Nordafrikas Schuldennotstand könnte in Europa Flüchtlingskrise auslösen

Istanbul In Nordafrika und im Nahen Osten braut sich eine neue Schuldenkrise zusammen – mit Folgen für Europa. Schon rechnet man in Brüssel damit, dass die Flüchtlingsströme dadurch noch einmal deutlich anschwellen. Außerdem steht der autoritär geführte Ölstaat Saudi-Arabien bereit, seinen Einfluss in der Region südlich der europäischen Außengrenze auszuweiten.

Gleich mehrere Länder geraten in den Abwärtssog. In Tunesien sinkt die Kaufkraft der Menschen dramatisch, die Folgen sind Unzufriedenheit und blanke Not. In Libyen drohen politische Unruhen und wirtschaftliche Verwerfungen, ausgerechnet in jenem Land, über das Millionen Migrantinnen und Migranten nach Europa kommen.

Aktuelle Zahlen des Internationalen Währungsfonds (IWF) bestätigen die akute Schwäche der Schwellenländer. Der IWF rechnet damit, dass sich das Wirtschaftswachstums im Nahen Osten sowie Nordafrika in diesem Jahr halbiert. Die Organisation warnt davor, dass Inflation, hohe Zinssätze und Turbulenzen auf dem globalen Bankenmarkt die Schwellenländer in der Region bedrohen. Für sie werde es immer schwieriger, Zugang zu neuen Krediten zu erhalten.

In Brüssel wächst nun die Sorge. Ausgerechnet in dem Jahr, in dem die EU der „irregulären Migration“ den Kampf angesagt hat und neue Allianzen mit Nordafrika eingehen will, verlieren die dortigen Länder massiv an Stabilität. Während Kommissionspräsidenten Ursula von der Leyen verspricht, „enger mit den Herkunfts- und Transitländern“ von Flüchtlingen zusammenzuarbeiten, entstehen dort neue Unsicherheiten und Armutsrisiken. Mitte Juli noch hatten die tunesische Regierung und die EU-Kommission eine „strategische Partnerschaft“ unterzeichnet, um die Migration aus Afrika nach Europa einzuschränken.

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Viele der betroffenen Staaten sind Transitregionen für Flüchtlinge, die sich auf dem Weg nach Europa befinden. Wenn es diesen Ländern wirtschaftlich schlecht geht, wächst der Migrationsdruck – und die Chance für Schlepper, mit der Sehnsucht der Menschen nach einem besseren Leben viel Geld zu verdienen.

Die Gefahr eines Exodus verschärft sich von Monat zu Monat. Tunesien etwa hat zwei Milliarden US-Dollar Auslandsschulden, die dieses Jahr fällig werden. Das entspricht mehr als vier Prozent des jährlichen Bruttoinlandsprodukts des Landes. Die Ratingagentur Fitch schlägt Alarm: „Der Zahlungsausfall ist eine reale Möglichkeit“, heißt es dort.

Fitch Ratings hat kürzlich die Kreditwürdigkeit Tunesiens auf „CCC-“ herabgestuft, was auf ein hohes Ausfallrisiko seiner Kredite hinweist. Es handelt sich um die vierte derartige Herabstufung durch die Agentur in drei Jahren.

Tunesien fehlt immer noch eine Milliarde Dollar, um seinen Haushalt 2023 auszugleichen. Und dass, obwohl es in jüngster Zeit einige positive Signale gab, etwa eine Energiepartnerschaft mit der Weltbank in Höhe von 268 Millionen US-Dollar und oder der Nach-Corona-Boom im Tourismus.

Armut am Rande der tunesischen Hauptstadt Tunis

Die Inflation in dem Land liegt offiziell bei zehn Prozent, die Preise vieler Produkte sind allerdings deutlich stärker angestiegen. Weizen kostet in dem nordafrikanischen Land inzwischen dreimal mehr als vor einem Jahr. Um Hilfe von außen zu erhalten, verhandelt das Land derzeit mit dem IWF über ein Rettungspaket in Höhe von 1,9 Milliarden US-Dollar.

