Bundeskanzler Olaf Scholz und dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron darüber gesprochen, dass für eine Freilassung Druck auf Russland ausgeübt werden solle.

Scholz und Macron haben unterdessen an diesem Samstagnachmittag mit dem russischen Präsidenten Putin telefoniert. Sie forderten einen sofortigen Waffenstillstand in der Ukraine, teilte die Bundesregierung mit. Während des 75-minütigen Telefongesprächs hätten sie auf einen Einstieg in eine diplomatische Lösung des Konflikts gedrungen.

Über weitere Inhalte des Gesprächs sei Stillschweigen vereinbart worden.

Das russische Präsidialamt teilt mit, Putin habe Scholz und Macron über den Stand der Verhandlungen von Russland mit der Ukraine informiert. Er habe zudem auf Besorgnisse der beiden Spitzenpolitiker über die humanitäre Lage in der Ukraine reagiert, indem er auf Menschenrechtsverletzungen seitens des ukrainischen Militärs hingewiesen habe.

Russische Bodentruppen 25 Kilometer vor Zentrum Kiews

Nördlich von Kiew zerstreute sich nach britischen Geheimdienstinformationen die 60 Kilometer lange russische Militärkolonne. Diese könnte einen russischen Versuch unterstützen, die ukrainische Hauptstadt einzukreisen, teilte das britische Verteidigungsministerium am Samstag auf Twitter mit.

Ukraine-Konflikt

Ein ukrainischer Soldat ruht sich in einem Keller in Irpin nordwestlich von Kiew aus.

(Foto: dpa)

Während die Gefechte nordwestlich von Kiew weitergehen, befinde sich der Großteil der russischen Bodentruppen nun rund 25 Kilometer vom Zentrum der Dreimillionenstadt entfernt, teilte das Ministerium weiter mit. Darüber hinaus blieben die Städte Charkiw, Tschernihiw, Sumy und Mariupol eingekreist, während sie weiter unter schwerem russischen Beschuss leiden.

Der russische Großangriff auf Kiew ist nach Einschätzung eines Militärforschers der Londoner Denkfabrik Chatham House nur noch eine Frage von Stunden oder Tagen.

Die russischen Truppen, die tagelang in der Kolonne vor der ukrainischen Hauptstadt feststeckten, hätten sich neu formiert, sagte Mathieu Boulègue. „Das wird eine sehr lange Zermürbungsschlacht werden“, erklärte er. „Das wird eine grauenhaft verlustreiche Schlacht und eine Belagerung, wie wir sie in der modernen Geschichte selten gesehen haben.“

Russische Luftwaffe greift Zeile in Westukraine an – Belarus sendet Truppen an südliche Grenze

In der Nähe von Kiew wurde einem Medienbericht zufolge am Morgen ein ukrainischer Luftwaffenstützpunkt durch russischen Raketenbeschuss zerstört. Auch ein Munitionslager in Wassylkiw sei getroffen worden, zitiert der ukrainische Ableger der russischen Nachrichtenagentur Interfax die Bürgermeisterin des Orts.

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Angegriffen wurde außerdem der Militärflugplatz Kanatowo in der Nähe der zentralukrainischen Stadt Kropywnyzkyj. Über mögliche Opfer wurde nichts bekanntgegeben.

Bei den Militärschlagen nahm die russische Luftwaffe nach Angaben aus Kiew auch Ziele in der Westukraine ins Visier. Mindestens sechs Langstreckenbomber des Typs Tupolew Tu-95 hätten Luft-Boden-Raketen gegen Ziele in Luzk und Iwano-Frankiwsk eingesetzt. Das russische Militär hatte den Beschuss der militärischen Ziele nahe der beiden Orte am Freitag gemeldet.

Medienberichten vom Samstag zufolge wurde in Luzk eine Fabrik zur Reparatur von Triebwerken von Kampfflugzeugen getroffen. Auch die zentralukrainische Stadt Dnipro, die früher Dnjepropetrowsk hieß, sei angegriffen worden.

Die ukrainische Luftwaffe teilte mit, sie habe mit Kampfjets der Typen MiG-29 und Su-27 etwa zehn Angriffe unter anderem auf feindliche Flugzeuge geflogen. Die Angaben lassen sich kaum überprüfen.

Angeblich zur Sicherung gegen ukrainische Angriffe entsendet das autoritär regierte Belarus fünf Kampfgruppen an seine südliche Grenze. Die Einheiten sollten gemeinsam mit Grenzschutztruppen verhindern, dass „nationalistische bewaffnete Formationen“ aus der Ukraine nach Belarus einsickern, sagte Vizeverteidigungsminister Viktor Gulewitsch einer Mitteilung vom Samstag zufolge.

