„Man bekommt noch mal Demut vor der Arbeit“

Ein Nachmittag an einem der schönsten Orte Schwabings: In einem eindrucksvollen, repräsentativen Altbau sitzt der Verlag, den Reinhard Piper 1904 in München gründete – und der heute zur schwedischen Bonnier-Gruppe gehört. Elisabeth Sandmann, selbst Verlagsgründerin, wartet bereits. Sie hat für Piper ihr Romandebüt als Belletristik-Autorin geschrieben – und gibt ihr erstes Interview in der neuen Rolle.

Frau Sandmann, Sie sind seit fast 20 Jahren Verlegerin. Nun legen Sie auf mehr als 500 Seiten Ihren ersten Roman vor. Ist das eine Art Reifeprüfung gewesen?
Man muss Zutrauen zu sich haben, einen Roman zu schreiben. Und großen Respekt, wenn man es ernst meint und authentisch sein will. Die Aussagen müssen zu einem selbst passen. Früher hätte ich das nicht schreiben können.

Sie haben mehr als 150 Sachbücher verlegt. Plötzlich Romanautorin zu sein, das ist ein abrupter Rollentausch.
Sicher, das ist ein interessanter Wechsel. Man bekommt auf diese Weise noch einmal Demut vor der Arbeit – wohltuend für jemand, der verlegerisch arbeitet. Schreiben ist verbunden mit Nervosität, mit der selbst gestellten Frage: „Ist das wirklich gut?“ Diese Zweifel haben viele Autorinnen und Autoren. Das verstehe ich jetzt besser.

Gab es auch Momente des Verzweifelns?
Nein, aber einmal habe ich einige Seiten zerrissen. Es gefiel mir nicht mehr. Ich hatte eine Mitleserin, die ich öfter nach ihrer Meinung fragte. Wenn sie nur mit „Hmmm“ antwortete, wusste ich: An dieser Stelle musst du noch etwas tun.

Andere Verleger, wie früher Michael Krüger oder heute Jo Lendle bei Hanser, haben ebenfalls nebenbei selbst Belletristik geschrieben. Hatten Sie das im Blick?
Nein. Ich habe das Buch für mich begonnen und anfangs nicht gewusst, ob ich es überhaupt veröffentlichen will. Bei Seite 130 dachte ich: „Ach, vielleicht wird es doch etwas.“ Verlegerinnen und Verleger bringen im Beruf ohnehin viel zu Papier, egal ob für ein Editorial oder eine Buchvorschau. Irgendwelche Texte schreiben wir doch immer.

Bücher

Eigentlich veröffentlicht Sandmann in ihrem eigenen Verlag Bücher und Bildbände zu starken Frauen, Kunst, Geschichte, Gesellschaft und Natur.

(Foto: dpa)

Der legendäre Suhrkamp-Verleger Siegfried Unseld …
… den ich in meiner Lehrzeit bei Suhrkamp gut kennengelernt habe …

… zitierte gerne Montaigne, wenn er sein Verhältnis zu schwierigen Autoren beschrieb: „Wenn ich mit meiner Katze spiele, wer sagt mir dann, ob sich die Katze ihre Zeit mit mir vertreibt oder ich mir ihr.“
Ich war keine komplizierte Autorin. Und das wird auch so bleiben.

2015 hatten Sie als Autorin Erfolg mit dem Sachbuch „Der gestohlene Klimt“. Sie beschreiben den juristischen Kampf einer Nachkommin der jüdischen Familie Bloch-Bauer gegen die Republik Österreich. Der Staat wollte von den Nazis geraubte Bilder nicht zurückgeben. Der Stoff wurde durch „Die Frau in Gold“ mit Helen Mirren zum Hollywood-Erfolg.
Ich habe mich für das Buch durch die angelsächsischen Schriftsätze gequält. Das war die Hauptherausforderung. Ich verstand nicht, warum es immer wieder eine neue juristische Instanz gab. Niemand hatte vorher genau beschrieben, was da warum und wie abgelaufen ist. Aber vor allem hat mich natürlich interessiert, wie eine über 80-jährige Frau einen solchen Kampf aufnehmen konnte und wollte. Die Frau in Gold war ja zudem ihre Tante Adele.

So gesehen hatten Sie es jetzt als Schriftstellerin einfacher: Sie können alles erfinden.
So gesehen ja. Beim Sachbuch muss man sich streng an die Fakten halten. Die Figuren im Roman können agieren, wie man möchte. Das habe ich genossen. Ich habe allerdings versucht, die Realität genau einzufangen: Eine beschriebene Oper zu Silvester 1929 wurde tatsächlich an diesem Tag in Frankfurt gegeben. Eine Straßenbahnfahrkarte vom Berliner Bahnhof nach Charlottenburg hat in den 1920er-Jahren genauso viel gekostet wie beschrieben. Viel habe ich darüber in alten Baedeker-Ausgaben gefunden.

