Ministerpräsidenten wollen die chemische Industrie retten

Berlin Pünktlich zur Regierungsklausur der Bundesregierung in Meseberg schlagen parteiübergreifend etliche Ministerpräsidenten Alarm: In einer eigens gegründeten „Allianz zum Erhalt der chemischen Industrie in Deutschland“ fordern sieben von ihnen die Regierung auf, den Industriestandort mit geeigneten Maßnahmen im internationalen Wettbewerb zu stärken.

„Eine Abwanderung energieintensiver Industrien (darunter Chemie, Pharma, Glas, Metall, Papier) würde zu einem erheblichen Schaden für die deutsche Volkswirtschaft führen“, warnen in einem gemeinsamen Beschluss die Ministerpräsidenten Bayerns, Hessens, Niedersachsens, Nordrhein-Westfalens, Rheinland-Pfalz, Sachsens und Sachsen-Anhalts. Das siebenseitige Dokument liegt dem Handelsblatt vor.

In dem Beschluss fordern die Ministerpräsidenten sieben Maßnahmen, damit die Industrie, die allein „rund 2,4 Millionen hochwertige Arbeitsplätze“ schaffe, dem Standort verbunden bleibt. Grundstoffe und andere chemische Produkte seien essenziell „für zusammenhängende industrielle Netzwerke in Deutschland und Europa“. Eine steigende Importabhängigkeit habe zahlreiche Risiken und könne sogar die Nahrungsmittelversorgung bedrohen, mahnen die Landeschefs.

Wie es in Länderkreisen hieß, ging die Initiative von Nordrhein-Westfalens Ministerpräsident Hendrik Wüst (CDU) aus. Auf Nachfrage sagte er dem Handelsblatt: „Um die Wettbewerbsfähigkeit langfristig zu erhalten, braucht es jetzt eine gemeinsame, überparteiliche Kraftanstrengung.“ Es sei zwingend, die Rahmenbedingungen für den Chemiestandort Deutschland und Europa „rasch“ zu verbessern.

Die Hauptforderung der Ministerpräsidenten lautet, „einen international wettbewerbsfähigen Strompreis zu gewährleisten“. Dieser müsse auch dem energieintensiven Mittelstand und den Betreibern von Chemieparks offenstehen.

Dazu sollte die Stromsteuer auf das europäische Mindestmaß sinken und der Spitzenausgleich bei der Stromsteuer ab 2024 entfallen. Zudem müsse die Bundesregierung Umlagen und Entgelte begrenzen. Wie von Niedersachsens Ministerpräsident Stephan Weil ins Spiel gebracht, fordern nun alle Chemieländer einen „zeitlich befristeten Brückenstrompreis“.

Konflikt zwischen Weil und Lindner wegen Industriestrompreis

Anfang der Woche hatte der SPD-Politiker Weil seine Forderung nach einem subventionierten Strompreis für die Industrie trotz der ablehnenden Haltung von Parteifreund und Kanzler Olaf Scholz im Interview mit dem Handelsblatt verteidigt: „In Deutschland werden auch wegen der hohen Strompreise Investitionen zurückgefahren, dafür investieren die Unternehmen verstärkt im Ausland. Das ist ein Alarmsignal“, hatte er erklärt. „Wenn wir eine Erosion unserer Industrie in Deutschland verhindern wollen, müssen wir sehr zügig Gegenmaßnahmen treffen.“

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Weil forderte Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) auf, seinen „ordnungspolitischen Kreuzzug zu beenden“, schließlich habe er auch keine Bedenken gegen Subventionen für die Halbleiterindustrie.

Stephan Weil

Der niedersächsische Ministerpräsident hatte sich bereits in der Vergangenheit für einen Industriestrompreis ausgesprochen.

(Foto: dpa)

Lindner wehrte sich gegen die Kritik. Nach Informationen des Handelsblatts reagierte er mit einer E-Mail an Weil. Er „erlaube sich den Hinweis“, dass er „ebenfalls ordnungspolitische Bedenken“ bei den Subventionen für Halbleiterkonzerne habe, er „diese aber auf Wunsch des sozialdemokratischen Bundeskanzlers zurückgestellt habe“.