Dramatische Lage in Syrien, Rekordinflation in Ägypten

Noch dramatischer entwickelt sich die Lage in Syrien. In der Hauptstadt Damaskus fanden in diesem Monat die größten Proteste seit Beginn des Bürgerkriegs vor zwölf Jahren statt. Anlass für die Demonstrationen ist – ähnlich wie im Jahr 2011 – die desolate Lage der syrischen Wirtschaft sowie die schwache Landeswährung. Die Sorge der Menschen wächst, sich und ihre Familien nicht mehr ernähren zu können.

Auch Ägypten kämpft gegen den Abwärtssog. Die Regierung in Kairo hatte Anfang Juli Verträge im Wert von 1,9 Milliarden US-Dollar zum Verkauf staatlicher Unternehmen unterzeichnet, um die Wirtschaftskrise abzumildern. Ägyptens Wirtschaft leidet seit mehr als einem Jahr unter einer hohen Inflation sowie der Abwertung des ägyptischen Pfunds.

Weizenernte in Syrien

Die Getreidepreise sind im Zuge des Ukrainekriegs massiv gestiegen. Die Ernte syrischer Landwirte kann das nicht ausgleichen.

(Foto: dpa)

Im Juni meldete die Regierung eine Rekordinflation von 36,8 Prozent. Die Teuerung hängt teilweise mit den Unterbrechungen der Lieferkette nach der russischen Invasion in der Ukraine im Jahr 2022 zusammen. Ägypten importierte vor dem Krieg den größten Teil seines Getreides aus beiden Ländern.

Die Probleme dieser Schwellenländer haben auch mit den steigenden Zinsen in Industrieländern zu tun. Jahrelang erwirtschafte die Volkswirtschaft Ägyptens ein Zahlungsdefizit. Haushalte, Firmen und der Staat gaben mehr aus, als sie einnahmen.

Geld wird aus Schwellenländern abgezogen

Weil jedoch die weltweiten Zinsen jahrelang so niedrig waren, suchten Investoren selbst in riskanten Schwellenländern wie Ägypten nach Anlagemöglichkeiten, um ihr Geld zu vermehren. So kam regelmäßig genug Geld ins Land, um das Zahlungsdefizit auszugleichen.

Jetzt, wo die westlichen Notenbanken die Zinsen wieder anheben, fließt das Geld wieder in Richtung der etablierten Industrienationen – und wird aus Schwellenländern wie Ägypten abgezogen. Dadurch hat sich das finanzielle Defizit Ägyptens in diesem Jahr im Vergleich zum Vorjahr fast verdoppelt.

Saudi-arabischer Kronprinz Mohammed bin Salman

Füllt der reiche Ölstaat künftig das Vakuum an der Außengrenze zur Europäischen Union?

(Foto: dpa)

In Brüssel wächst nicht nur wegen der drohenden neuen Flüchtlingskrise die Sorge. Dort beobachtet man auch, dass sich Staaten wie Saudi-Arabien aus Machtkalkül den klammen Staaten andienen. Durch großzügige finanzielle Hilfen könnte es ihnen gelingen, ihren Einfluss an der Außengrenze Europas massiv zu stärken, wird nun befürchtet.

Saudi-Arabien etwa kündigte Mitte Juli eine Hilfe von 500 Millionen US-Dollar für Tunesien an. Das ölreiche Land leistet oft finanzielle Unterstützung für bedürftige Länder in der Region, niemals jedoch geschieht dies uneigennützig, wie politische Beobachter konstatieren.

So stellten Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate in diesem Monat sechs Milliarden US-Dollar für Investitionen im Irak bereit. Das Königreich hinterlegte außerdem fünf Milliarden US-Dollar bei der ägyptischen Zentralbank und erließ im vergangenen Jahr eine Anweisung, eine Milliarde US-Dollar in Pakistan zu investieren.

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