„Der gestohlene Klimt“ erschien in Ihrem Verlag, der Roman nun nicht. Sind Sie froh, nicht mehr Ihre eigene Verlegerin zu sein?
Belletristik im eigenen Verlag ist seltsam, und aus gutem Grund wird das eigene Buch besser in einem anderen Haus verlegt. Bei einem Sachbuch ist das etwas anders.

Elisabeth Sandmann: Porträt auf grüner Wandfarbe
Piper Verlag
München 2023
512 Seiten
24 Euro

Wie findet eine schreibende Verlegerin eine andere Verlegerin?
Meine Agentin hat für mich nach dem passenden Verlag gesucht. Ich achte sehr darauf, ob etwas zu mir passt. Und habe schnell gedacht, Piper wäre schön. Der Verlegerin Felicitas von Lovenberg hat dann das Manuskript – oder das, was bis dahin vorlag – sehr gut gefallen. Die Schwingungen bei unserem Gespräch waren sehr positiv. Somit war klar, es kommt kein anderer Verlag in die engere Wahl. Ich kenne das von meiner Arbeit als Verlegerin: Man kann sich natürlich umhören, welche Möglichkeiten es sonst noch so gibt. Es hat jedoch etwas sehr Kraftvolles, wenn man es nicht immer tut – und sich einfach entscheidet.

2013 erklärten Sie: Einen Roman zu schreiben sei nichts für Sie. Warum der Sinneswandel?
Daran erinnere ich mich gar nicht mehr, aber in den letzten 20 Jahren habe ich mich sehr mit Biografien von Frauen beschäftigt. Das macht das Programm meines Verlags aus. Es kam irgendwann dieser Moment, in dem ich mir vorstellte, eine Figur selbst auszustatten mit Eigenschaften, die es ihr ermöglichen, selbstbestimmt einen Weg in die Welt zu finden. Dafür habe ich viel lesen und erfahren müssen über Chancen und Begrenzungen von Frauen in der Vergangenheit.

Es gab keinen konkreten Anlass?
Ich hätte das Schreiben eines Romans immer weit von mir gewiesen. Aber dann dachte ich im Februar 2020, kurz vor der Pandemie, während einer Reise ans Meer darüber nach, wie Frauen wohl vor rund 100 Jahren gereist sind. Das war eine Sache von Privilegierten. Man brauchte die entsprechende Kleidung, gutes Schuhwerk. Das konnte sich nicht jede leisten. Da kam mir die Idee zu einer Figur namens Ella Blau, der ich mich ganz anvertraut habe. Sie kommt gesellschaftlich von unten, schafft aber den Sprung in ein anderes Leben. So entstand der Roman.

Ihr eigener Anspruch lautet, nach der Lektüre eines Buchs etwas gelernt zu haben, ohne es zu merken. Was lernt man aus Ihrem Roman über Frauenschicksale zwischen 1912 und 1992?
Er führt hinein in eine Zeit großer Veränderungen, von denen die Figuren bis in die Gegenwart hinein betroffen sind. Die 1920er-Jahre zum Beispiel waren für viele Menschen und natürlich besonders auch für die Frauen sehr viel schwieriger, als wir uns das immer vorstellen. Wirtschaftskrise, Arbeitslosigkeit, Wohnungssuche, Armut. Eine kleine, wohlhabende Schicht fährt Auto, reist und hat Zugang zu Kultur. Die Figur Ilsabé gehört dazu. Sie nimmt sich, was sie will. Wichtig war mir zudem zu schildern, wie sich für die jüdische Bevölkerung nach 1933 das Leben veränderte. Und wie schwierig es für sie nach 1945 war, nach ihrem Eigentum überhaupt zu suchen. Es gibt in dem Buch drei sehr starke Frauen mit ihrem Drang nach Selbstständigkeit, Erfüllung, Liebe und Wahrhaftigkeit in teilweise politisch instabilen Zeiten. Und es geht darum, wie man mit Versäumnissen und Schuld umgeht.

Der Roman spielt in München, Bad Tölz, Schloss Elmau, London, Oxford, Berlin oder Pommern. Es ist, wenn man so will, eine Reise zu Schauplätzen der höheren Gesellschaft.
In Bad Tölz, München, Berlin und Frankfurt geht es recht bodenständig zu. Das sind bewusste Kontraste zu Schloss Elmau und einem Gutshof in Pommern. Und ja, Oxford ist natürlich auch ein Ort der Privilegien. Die Familie meines Mannes ist aus Pommern vertrieben worden, wir sind mehrfach dorthin, also in das heutige Polen, gefahren. Alle diese Orte kenne ich persönlich sehr gut und habe dort mit Ausnahme von Pommern gelebt. Deshalb konnte ich sie in die Geschichten meiner Figuren leicht einbauen.