„In Sachen Industriestrompreis teilt der Bundeskanzler allerdings meine Bedenken. Beispielsweise sehe ich eine Wettbewerbszerrung gegenüber Handwerk und Mittelstand“, heißt es in der E-Mail weiter.

Außerdem wolle er Weil „hilfsweise“ darauf hinweisen, „dass ich keine verfassungsrechtlich und EU-beihilferechtlich zulässige Finanzierung eines Industriestrompreises kenne“.

Chemie-Länder wollen Kohlendioxid speichern und wieder nutzen

Die Länderchefs aber beharren auf ihrer Forderung. Zuvor hatte Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) im Handelsblatt sogar eine Kommission gefordert, die die gesamte Energiewende neu verhandeln solle. „Die Strompreise müssen so weit runter, dass wir als Standort wieder wettbewerbsfähig sind“, hatte er gesagt und hinzugefügt: „Aus dieser Prämisse ergibt sich dann vieles andere. Es muss alles auf den Tisch, um Energiepolitik wirtschaftlich, ökologisch und sozial zu gestalten.“ Dazu gehöre auch Atomkraft, Kohle, Gas und Energie aus Russland.

Die Ministerpräsidenten sorgen sich um die Energieversorgung. Sie plädieren dafür, erneuerbare Energien ebenso beschleunigt auszubauen wie die Stromnetze. Der Wandel hin zur klimaneutralen Wirtschaft müsse so gestaltet werden, „dass jederzeit eine sichere, verlässliche und bezahlbare Energieversorgung gewährleistet bleibt“. Sie mahnen zum wiederholten Male an, dass der Bund den seit mehr als einem Jahr angekündigten „Pakt für Planungs-, Genehmigungs-, und Umsetzungsbeschleunigung“ beschließt.

BASF-Werksgelände

Die Ministerpräsidenten der Chemie-Länder sorgen sich um den Standort Deutschland.

(Foto: dpa)

Zu den Vorschlägen gehört auch, Unternehmen zu entlasten, die selbst erneuerbaren Strom erzeugen und in Produktionsanlagen verbrauchen. „Die Chemieländer sehen in der Eigenstromversorgung von Unternehmen ein großes Potenzial zur zukünftigen Versorgung mit regenerativer Energie“, heißt es in dem Papier.

Überdies weisen die Ministerpräsidenten darauf hin, dass in der Produktion weiterhin Kohlendioxid entstehen wird. Um die Klimaziele zu erreichen, sei daher auch die Möglichkeit wichtig, CO2 abzuscheiden, zu speichern und wieder zu nutzen. Der Bund solle das Kohlendioxid-Speicherungsgesetz „zeitnah“ novellieren, um den Bau von CO2-Infrastrukturen zu erleichtern und die Anwendung entsprechender Techniken zu ermöglichen.

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Um den Standort zu sichern, bedarf es aus Sicht der Chemieländer einer Fachkräfteoffensive, aber auch einer weiteren Strategie, um die Versorgung mit Rohstoffen zu sichern. Dazu werben die Länderchefs dafür, weiter Rohstoffallianzen mit Drittstaaten auszubauen, aber auch auf chemisches Recycling zu setzen.

Ministerpräsidenten beklagen bürokratische Hürden für die Industrie

Ein großes Problem sehen die Länderchefs in der Bürokratie, vor allem mit Blick auf das EU-Chemikalienrecht. Die „sehr hohe Regulierungsdichte“ benachteilige die europäische Industrie „im internationalen Wettbewerb mit negativem Einfluss auf zukünftige Standort- und Investitionsentscheidungen“.

Die nächste Konferenz der Ministerpräsidenten wird in Brüssel stattfinden. Nach Informationen aus Länderkreisen wird an dem Treffen auch EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen teilnehmen. Ihr solle das Dokument übergeben werden.

Michael Vassiliadis, Vorsitzender der Chemie-Gewerkschaft IGBCE, begrüßt die Initiative. Kaum eine Industrie sei so abhängig von politisch gesetzten Standortbedingungen. „Deshalb ist es nur folgerichtig, dass die Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten sich und andere in die Pflicht nehmen“, sagte er. „Wir müssen alle Hebel in Bewegung setzen, damit die Branche jetzt in die Transformation der heimischen Standorte investiert – und nicht ins Ausland abwandert.“

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