Sie würden dann von anderen Einheiten ersetzt. „Die Truppenbewegungen stehen in keiner Weise im Zusammenhang mit einer Vorbereitung und noch weniger mit einer Teilnahme belarussischer Soldaten an der Spezial-Operation auf dem Territorium der Ukraine.“

Luhansk: Russland kontrolliert 70 Prozent der Region – Evakuierungen laufen schleppend

Der Leiter der staatlichen ukrainischen Verwaltung in der von Russland unterstützten Separatistenregion Luhansk, Sergej Gaidai, erklärte, dass die russische Armee 70 Prozent der Region kontrolliert. „Die Lage ist schwierig, überall wird geschossen“, sagte er und fügte hinzu, dass zivile Infrastrukturen wie Schulen, Krankenhäuser und Kindergärten kontinuierlich angegriffen würden.

Ukraine-Konflikt

Freiwillige Helfer evakuieren einen älteren Bewohner auf einer Trage in Irpin nordwestlich von Kiew.

(Foto: dpa)

Russische Truppen sollen nach ukrainischen Angaben zudem eine Krebsklinik in der südukrainischen Stadt Mykolajiw beschossen haben. Hunderte Patienten hätten sich zum Zeitpunkt des Angriffs in dem Krankenhaus aufgehalten, sagte Chefarzt Maxim Besnosenko. Getötet worden sei niemand.

Durch den Beschuss sei das Gebäude beschädigt worden. Fenster zerbarsten. Die ukrainische Regierung und der Westen warfen Russland erst diese Wochen den Beschuss einer Geburtsklinik in der Hafenstadt Mariupol vor. Dabei kamen demnach drei Menschen ums Leben, darunter ein Kind.

Die Evakuierung von Menschen aus belagerten und umkämpften Städten soll am Samstag weitergehen. Für das Gebiet Sumy im Nordosten des Landes seien sechs Fluchtkorridore geplant, teilte der Chef der Gebietsverwaltung von Sumy, Dmytro Schywyzkyj, in der Nacht zu Samstag auf Telegram mit. Demnach sollen Zivilisten aus den Städten Sumy, Trostjanets, Lebedin, Konotop, Krasnopillja und Velika Pysarivka in die zentralukrainische Stadt Poltawa gebracht werden.

Insgesamt laufen die Evakuierungen schleppend. Hunderttausende Ukrainerinnen und Ukrainer sitzen in von russischen Truppen eingekesselten oder umkämpften Städten fest. Kiew und Moskau werfen einander Verletzungen der für die Fluchtkorridore notwendigen Feuerpausen vor.

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Aus Saporischschja habe sich erneut ein Konvoi mit Hilfsgütern und Bussen auf den Weg in die belagerte Hafenstadt Mariupol gemacht, sagte die ukrainische Vizeregierungschefin Irina Wereschtschuk.

Es ist der fünfte Versuch, die Stadt am Asowschen Meer zu erreichen. Bisher kamen die vereinbarten Korridore nie zustande. Beide Seiten gaben sich gegenseitig die Schuld am Scheitern. Die prorussischen Separatisten brachten nach eigenen Angaben seit Freitagmorgen 217 Zivilisten aus Mariupol in Sicherheit.

Mariupol erlebt nach Angaben des Bürgermeisterbüros wegen der anhaltenden Belagerung durch russische Truppen eine humanitäre Katastrophe. Die Toten in der Hafenstadt würden noch nicht einmal begraben, hieß es in einer Stellungnahme vom Freitag. Das Bürgermeisterbüro rief die russischen Truppen zudem auf, die Belagerung zu stoppen. Die Stadt sei von der Versorgung mit Nahrungsmitteln und Medizin abgeschnitten.

Wie der ukrainische Präsident Selenski mitteilte, konnten am Freitag 7144 Zivilisten über humanitäre Korridore aus insgesamt vier Städten fliehen. Die Zahl sei deutlich niedriger als in den beiden Tagen davor.

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Insgesamt wurden seit Beginn des Krieges nach Angaben aus Kiew mindestens 79 Kinder getötet und mehr als 100 verletzt. „Diese Zahlen erheben keinen Anspruch auf Vollständigkeit, da keine Möglichkeit besteht, die Orte des Beschusses zu inspizieren, an denen russische Streitkräfte aktive Feindseligkeiten durchführen“, teilte die ukrainische Generalstaatsanwaltschaft mit.

In Polen haben sich nach Angaben des dortigen Grenzschutzes fast 1,6 Millionen Menschen in Polen in Sicherheit gebracht. Seit Mitternacht seien 17.700 Menschen aus dem Nachbarland eingetroffen, berichtete die Behörde am Samstag im Kurznachrichtendienst Twitter. Damit habe sich die Zahl der Ukrainerinnen und Ukrainer, die vor dem Krieg in ihrer Heimat nach Polen geflüchtet seien, auf etwa 1,59 Millionen Menschen erhöht. Am Vortag sei die Zahl der Einreisenden um 12,5 Prozent gefallen, hieß es.