Sie haben vor sieben Jahren die Mehrheit der Verlagsanteile an Suhrkamp verkauft. Hat sich der Deal bewährt?
Suhrkamp ist ein guter Partner. Wir haben damit einen guten Vertrieb und gute Pressearbeit. Mit dem Suhrkamp-Verleger Jonathan Landgrebe bin ich in engem Austausch. Für unsere Autorinnen und Autoren war die Kooperation ein wichtiges Signal. Solch einen kleinen Verlag zu halten ist nicht einfach.

Wie gefährdet ist die eigene Selbstständigkeit?
Man weiß nie, was passiert. Wir haben gute Voraussetzungen dafür, weiter dabei zu sein. Wenn nicht wir, wer dann? Als große Optimistin will ich noch viele Projekte verwirklichen.

Die Verlage setzten 2022 in Deutschland drei Prozent weniger Bücher ab. Sachbücher, Ihre Domäne, haben es immer schwerer.
Den Druck muss niemand in mir auslösen, den habe ich in mir drin. Wir haben mit acht bis maximal zehn Büchern im Jahr ein sehr kleines Programm. Nachhaltiger, hochwertiger, konzentrierter kann man gar nicht agieren. Fragen müssen sich jene Verlage stellen, die sehr viel produzieren und nicht genau wissen, in welche Märkte hinein sie ihre Bücher verkaufen. Wir wissen genau, was wir machen.

Was meinen Sie damit konkret?
Der Verlag ist in den letzten Jahren politischer geworden. So haben wir drei Monate nach dem Fall von Kabul ein herausragendes Buch über afghanische Frauen herausgebracht, mit einem Vorwort der Schriftstellerin Margaret Atwood. In diesem Jahr verlegten wir ein viel beachtetes Buch über iranische Frauen, herausgegeben von Natalie Amiri und Düzen Tekkal. Und im Herbst werden wir ein Buch mit ukrainischen Frauen und Fotografinnen veröffentlichen, 40 Briefen an die freie Welt. Diese sehr überlegten Projekte können eine große Zielgruppe finden. Wir leben in einer politischeren Welt. Davor können wir uns nicht verschließen. All diese Konflikte – ob Afghanistan, Iran oder Ukraine – haben immer besonders schwere Auswirkungen auf Frauen. Sie müssen eine Stimme bekommen – und wir müssen diese Stimmen hören. Viele der Texte kriechen einem unter die Haut.

2018 erklärten Sie, Bücher hätten zum Teil ihre moralische Kraft verloren. Das „kritische Lesen“ gehe zurück.
Das ist so richtig wie falsch, aber in der Breite stimmt es. Es ist wichtig, dass es diese Nischen für gesellschaftlich wichtige Bücher gibt und sie von den Medien sichtbar gemacht werden. Grillbücher für Männer erreichen ganz andere Auflagen. Das soll jetzt nicht despektierlich klingen. Und was die moralische Kraft angeht: Früher gab es bei jedem Geburtstag, zu Weihnachten oder zur Kommunion für die Kinder ein Buch. Das hat nachgelassen.

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Eine große Herausforderung sind zudem die gestiegenen Papierpreise bei gleichzeitigem Rückgang im stationären Einzelhandel, bedingt auch durch den Online-Buchhandel. Nun fehlt es aktuell vielen an der Kaufkraft – und die Menschen haben so viele Möglichkeiten, ihre Zeit auch ohne Lesen zu verbringen. Wir haben in den letzten Jahren sehr viele Leserinnen und Leser verloren, aber die gute Nachricht ist: Die Jungen entdecken auch über Tiktok Buchthemen und Bücher.

Wollen Sie in Zukunft eher als Verlegerin oder als Autorin wirken?
Ich bin Verlegerin, möchte aber auch gern weiterschreiben – zunächst vielleicht ein weiteres Sachbuch. Natürlich ist eine Fortsetzung meines Romans möglich. Es sind sehr viele Fäden ausgelegt worden. Wer weiß?

Klingt nach einem strapaziösen Programm.
Ich schreibe abends oder am Wochenende. Und ich kann zwei Stunden früher aufstehen, wenn ich will. Das Wichtigste ist, dranzubleiben und Freude zu haben. Strapaziös soll es nicht werden.
Vielen Dank für das Interview.

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