Russland warnt Nato vor Aufnahme Finnlands und Schwedens

Russland warnte indes vor einer stärkeren Nato-Präsenz im Baltikum. „Der Aufbau von Nato-Truppen und -Infrastruktur direkt an unseren Grenzen sowie Pläne für ihren dauerhaften Einsatz sind offen gesagt eine Provokation und führen zu einer deutlichen Zunahme der Konfrontation im Baltikum“, sagte der Direktor für Europapolitik im russischen Außenministerium, Sergej Beljajew, am Samstag der Agentur Interfax.

Als Vorwand diene eine „weit hergeholte“ russische Drohung. Die baltischen Staaten folgten „gehorsam“ allen Anordnungen der USA und versteckten sich hinter ihrem erfundenen „Frontlinienstatus“, sagte Beljajew. „Wir beobachten dies und ziehen die notwendigen Schlüsse“. Er versicherte: „Zugleich hat unser Land die Allianz nie bedroht und bedroht sie nicht.“ In Litauen sind auch deutsche Soldaten stationiert.

Beljajew warnte zudem erneut vor einer Aufnahme von Schweden und Finnland in die Nato. Dies hätte „ernsthafte militärische und politische Folgen, die uns dazu zwingen würden, die gesamte Bandbreite der Beziehungen zu diesen Staaten zu überdenken und Vergeltungsmaßnahmen zu ergreifen“, sagte der Diplomat. Details nannte er nicht. Beljajew sagte, die Neutralität der beiden Staaten sei ein wichtiger Faktor, um die Sicherheit in Europa zu garantieren.

Joe Biden: „Werden in der Ukraine keinen Krieg mit Russland führen“

Eine direkte militärische Konfrontation in der Ukraine zwischen dem US-Militär und den russischen Streitkräften muss nach Ansicht von Präsident Joe Biden verhindert werden, damit es nicht zu einem „dritten Weltkrieg“ kommt. Das US-Militär und die Nato-Partner werden „jeden Zentimeter“ des Bündnisgebiets geeint und „mit voller Macht“ verteidigen, schrieb Biden am Freitag auf Twitter.

„Aber wir werden in der Ukraine keinen Krieg mit Russland führen. Eine direkte Konfrontation zwischen der Nato und Russland ist der dritte Weltkrieg – und etwas, das zu verhindern, wir uns bemühen müssen“, schrieb der Demokrat. Die Ukraine ist kein Nato-Mitglied.

Bei einem Auftritt vor Parteifreunden im US-Bundesstaat Pennsylvania hatte sich der Demokrat Biden am Freitag auch zu der Debatte um die mögliche Übergabe von Kampfflugzeugen an die Ukraine geäußert. Es dürfe keine Situation geben, in der die USA Flugzeuge oder Panzer mit amerikanischer Besatzung in die Ukraine schickten, sagte Biden. „Das muss man verstehen, da darf man sich nichts vormachen, egal was alle sagen – das heißt dann dritter Weltkrieg“, sagte der Präsident.

Der stellvertretende russische Außenminister, Sergej Rjabkow, warnte später davor, dass Moskau westliche Lieferungen von militärischer Ausrüstung an die Ukraine ins Visier nehmen könnte. „Das Pumpen von Waffen aus einer Reihe von Ländern, die sie (die USA) orchestriert, ist nicht nur ein gefährlicher Schritt, sondern eine Aktion, die diese Konvois zu legitimen Zielen macht“, sagte er.

Weiterhin verurteilte er die US-Sanktionen als einen „beispiellosen Versuch, verschiedenen Sektoren der russischen Wirtschaft einen schweren Schlag zu versetzen“, doch Moskau werde maßvoll handeln, um sich nicht selbst zu schaden. Russland habe nicht die Absicht, angesichts der zunehmenden Spannungen mit dem Westen westliche Medien und Unternehmen zu vertreiben. „Wir werden die Situation nicht eskalieren lassen.“

Das Land sei zur Wiederaufnahme von Gesprächen über Waffenkontrollen mit den USA bereit, wenn die US-Regierung darauf vorbereitet sei, zitiert die russische Nachrichtenagentur RIA den Ryabkow. Russland und die USA stünden in ständigem Kontakt. Doch aus Sicht des Kreml seien keine Zeichen erkennbar, dass die US-Regierung einen Dialog über die Ukraine fortsetzen wolle.

Die russischen Vorschläge zu Sicherheitsgarantien, die den USA und der Nato vor dem Einmarsch Russlands in die Ukraine übermittelt worden waren, seien wegen der völlig veränderten Lage nicht mehr gültig, berichtet die russische Agentur Tass unter Berufung auf das Außenministerium in Moskau.

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